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Patricia Koelle: Die Nacht ist ein Klavier. Kurzoman.
Kapitel 1 aus dem Kurzroman "Die Nacht ist ein Klavier" von Patricia Koelle
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Buch / eBook Patricia Koelle: Alles voller Himmel
eBook Roman Patricia Koelle: Die eine, große Geschichte

Dez
01
Die Nacht ist ein Klavier
© Patricia Koelle

„Geschlossen.“

Nick hockte im Nieselregen an einem der klebrigen Tische vor seinem Stammlokal und starrte auf das Schild an der Tür. Wie wunderbar klar man etwas mit einem einzigen Wort sagen konnte!

Isa hatte sehr viel mehr Wörter benutzt um ihn in die Wüste zu schicken. Die Wüste, in die er ihrer Meinung nach ihr Leben verwandelt hatte. Sie hatte vierundfünfzig Minuten lang geredet. Er fragte sich, wie viele Wörter wohl vierundfünfzig Minuten füllten. Ein schlichtes „Geh!“ hätte es auch getan und zu demselben Ergebnis geführt: dass er seine Zahnbürste, seine Wäsche und seine Bücher einpackte, Isa den Schlüssel zurückgab, den sie ihm vor zwei Jahren an den Weihnachtsbaum gehängt hatte, und ihr mit einer verlegenen Umarmung Glück und einen Mann wünschte, der ohne Schlaf auskam.

Zum Glück hatte er seine Ein-Zimmer-Bude nie ganz aufgegeben, hauptsächlich weil bei Isa keine Lücke für seine Sachen war. In ihrer Wohnung hatte er oft das Gefühl, er müsste schon morgens durch eine Schicht Worte waten wie durch frisch gefallenen Schnee.



Anfangs hatte sie ihn bezaubert mit ihren genauen Beschreibungen, mit den Geschichten, die sie über alles und jeden erzählte, mit der Art wie sie alle Satzzeichen durch ein fröhlich daher hüpfendes Lachen ersetzte. Und mit ihrer Unternehmungslust. Jeden Abend verführte sie ihn, irgendwohin zu gehen, wo etwas los war, wo Menschen und Gespräche und Bewegung den Raum füllten. Es war gut für ihn. Das Leben war lebendig, aufregend und bunt mit Isa.

Doch nachdem er seine Ausbildung zum Pfleger abgeschlossen und einige Monate in der Klinik gearbeitet hatte, wurde ihm klar, dass ihm das nicht genügte. Er wollte mehr wissen. Er wagte ein Medizinstudium. Isa sah das gern, gab reichlich damit an. Aber das Studium wurde stetig aufwändiger, sog die Kraft und die Zeit aus Nicks Tagen. Er musste auch Geld verdienen, arbeitete weiterhin nebenbei als Pfleger, übernahm Nachtschichten, weil er dabei büffeln konnte. Isa musste meist allein ausgehen, und wenn sie Nick hinterher davon erzählte, war er schon nach dem Vorwort eingeschlafen. Wenn Isa beim Erzählen wild gestikulierte war ihm, als ob ihre roten Fingernägel Spuren auf seiner Netzhaut hinterließen wie die Sonne, wenn man zu lange hineingesehen hat. Die Bilder, die sie in die Luft malte, flimmerten noch in seinen Träumen und ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

Blieb Isa ihm zuliebe zuhause, war sie unglücklich. An Ruhe erstickte sie.

Nick und Isa waren auf Dauer schlichtweg nicht kompatibel.

Und jetzt saß er hier und beneidete ein Türschild um seine klare Einfachheit.

*

Das Schild bewegte sich plötzlich, schwang mit der Tür vor und zurück. Heiner, Nicks alter Schulkamerad, dem das Lokal gehörte, steckte den Kopf heraus und blinzelte in das nasse Dämmerlicht. „Was machst du da? Du weißt doch, dass heute Ruhetag ist! Eigentlich bin ich gar nicht hier. Brauchst wohl’n Schnaps, so wie du aussiehst? Geht aufs Haus!“

„Nee, danke. Mein Dienst fängt gleich an.“

„So schnell schon ein neuer Job? Gratuliere. Wie wär’s dann mit einem Eisbecher? Schokoeis ist gut gegen Liebeskummer.“

„Bin ich ‘n Mädchen?“

„Schokolade wirkt auf beide Geschlechter. Wir geben’s nur nicht zu. Ist dir nicht kalt hier draußen?“

Natürlich war ihm kalt. Immerhin war Anfang Oktober, und ein Sauwetter. Aber Nick wollte einen klaren Kopf bekommen, und außerdem war ihm nach Leiden zumute.

Heiner wischte mit gerümpfter Nase über einen Stuhl, setzte sich widerwillig. „Sie passte nicht zu dir. Vergiss sie!“

Aber ihr Funkeln, mit dem sie sein Leben bestreut hatte wie mit Puderzucker, und die Wärme in ihrer braungebrannten Armbeuge würden ihm fehlen.

„Und? Was ist das für’n neuer Job?“, lenkte Heiner ab.

In der Klinik hatten sie Personal abbauen müssen, und da Nick keine Vollzeitkraft war und außerdem noch nicht lange da, musste er als Erster gehen. Es traf ihn nicht sehr. Auf der Station herrschte ebenso viel Hektik wie bei Isa, ständig war Eile geboten, flogen Befehle hin und her, fiepten und blinkten die Maschinen. Nick hatte zunehmend das Gefühl, dass in ihm eine Zeitbombe tickte. Nicht nur bei Isa gab es zu viele Wörter. Sie tropften auch aus seinen Lehrbüchern, verfolgten ihn zusammen mit Isas Geschichten in seine Träume, rollten in den Vorlesungen wie eine Lawine auf ihn zu. Irgendwo musste es doch Augenblicke der Ruhe geben, in denen er sich an sich selbst erinnern konnte! Darum hatte er keine Zeit verloren, als er die Anzeige in der Morgenzeitung gelesen hatte.

„In einem Seniorenheim. Gleich hier um die Ecke.“

„Hmm. Meinste, ausgerechnet das heitert dich auf?“

„Es heitert mich auf, wenn ich meine Miete bezahlen kann.“ Der Wind ließ ein gelbes Lindenblatt auf den leeren Tisch kreiseln. „Ich muss jetzt los. Meine erste Schicht fängt gleich an.“

„Na, denn.“ Mit einem Schulterzucken stand Heiner auf. „Viel Glück, mein Bester. Vielleicht gibt’s da ja ‘ne hübsche Schwester? Oder zwei?“

„Wenn, sag ich dir Bescheid.“

*

Dass Nick an seinem ersten Tag als Pfleger im Seniorenheim ausgerechnet Nachtschicht hatte, ließ viele Fragen offen. Die Nacht war etwas anderes als ein geregelter Tagesablauf, in den einen die diensthabenden erfahrenen Kollegen einweisen und mit den Bewohnern bekanntmachen konnten. Andererseits gab ihm das die Stille, nach der er sich sehnte, und die ihm erlaubte, sich einzufühlen in einen Ort, an dem sich die Zeit kondensierte.

Er klingelte, nahm die Treppe zwei Stufen auf einmal und trat in die dämmrige Eingangshalle, an die er sich von seinem Vorstellungsgespräch her erinnerte. Das war bei Tag gewesen, Neonlicht hatte den Raum erhellt und alles war voller Geschäftigkeit, Stimmen, Schritte, Gesten. Jetzt, verlassen und dunkel, wirkte alles anders. Sedimente gelebter Jahrzehnte nisteten in den staubigen Gardinen, polierten die Armlehnen der Sessel und klebten an abgegriffenen Buchrücken. Nick sammelte drei leere Kaffeetassen mit kalten Resten ein, die einsam auf einem Tisch standen. Das Licht einer Straßenlaterne fiel durch einen Spalt und lenkte seine Aufmerksamkeit auf ein verlorenes Taschentuch, das wie ein kleines Gespenst am Knauf einer Schranktür hing. Er pflückte es, faltete den dünnen Stoff säuberlich zusammen.

Nick wollte die Tassen in die Küche bringen und dann Schwester Bärbel im Büro nach Anweisungen fragen, als er ein Geräusch hörte. Ein leises Schnauben, ein Atmen. Oder nur Einbildung?

Er lauschte. Da war was. Von irgendwo unten her. Die grelle Deckenlampe, deren Licht er vorhin verschmäht hatte, schaltete er nun doch ein.

Das Klavier räusperte sich.

Behutsam näherte sich Nick, nahm eine Bewegung wahr. Vorsichtig schob er den Klavierhocker beiseite. Aus dunklen, glänzenden Augen traf ein erstaunter Blick den seinen. Eine kleine, zierliche Frau, eingehüllt in einen langen Schal aus himmelblauem Plüsch, kauerte unter der Tastatur, zwischen die Pedale und das rechte Klavierbein gedrückt. Nick dachte an ein Eichhörnchen, das sich gegen den Winterwind stemmt.

„Hallo“, sagte er.

Die Augen fixierten ihn prüfend, eine kleine Hand griff fester in das Ende des himmelblauen Schals. „Wann kommt Karl?“, fragte eine leise Stimme.

„Ich weiß es nicht. Aber wenn Sie hervorkommen, können wir Schwester Bärbel fragen. Ich bin Nick.“ Er streckte ihr eine Hand hin.

Nichts rührte sich. Nur dieser blanke Blick hielt seinen fest.

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