Kalle – Von Manfred Schröder. Die Ferien beginnen. Kalle ist sitzen geblieben und hat Angst nach Hause zu gehen. Da trifft er auf ein Mädchen dessen Luftballon hoch oben in den Ästen eines Baumes hängt.
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Die Schulglocke war kaum verstummt, als schon die ersten Jungs schreiend und grölend aus dem Schulgebäude stürmten. Denn ein jeder wollte so schnell wie möglich nach Hause. Ferien! Sommerferien! Zehn lange Wochen kein Klassenzimmer und keine Lehrer.* Und so mancher musste aufpassen, dass er nicht unter den Füßen seiner Kameraden geriet. Denn jetzt nahm keiner mehr Rücksicht auf den anderen. Sie stürmten voran wie eine Herde durstiger Büffel, die Wasser gewittert hatten. Natürlich fiel immer wieder jemand hin. Doch wie ein Wunder war außer einigen Hautabschürfungen nichts Schlimmeres passiert. Einige Lehrer sahen mit Unbehagen von den Fenstern diesem unübersichtlichen Treiben zu und wandten sich schließlich erleichtert ab. Auch dieses Jahr war alles wieder gut gegangen. Bald war der große Schulhof leer. Auch die Lehrer verließen einer nach dem anderen das Gebäude und man sah ihnen an, dass auch sie glücklich waren.
Nur Kalle stand noch am Schulhoftor und wusste nicht, was er machen sollte. Er hatte Angst nach Hause zu gehen. Er war sitzen geblieben und musste die sechste Klasse wiederholen. Nein, er wollte jetzt nicht seinen Eltern vor die Augen treten. Besonders seinem Vater nicht, für den bloß Leistung zählte. Ja, er war ein Versager. Wenn er wenigstens ein guter Sportler wäre. Einige aus seiner Klasse waren nicht viel besser als er. Doch sie glänzten durch körperliche Leistungen.
Er zuckte zusammen, als ihn jemand auf die Schulter klopfte. Es war der Hausmeister Lehtonen. Ein freundlicher Mann, mit einem großen Schnurrbart. "Na, Kalle. Was stehst du hier noch herum und machst solch ein trauriges Gesicht? Freust du dich denn gar nicht auf die Ferien?"
Kalle fühlte, wie Tränen in ihm aufstiegen. Doch er unterdrückte sie und wollte niemandem seinen Kummer zeigen. Er blickte nur kurz auf und sagte: "Doch, doch."
Dann nahm er seine Tasche und verließ den Schulhof. Hausmeister Lehtonen blickte ihm sinnend nach. "Kopf hoch!", rief er. "Alles wird gut gehen."
Kalle drehte sich nicht um und erwiderte nichts. Gesenkten Hauptes ging er die Straße entlang. Sein Kopf war wie leer und er konnte keinen richtigen Gedanken fassen. Sein Magen schmerzte und seine Arme und Beine waren wie mit Blei gefüllt. Immer wenn er Angst hatte und nicht weiter wusste, stellte sich dieser Zustand ein.
Er stieß gegen eine dicke Frau, die ihm mit zwei vollen Einkaufstüten entgegen kam.
"Hast du keine Augen im Kopf?" Sie blickte ihn böse an.
Kalle murmelte eine kaum hörbare Entschuldigung und ging schnell weiter. Er wandte sich dem Stadtpark zu. Der hohe Kirchturmuhr hinter den Bäumen zeigte kurz vor zwölf. Es war warm und die meisten Bänke waren besetzt. Einen Augenblick stand er unschlüssig da und blickte verzagt um sich. Er wollte den Park schon wieder verlassen, als er das kleine Mädchen sah. Es stand auf der Parkwiese vor einem hohen Birkenbaum und er bemerkte, dass es weinte. Niemand schien sonst darauf zu achten.
"Da ist noch jemand, der traurig ist", dachte Kalle. Einen Moment blieb er noch, auf das Mädchen schauend, stehen. Dann, er wusste es selber nicht warum, ging er auf es zu. Es schien ihn nicht zu bemerken, als er neben ihm stand. Kalle schluckte ein paarmal und hustete, um auf sich aufmerksam zu machen.
"Warum weinst du?", fragte er.
Sie hob ihren Kopf und die Tränen liefen noch immer ihren pausbäckigen Wangen herunter. Sie schaute ihn mit verzweifelten Augen an und zeigte den Baum hinauf. "Mein Luftballon."
Kalle trat ein wenig zurück und blickte nach oben. Dann sah er ihn. In den obersten Zweigen hatte er sich verfangen und wehte im leichten Wind hin und her. Es war ihm, als ob der Baum bis in den Himmel reichte. Er blickte auf das weinende Mädchen und ihm war klar, dass es sich nichts sehnlicher wünschte, als den Ballon zurückzubekommen. Er blickte wieder zu der Spitze des Baumes hinauf. Dann fasste er den Entschluss: Ich werde den Baum hinaufklettern und ihn herunterholen!
Kaum war der Gedanke in seinem Kopf, überfiel ihn Panik. Er war erschrocken über sein eigenes Vorhaben.
"Das schaffe ich doch nicht. Ich, Kalle, den die anderen einen Angsthasen nennen."
Das Mädchen blickte ihn mit bittenden Augen an. Er atmete tief und versuchte seiner Angst Herr zu werden. Dann nickte er und lächelte. "Warte, ich hole ihn dir."
Dankbar erwiderte das Mädchen sein Lächeln.
Doch so einfach war es nicht. Der unterste Ast war viel zu hoch. Von der Erde aus konnte er ihn nicht erreichen. Er blickte um sich, in der Hoffnung irgendeinen Gegenstand auszumachen, auf den er sich stellen konnte. Doch er konnte nichts entdecken. Dann bemerkte er den Kiosk. Vor der Hinterwand waren ein paar leere Kisten aufgestapelt.
"Ick komme gleich zurück."
Er wusste gar nicht ihren Namen.
"Wie heißt du?"
"Ilona", antwortete sie schüchtern.
Kalle lächelte. "Das ist ein schöner Name. Ich heiße Kalle. Pass auf meine Tasche auf. Ich glaube dort am Kiosk finde ich etwas, worauf ich mich stellen kann. Denn der Ast ist zu hoch für mich."
Das Mädchen nickte. Als er beim Kiosk angekommen war, schaute er sich vorsichtig um und nahm dann eine der Kisten. Er atmete erleichtert auf. Sie war hoch genug. Er traute sich nicht zu fragen, ob er eine nehmen dürfte, denn er befürchtete, dass die Frau im Kiosk, es ihm abschlagen würde. Wie ein Dieb kam er sich vor, als er pochenden Herzens zum Mädchen zurückging. Ilona sah ihn erwartungsvoll an. Es war nicht schwer zu erraten, was in ihm vorging. Noch einmal holte er tief Luft und stellte dann die Kiste an den Baum. Als er oben stand, packte ihn wieder die Angst und er fühlte sich unfähig seine Arme zu bewegen.
"Noch kann ich herunterspringen und einfach davonlaufen", dachte er. "Ausser dem Mädchen, das ich gar nicht kenne, weiß ja niemand von der Sache."
Doch eine Stimme in ihm sagte: "Laufe nicht wieder davon. Versuche es wenigstens."
Sein Atem ging schwer und seine Stirn war feucht. Noch eine Sekunde zögerte er. Dann umfasste er den dicken Ast, schwang sein rechtes Bein über ihn und zog sich hoch. Es war nicht einfach, das Gleichgewicht zu halten und er wäre fast wieder nach unten gerutscht. Doch er konnte noch schnell einen anderen Ast ergreifen und zog sich weiter nach oben. Schwer atmend, aber glücklich hatte er die erste Hürde genommen. So hangelte er sich, ohne nach unten zu schauen, die ersten Meter nach oben. Bald wurden die Äste immer schwächer, so dass es schwer war, einen geeigneten zu finden, der ihn tragen konnte. Auch der Hauptstamm wurde immer dünner. Doch ihm war klar, dass er nicht mehr zurück konnte. Um alles in der Welt nicht. Noch fand er Äste, die stark genug waren. Er war schon so weit nach oben gekommen, dass er durch das Dickicht der Blätter den Luftballon sah. Doch es schien ihm, als sei er noch in weiter Ferne.
Er hörte Stimmen von unten. Man war auf ihn aufmerksam geworden. Jemand sagte: "Schau mal, was der Junge da oben macht."
Und ein anderer rief: "Komm sofort herunter!"
Doch Kalle kümmerte sich nicht darum. Er musste zu den oberen Ästen gelangen, wo sich der Luftballon befand. So kletterte er weiter nach oben und vertraute darauf, dass ihn die immer dünner werdenden Äste halten würden. Sein Blick wanderte nach oben und er sah den Luftballon zum Greifen nahe. Kalle hielt inne. Nach unten wagte er nicht zu blicken. Für einen Moment schloss er seine Augen.
"Nur noch ein Ast", hämmerte es in seinem Kopf, "dann brauche ich nur noch meine Hand auszustrecken."
Er öffnete seine Augen und ließ den rechten Fuß vorsichtig über den Ast gleiten. Mit der linken Hand hielt er sich an oberen Zweigen fest und beugte sich langsam nach vorne. Er gab sich einen kleinen Ruck und die Finger konnten die Schnur des Ballons fassen. Ein nie gekanntes Glücksgefühl bemächtigte sich seiner und sein Herz klopfte wild.
Von unten hörte er, wie jemand rief: "Er hat ihn!"
Kalle atmete tief durch und nahm seinen Fuß, die Schnur fest in der Hand haltend, von dem sich gefährlich nach unten neigendem Ast. In diesem Augenblick rutschte sein Fuß zur Seite. Er riss die rechte Hand nach oben, um sich irgendwo an Zweigen festzuhalten. Doch er fasste ins Leere. Mit einem Schrei stürzte er, auf mehreren Ästen aufschlagend, in die Tiefe. Er fühlte nur noch kurz einen Schmerz. Dann umfing ihn eine tiefe Dunkelheit.
Als die Schule wieder begann, fehlte ein Junge und würde nie mehr zurückkommen.