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Dez
01
Das verschwundene Meer
© Manfred Schröder

Eines Morgens als Xalon zum Strand kam, war das Meer verschwunden. An der geschändeten Küste lagen die Boote wie hilflose Säuglinge an einer leeren Mutterbrust. Er spähte, mit der Hand über den ratlosen Augen, von Ufer zu Ufer; wandte sich um und rief zum Haus, wo Kalidra, mit dem Kind in den Armen, stand: "Kalidra, das Meer. Wo ist das Meer? Wer raubte es uns?"

Er nahm das Ruder, schwenkte es in der Luft, um kundzutun, dass er bereit sei, wieder hinauszufahren. Schrie über die von Runzeln durchzogenen Ebene. "Thalassa!"

Doch sein Schrei verlor sich zum Horizont. Der Wind wehte klagend und ein einsamer Albatros flog kreischend seine Bahn auf der Suche nach seiner verlorenen Heimat. Das Ruder fiel aus seiner kraftlosen Hand und sein Blick ging zum wolkenverhangenen Himmel.

"Warum, Ihr da droben? Sagt, warum?"

Xalon fiel auf die Knie und hob seine Arme in bittender Gebärde.

"Haben wir gesündigt, so züchtiget uns. Legt uns Strafen auf. Verlangt jedes Opfer. Doch gebt uns das Meer zurück."

Sein Blick ging wieder zu Kalidra und dem Kind. Sie hob es an ihre Brust und drückte es an sich. Beide wussten, was die Götter da oben verlangten. Was sie immer verlangten in ihrer Unersättlichkeit nach frischem Menschblut. Mit stummen Lippen, einem zerschlagenen Horne gleich, richtete er sich auf und wandte sich zum Haus. Seine Schritte waren die eines in Fesseln gelegten Gefangenen.

Als er vor Kalidra stand und das Kind nehmen wollte, hielt sie es noch fester an ihre Brust; wie die Wurzeln einen jungen Baum.

"Nein!"

Dieses Nein war nicht nur der Schrei einer Mutter. Es war ein Schrei des Lebens. Ein Aufbegehren der Erde gegen den Wahn des Himmels. Immer wieder schrie sie dieses Nein, und ihre Augen waren mit Hass erfüllt. Und die Götter erzitterten! Die Erde begann zu beben. Der Wind sammelte sich und weiße Gischt schäumte am Horizont. Das Meer riss sich los von den Ketten und wurde ein brüllender Löwe. Wellen türmten sich auf und ergossen sich aufs Neue, zum Strand. Die Boote fühlten sich wieder geborgen und schaukelten in weichen Armen. Möwen durchschossen die Luft und die Wolkendecke riss auseinander.

Xalon blickte auf Kalidra, deren aufgelöstes Haar wie eine Siegesfahne wehte. Und ihr Blick, zum Himmel gerichtet, spottete den Göttern. Sie ergriff Xalons Hand und aus stolzem Mund erklang das Lied der Erde. Er hob seinen Kopf und stimmte mit ein. Ihr Gesang sprang von Insel zu Insel und lag wie ein tausendfaches Echo über dem Wasser.

Xalon weinte.

Dann ging er zum Altar und zertrümmerte ihn.

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