Urho – Von Manfred Schröder. Der alte Urho lebt alleine in einer einsamen Waldhütte. Nur Eric, der Sohn des Bauern, besucht in manchmal.
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Keiner wusste, wie alt Urho war. Solange man zurückdenken konnte, lebte er in der kleinen Hütte am Rande des Waldes, wo die Felder der Bauern lagen. Einmal in der Woche befestigte er den kleinen Wagen hinten an seinem altem Fahrrad und fuhr hinab ins Dorf, um Lebensmittel für die ganze Woche einzukaufen. Anscheinend gab es niemand, der sich um ihn kümmerte. Nur der Eric, der Sohn des Bauern, dem auch die Hüte gehörte, ging des Öfteren hinauf zu ihm, um Gesellschaft zu leisten. Er wusste, dass Urho einsam war. Eric hatte meist eine Flasche Koskenkorva* dabei, die er aus dem großen Vorrat seines Vaters nahm. Der Schnaps tat Urho gut und er wurde gesprächiger. Urho hatte nicht immer genug Geld, um sich eine Flasche zu kaufen. Seine Rente lag an der untersten Grenze. Erics Vater wusste von dem Schnaps, sagte aber nichts. Das Holz für den langen Winter, säuberlich aufgestapelt an der Rückwand der Hütte, hatte Eric gespalten. Urhos Kräfte hatten in letzter Zeit nachgelassen und sein Husten war schlimmer geworden. Er konnte das Rauchen nicht mehr lassen. Früher hatte er als Knecht für Erics Vater gearbeitet. Das lag schon lange zurück. Doch er durfte weiter in der Hütte wohnen, ohne dass er dafür etwas bezahlen musste.
Urho war sehr geschickt im Schnitzen, trotz des Rheumas, as in seinen Fingern schmerzte. Kleine, einfache Figürchen aus Holz, meist Tiere des Waldes, Bär, Wolf und Rentier, bevölkerten das kleine Regal, in dem auch einige Bücher standen. Auch in Erics Zimmer gab es viele Figuren.
Einmal gab ihm sein Vater ein paar Euro für Urho mit. "Er braucht sie nicht umsonst für uns zu schnitzen."
Als Eric Urho das Geld gab, sagte er nur, dass es von seinem Vater war, ohne die Figuren zu erwähnen. Er wollte Urho nicht beleidigen, weil es doch Geschenke waren.
*
Der Herbst hatte begonnen. Urho liebte diese Jahreszeit mit all den Farben. In diesem Jahr sprach er zum ersten Mal vom Tod, als er mit Eric auf der klobigen Holzbank vor der Hütte sass. "Diesen Winter werde ich nicht mehr überleben."
Er kramte aus seiner alten Joppe einen zerknüllten Zettel. "Ich habe hier aufgeschrieben, dass ich im Walde nahe der Hütte, begraben werden möchte. Gib den Zettel dem Pfarrer."
Und nach einer kleinen Pause, wobei er Eric forschend ansah. "Wirst du mein Grab pflegen?"
Eric dachte noch nicht an den Tod und wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Doch er nickte.
Saß man auf der Holzbank, sah man die ordentlichen Felder und dahinter den großen See, auf dem man ab und zu ein Fischerboot erblicken konnte. Es war noch nicht lange her, als Urho selbst des Abends die Netze ausgeworfen hatte und am nächsten Morgen in der Frühe mit Tagesrationen Fisch zurückgekehrt war. Wenn der Winter sehr kalt war, konnte man über den See zugefrorenen bis zur nächst größeren Stadt gehen.
Es kam öfter vor, dass Urho übergangslos das Thema wechselte und anfing vom Krieg zu sprechen. Vom Winterkrieg. Es war stets die gleiche Geschichte. Vielleicht war es das einzige Kriegserlebnis, das in seiner Erinnerung geblieben war. Eric kannte sie auswendig. Doch er hörte jedes Mal aufmerksam zu. Sie musste für Urho wichtig sein. Urho gebrauchte nie das Wort Ryssä - dieses Wort gebrauchen hier Menschen, die Russen nicht leiden mögen -, sondern sprach von Vladimir, den er im Nahkampf in den Bauch geschossen hatte und der in seinen Armen gestorben war.
"Und ich habe ihm versprochen nach Olga zu suchen, um ihr zu sagen, dass er sie liebt. Doch weißt du, wie viele Olgas es in Russland gibt? Und Russland ist so groß." So endete Urhos Geschichte immer.
Eric schwieg und stellte sich vor, wie schwer es sein müsse, Vladimirs Olga im so großen Russland zu finden.
*
Als Ende November der erste dichte Schnee fiel, fand Eric Urho tot in seinem Bett. Die rechte Hand, die herunterhing, hielt noch die Zeitung und die billige Nickelbrille war seitlich an seinem Gesicht heruntergerutscht. Vielleicht war Urho schon seit ein paar Tagen tot. Im Kachelofen brannte kein Feuer mehr und in der Hütte war es eisig kalt. Eric betrachtete das eingefallene und unrasierte Gesicht mit der großen, starken Nase und lief nach Hause.
"Urho ist tot", sagte er zu seinem Vater, der im Stall arbeitete. Dann ging er auf sein Zimmer und weinte.
* Koskenkorva ist der Lieblingsschnaps der Finnen.
Wer hat nicht schon mal daran gedacht, spontan zu kündigen und alles hinter sich zu lassen? Aber wer macht das schon?
Kalle macht es.
Kalle Brennicke ist Busfahrer in der Großstadt. Wie viele andere hat er schon als kleiner Junge davon geträumt. Gegen den Willen seines Vaters hat er diesen Traum wahr gemacht. Bis zu jenem Tag, als ein Fahrgast etwas verliert, das für andere nur Müll ist. Kalle aber kann von diesem Moment an nicht mehr weiterfahren. Bei ihm löst es eine Erinnerung aus - und eine Hoffnung. Er denkt an einen Tag, als er mit Susanna auf einer Wiese saß. An das verlorene Gefühl von damals, als er jung und alles möglich war.
Und weiß in diesem Moment, dass sein alter Traum zu Ende ist. Sein Chef und Anneliese vermuten ein Burnout, aber Kalle sieht das anders. Genau genommen hat er sogar drei gute Gründe, um alles hinzuschmeißen und sich auf den Weg und eine Suche zu machen, nicht nur nach dem Anfang eines neuen Traumes. Da ist auch noch seine Nebenbeschäftigung, die er niemandem verraten hat, weil ihn seine Kollegen auslachen würden …