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Die Begegnung

© Vivien Lewin


"Setzen Sie sich doch bitte, Alexander."
Freuds Couch stand in einem dunklen kleinen Zimmer, das nur durch ein winziges Fenster Licht in den Raum ließ. Es schien fast so, als sei es schon spät am Tag, wobei es doch erst Mittag war. Alexander nahm auf der Couch Platz.
"Warum sind Sie hier?", Freud wandte sich seinen Aufzeichnungen über Alexander zu und betrachtete diesen aus dem Augenwinkel.
"Ist es nicht eher fraglich, warum Sie mit mir sprechen wollen, oder wollen Sie es gar nicht. Denn Sie sehen müde aus, um bereit zu sein, einem gebrochenen Mann wie mir zu helfen."
"Warum sind Sie solch ein Pessimist Alexander, glauben Sie, dass Sie alleine sind mit ihren Gedanken? Lassen Sie mich daran teilhaben und sagen Sie mir, was Ihnen auf dem Herzen liegt. Vielleicht bin ich müde, aber doch interessiert, durch Ihre Erzählungen an Ihrem Leben teilzunehmen"
"Was soll ich Ihnen erzählen. Meine Kindheit war wie die eines jeden Jungen, der ein großer König werden sollte. Meine Mutter, die mich über alles liebte, wurde geschlagen und geprügelt bis sie schreiend auf dem Boden lag. Frauen hatten nichts zu sagen. Es war fast normal die Frau als Solche, wie sie Gott geschaffen hat, nur als Gebärmaschine zu betrachten. Vielleicht hatte meine Mutter Glück. Sie musste nur ihren Körper verkaufen, aber sie hat sich gewehrt. Als Königin alterte sie nicht so schnell wie andere Frauen, die eine Familie mit vielen Kindern hatten; Frauen, die täglich nur für ein paar Augenblicke das Sonnenlicht sahen, wenn sie aufstanden, um das Frühstück zu machen. Ja, ich glaube sie hatte Glück."
Freud richtete sich auf und wurde aufmerksam auf Alexanders Wunden und Kratzer, die sein Gesicht und seine Arme zierten.
"Alexander, sind Sie hier, um über ihre Mutter zu sprechen oder weil Sie meinen Rat wollen, um eine Entscheidung zu treffen?"
"Nichts von beidem. Ich möchte mich nur mit jemandem unterhalten, einfach so. Ohne an die anderen Menschen zu denken. Ohne an die zu denken, die ich getötet habe und die durch meinen Befehl gestorben sind. Sagen Sie, glauben sie an Schicksal? Mein Geliebter tat es. Er dachte, er sei unsterblich, wenn er den Wein der Götter trank. Doch nun haben die Götter ihn mir weggenommen."
Mit verzerrter Stimme und zitternden Händen verbarg Alexander sein Gesicht in seinen Händen. Freud sah eine Träne aufblitzen. Alexander holte tief Luft.
"Ist es denn gerecht; Ihn mir zu nehmen? Er, der er mir doch ein guter Freund war….", Alexander brach ab. Freud, der mit einem Stift auf seinen Unterlagen spielte, hielt inne und versuchte Alexander zu beruhigen.
"Sind Sie sicher, dass seine Zeit noch nicht gekommen war? Vielleicht war es gut so, dass Sie erfahren, was Schmerz bedeutet, um daraus lernen zu können. Ihr Vater war ein mächtiger Mann, er hatte viele Feinde, aber nur einen Feind, den er ernst nahm. Haben Sie ihm Schmerz zugefügt?"
Alexander blickte auf, um zu antworten. Freud jedoch redete weiter, ohne Alexander zu Wort kommen zu lassen.
"Wenn Sie sich selbst jetzt sehen könnten. Schon bei Ihrer Geburt wussten alle, dass Sie einmal ein mächtiger Mann wie Ihr Vater werden würden. Aber wollten Sie das auch. Wollte der 20 jährige Alexander das überhaupt?"
"Ich war nicht bereit dafür, aber mein Volk brauchte einen König. Hätte ich denn weglaufen sollen, meinem toten Vater Schande bereiten sollen? Nein, ich bin Alexander und ich laufe niemals fort."
Alexander setzte eine böse Miene auf und stierte Freud mit erwartungsvollen, großen Augen an.
"Sind Sie in den letzten Jahren nicht davon gelaufen? Warum sind Sie nicht zu Hause geblieben, dort wo doch ihr Herzblut daran hängen hätte sollen?"
"Meine Liebe, mein Herz, all das ist mir nun genommen worden. Habe ich das verdient? Bin ich der gebrochene Mann, den alle in mir sehen?"
"Trinken Sie denn immer noch?" Freud zog die Augenbrauen nach oben.
"Wieso fragen sie mich das? Glauben Sie, er sei gestorben, weil er Wein trank, weil er sein Leben genoss und glücklich war? Nein, er war perfekt, es war nicht die rechte Zeit, dass er sterben musste."
"Warum sind Sie davon überzeugt? Manchmal ist es besser, viel weiter zurück zu denken, als Sie es gerade tun."
Freud erhob sich und stellte einen Stuhl neben die Couch auf der Alexander saß.
"Sehen Sie diesen Stuhl? Auf diesem Stuhl sitzt ein Kind, der 10-jährige Alexander, der gerade lernt, wie er zu kämpfen hat und vor den Augen seines Vaters ein wildes Pferd zähmt. Was glauben Sie, wie sich dieser Junge fühlt."
"Der Junge…. ist überzeugt einmal ein besserer Mensch und Herrscher als sein Vater zu werden. Er will stärker sein als sein Vater, mehr wissen als sein Vater."
Alexander senkte den Kopf.
"Und, hat der Junge es geschafft seinen Vater zu übertrumpfen?"
"Ja, er hat mehr Männer getötet, mehr Städte erobert und mehr Länder bereist als sein Vater."
"Ist dieser Junge, der nun ein Mann ist, denn glücklich?"
"Warum fragen Sie mich das jetzt? Sie wissen, dass ich einen Verlust erlitten habe, der nicht ersetzbar ist. Na ja, aber ich muss sagen, eigentlich bin ich glücklich. Ich habe in meinem jungen Leben schon so viel erlebt, so viel Leid gesehen…"
Freud schnitt ihm erneut das Wort ab.
"Und das macht sie glücklich?"
"Ich weiß es nicht, ich dachte immer, ich hätte alles, was ich brauche. Aber jetzt wo er gestorben ist, ist alles anders, - diese Leere."
Freud versuchte sich einen Überblick zu verschaffen, um herauszufinden, warum Alexander in aufgesucht hat.
"Ihr Vater liebte die Frauen. Liebten Sie denn keine Frau so sehr, wie ihn? Was ist mit Ihrer Frau, wusste sie von ihrer Liebe zu ihm?"
Alexander lehnte sich zurück.
"Ja, sie war aber nicht abgeneigt mir ihren Körper zu geben."
"Sie haben sie also nur in körperlicher Hinsicht geliebt. Glauben Sie denn, dass Sie sie glücklich gemacht haben?"
"Ich kann Ihre Frage nicht beantworten, ich weiß es nicht."
Freud war erstaunt.
"Sie wissen es nicht, aber glauben, dass sie Liebe empfunden haben für ihn?"
"Er hat doch nichts mit meiner Frau zu tun. Er war etwas Besonderes."
"Ich kann mich nicht erinnern, einem Menschen begegnet zu sein, der sein Leben bereut." Freud lächelte versteckt.
"Bin ich denn ein schlechter Mensch?" Alexander sah Freud eindringlich an.
"Lassen Sie uns ganz offen miteinander sein. Nur wenige Menschen glauben, dass Sie jemals für irgendwen oder irgendetwas Liebe empfunden haben, nicht einmal für Ihr eigenes Land und Ihre Leute. So viele sind gestorben, die für Sie gekämpft haben. War es das alles wert? Ein Eintrag in den Geschichtsbüchern dieser Welt, in denen steht, dass Alexander ein großer Feldherr war, aber ein kaltes Herz hatte? Sie sind jung, sie haben ihr Leben in der Hand und ein großes Heer, das immer hinter Ihnen steht. Ändern Sie jetzt etwas. Es ist nie zu spät, andere vom Gegenteil zu überzeugen."
Alexander richtete ein monumentales Begräbnis für seinen Geliebten aus. Er ließ dessen Arzt hinrichten und fastete mehrer Tage. Alexander stellte einen Antrag, dass der Verstorbene als Halbgott verehrt werden solle. Als diesem Antrag stattgegeben worden war, veranstaltete Alexander viele Feste, bei denen er übermäßig Alkohol zu sich nahm. Am folgenden Tag erkrankte er schwer und bekam hohes Fieber. Er suchte Freud ein letztes Mal auf. Die Sitzung fand in Alexanders Schlafsaal statt, da dieser kaum noch von seinem Bett zu entfesseln war.
"Sie haben also in ihren Augen etwas Gutes getan? Jemanden hingerichtet, von dem Sie glaubten, dass er Ihnen etwas weggenommen hat was Ihnen alles bedeutete. Fühlen Sie sich denn abgesehen von ihrem Fieber glücklich und befriedigt, dass sie den Arzt Ihres Freundes getötet haben?"
Alexander richtete sich auf.
"Ich habe getan, was ich für richtig hielt."
"Aber sind Sie sicher, dass dieser Mann nicht sein Bestes gegeben hat, um ihren Freund am Leben zu erhalten? War es Recht, was Sie da getan haben? Vielleicht hatte der Mann Familie. Nun ist seine Frau eine Witwe und seine Kinder haben keinen Vater mehr. Ist das denn gerecht? Wegen einem Verstorbenen gleich mehrere Leben zu zerstören?"
Alexander, der sich mittlerweile aufgerichtet hatte, schrie wutentbrannt durch den Saal.
"Wissen Sie, was Liebe ist? Wissen Sie denn nicht wie mein Leben durch den Verlust zerstört worden ist? Glauben Sie, ich lasse den Verräter leben, der mir meinen Liebsten genommen hat? Haben Sie jemals geliebt?"
Freud blieb ruhig auf dem Stuhl neben dem Bett sitzen und rührte sich nicht. Alexander begann zu husten. Seine Leibeigenen kamen herbei, um dem Kranken zu helfen. Alexander winkte sie ab und sank zurück in sein Bett.
"Warum suchen Sie Streit? Sind Sie wütend auf sich selbst oder wütend auf ihre Taten, die zwar ruhmreich waren, aber einen herzlosen Kriegstreiber seiner Zeit darstellen?"
"Ich bin verzweifelt und allein. Ich habe so viele Menschen um mich, aber trotzdem bin ich einsam. Ich habe versucht Gutes zu tun, aber auch ein egoistischer Feldherr zu sein, doch ist es mir nicht geglückt, - als guter Mensch gesehen zu werden."
Freud blickte aus dem Fenster, er wusste, dass Alexanders Schicksal längst besiegelt war.
"Sie haben doch auch Gutes getan. Wenn auch meistens für sich selbst. Wenn die Menschen egoistischer wären, die zu viel geben und die, die egoistisch sind mehr geben würde, wie einfach wäre es dann auf dieser Welt zu leben. Aber egal was man tut, man tut es für sich selbst. Für den einen ist es Befriedigung für den anderen die selbst auferlegte Pflicht."
Freud wurde unterbrochen. Ein Bediensteter betrat den Raum, einige Gelehrte und Freunde Alexanders folgten ihm. Einer beugt sich über Alexanders Bett.
"Wem werden Sie ihr Reich hinterlassen?"
Eine gespannte Stille durchschnitt den Raum.
"Dem Stärksten von euch. Ich glaube meine Freunde werden große Begräbnisspiele für mich veranstalten".
Alexander lächelte. Dann sank er kraftlos in seinem Bett zusammen und blieb regungslos liegen.

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