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Dez
01
Unwichtig?
© Karin Reddemann

Keine große Sache. Trotzdem war sie für mich ein, tja, wie sagt man das über Bücher, Filme? Ich behielt sie als Schlüsselerlebnis. Das trifft den Kern, denke ich.

Ich arbeitete in den Semesterferien als Putzhilfe im Krankenhaus. Den Job hatte mir meine Schwester vermittelt, die, damals noch Medizinstudentin, dort eins von vielen Praktika absolvierte. Sie kannte die Verantwortlichen der zuständigen Reinigungsagentur, und die suchten Aushilfen. Das Geld - wirklich gut bezahlt wurde ich nicht - konnte ich gebrauchen. Mein Job bei der Lokalzeitung brachte nicht genug ein, das Zeilenhonorar hielt sich in Grenzen. Und da ich versprochen hatte, abends und am Sonntag einsatzfähig zu sein, zeigte sich die Redaktion einsichtig und wünschte mir Glück.

Schlaf wünschte sie mir nicht. Mit Anfang zwanzig war ich so müde wie niemals wieder. Ich stand um fünf Uhr auf, begann um sechs, erst Verwaltungsbereich, hastiges Frühstück nach zwei Stunden, Männerstation, wieder zwei Stunden, kurze Pause, Einsatz in der pathologischen Praxis, direkt auf dem Krankenhausgelände. Nachmittags zuhause Pflichtlektüre für die Uni, Notizen, einige ausgewogene Sätze, hastig über Döblin und die Nachkriegsliteratur etwas hingekritzelt, spanische Grammatik angeguckt, mit dem Hund raus, Mama und Papa über mein spannendes Leben informiert, mit meinem damaligen Freund in Kiel telefoniert, ins Auto gesetzt, ab zum Taubenzüchterverein in Suderwich. Einen unwichtigen Artikel geschrieben, nochmals mit dem Hund raus, kein Hunger mehr, nur noch ins Bett. Ich wusste ja: Das Krankenhaus wartet.

Im weißen Putzkittel, das Haar brav geflochten, eigener Schrubberwagen, Namenschildchen, Desinfektionsmittel immer streng im Auge, kam ich mir sogar irgendwie wichtig vor. War auch stolz auf meine Gewissenhaftigkeit, obwohl ich tapfer gegen mein aufdringliches Gähnen ankämpfen musste. Ich zeigte mich fleißig, gab mir Mühe. Ich wollte beweisen, was ich kann. Könnte, wenn ich müsste.

Dann kam dieser Tag: Ich wischte in den Verwaltungsräumen, unten in der Zentrale, und diese Angestellte hockte früher als gewohnt an ihrem Schreibtisch, war gut frisiert, schlecht geschminkt und rauchte. Damals ging das noch, ohne radikal vor die Tür gesetzt zu werden. Sie war vermutlich einige Jahre älter als ich, nicht wesentlich, aber es reichte, um mich kurzfristig einzuschüchtern. Zumal sie sich auf einem Bürostuhl flegelte, hochhackige Schuhe trug und Lippenstiftspuren am Filter ihrer Zigarette hinterließ. Währendessen ich im Kittel und in meinen Gesundheitslatschen die Türklinke polierte.

"Machen Sie mal die Aschenbecher sauber. Aber dalli! Unerhört so was, die sind ja immer noch voll!"

Ich befand mich noch nicht so ganz auf gedanklicher Höhe, es war halt früh, sehr früh am Morgen, aber immerhin brachte ich ein "Moment, bitte, ich besitze keine sechs Arme" zustande.

Natürlich ärgerte ich mich. Warum hatte ich überhaupt "bitte" gesagt? Sie hat mir keinen Respekt gezollt, mich wie ihren persönlichen Sklaven behandelt. Sie gehörte zu der Sorte, die ich im Alltag lächelnd ignoriere. Nicht weil ich denke, besser zu sein. Aber anders. Eben anders denkend. Ich sage "Guten Tag" zu der Frau, die Treppen putzt, und ich entschuldige mich: "Tut mir leid. Darf ich kurz durch? Ich sehe ja, Sie haben grad erst alles sauber gemacht." Ich ranze sie nicht unnötig blöd an. Warum auch? Ist sie schlechter als ich, weil sie meinen Dreck eliminiert?

Höflichkeit wurde mir beigebracht, auch wenn sie einem voller Wut auf die Ungehörigkeiten anderer Menschen oft als sinnlos erscheint. Ergo ging ich im Nachhinein, obgleich die Männerstation wartete, wieder in das Verwaltungsbüro, fragte devot, ob die Aschenbecher denn nun zur Zufriedenheit blank geleckt seien und ob Madame noch weitere Wünsche hätte.

Sie sagte zu mir, ohne mir einen Blick zu schenken: "Gehen Sie weiter wischen, dafür werden Sie bezahlt. Noch was? Ich habe zu tun."

Meine Reaktion darauf war ein zorniges Schweigen. Versteckt zornig. Das ist nicht notwendigerweise nachvollziehbar für ehrliche, revolutionäre Gemüter, aber diese Frau demonstrierte mir, wer, besser, was ich als unbedeutende Person in meinem schäbigen Kittel, statt Parfüm Allzweckreiniger an den Handgelenken, für sie in ihrer kleinen gelackten Welt war. Sie hat sich trotz meiner Unterwürfigkeit über die "unverschämte Putze" beschwert. Das hatte für mich keine nennenswerten Folgeschäden. Immerhin.

Ich biss kleinlaut die Zähne zusammen. Ich wollte diesen Job nicht aufs Spiel setzen.

Die erste Runde auf der Männerstation absolvierte ich gewissenhaft, dann trafen wir uns alle auf der Besuchertoilette neben den Aufzügen, um eine zu rauchen. Wir alle, das waren die fest angestellten Reinigungskräfte, die nur zwei Stunden pro Tag putzten, um nicht über ihr finanziell vorgeschriebenes Limit zu kommen, und die zwei, drei Studentinnen, die wie ich sechs Stunden schaffen durften.

Wir qualmten dort, ich wusste natürlich, wohlerzogen wie ich war, dass so etwas sich nicht gehörte. Prinzipiell verboten. Aber es bedeutete Solidarität. Magda Schnieder, geschieden, alleinerziehend, sagte: "Die Ärzte grüßen nicht. Die doch nicht. Nie. Die feinen Herren." Die dicke Herta Pawulski, frisch verlobt mit einem trockenen Alkoholiker, der gern mal aus Trauer über seinen Verlust zuschlug, lachte. Eine Spur zu laut. Egal, dachte ich, wenn sie es denn so wollte. Empfand mich trotzdem als schuldig. Warum?

Helga war gereizt und hatte ein unschönes blaues Auge. "Was erwartest du denn, Magda? Wer bist du denn für die Kerle in Weiß? Du kannst auf den Knien liegen und dich blutig schrubben, die latschen dir drüber mit ihren Dreckschuhen. Ohne dich zu beachten. Kannst noch mal von vorn anfangen mit dem Saubermachen. Diese arroganten Scheißer interessiert das doch nicht, warum du dich hier krumm machst, um deinen Kindern mal ein Stück prima Rindfleisch kaufen zu können."

Ich fühlte mich unbehaglich. Auf mich wartete eine vernünftige Zukunft. Dachte ich damals.

Nach der verbotenen Pause wienerte ich weiter auf meiner Männerstation, ließ mir blöde Sprüche gefallen, die wohl charmant herüberkommen sollten, und traf im Raucherzimmer - gab es zu meiner Zeit noch - auf zwei abstruse Zeitgenossen. Goldkettchen, Jogginganzüge aus Plastik, unverkennbar falsche Löckchen und künstliche Bräune. Nicht mein Ding. Aber ich zeigte mich höflich, bat die beiden, sich nach ihren Zigaretten aus dem Raum für eine Viertelstunde zu entfernen, weil ich ihn säubern müsse.

Sie entfernten sich nicht. Sie sagten zu mir: "Wat jezz, Putze, hass hier gar nix zu melden, wer bisse denn, häh?" Und zündeten sich erneut eine an.

Innerlich tobte was in mir. Äußerlich blieb ich gefasst. Gedanklich heulte ich. Das also waren die Menschen, die mich frei Schnauze und ohne Respekt behandeln durften, weil ich ihren Dreck weg machte.

Ich blieb ruhig. Ging zum Schwesternzimmer, fragte nach dem Stationsarzt. Hörte "Das geht doch nicht, der hat weiß Gott Besseres zu tun", blieb beharrlich. Trotzig. Ich wollte Gerechtigkeit. Um jeden Preis.

Dann kam er. Dr. Jens Becker. Ein deutlich unausgeschlafener, aber erfreulich immer noch aufnahmefähiger dünner Mann, der mich müde ansah, mir zuhörte und relativ wach in diesen Raucherraum marschierte. Er schmiss die beiden in ihren Jogginganzügen raus. Er sagte: "Sie verschwinden sofort. Und besitzen gefälligst den Anstand, die Arbeit eines Menschen zu achten."

Die Kerle gingen mit gesenkten Häuptern. Wortlos. Ich hatte auch nicht viel zu sagen. Ich nickte dem Arzt zu und lächelte. Er lächelte zurück. Und ich fühlte mich stark und tatsächlich wichtig. Er vielleicht auch.

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