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Gefangen im Schnee

© Mara Jo


Im Westen braute sich ein Unwetter zusammen, während sich im Osten der Himmel strahlend blau über den schneebedeckten Bergen wölbte. Die Luft war eisig und es roch nach Schnee. Leon hielt inne, sog genussvoll die kalte klare Luft ein und ließ seinen Blick über den vertrauten Anblick schweifen. In der Ferne funkelte das Eis des Gletschers, der von der Sonne angestrahlt wurde. Es war unglaublich still - fast todesstill. Der Schrei eines Adlers durchbrach die Stille und riss Leon aus seinem Anblick. Er setzte seinen Rucksack ab, schnürte ihn auf und entnahm ihm eine Thermoskanne mit Tee. Er richtete sich auf, schraubte den Deckel der Flasche ab und schenkte sich in einen Thermobecher die dampfende Flüssigkeit. Leon liebte die Einsamkeit der Bergwelt, die er freiwillig gewählt hatte. Die Freiheit, die ihn umgab, ließ ihn selbst freier werden.
Er setzte den Becher an seine Lippen und hielt in seiner Bewegung inne - er glaubte unterhalb des Gletschers eine Gestalt auszumachen. Konzentriert kniff er die Augen zusammen, um besser sehen zu können, aber die Entfernung war zu groß, um zu erkennen, ob es sich um einen Menschen oder ein Tier handelte. Leon ließ die Gestalt nicht aus den Augen, während er den Becher in den Schnee stellte und sein Fernglas aus dem Rucksack holte. Im Okular seines Feldstechers konnte er nun deutlich einen Menschen erkennen, der Figur und Größe nach eine Frau. Leon suchte die Umgebung der Person ab, sich fragend, ob noch andere Wanderer in der Nähe waren. Aber die Frau schien allein zu sein. Das war reiner Selbstmord. Bei den derzeitigen Wetterverhältnissen war es unverantwortlich ohne Begleitung in die Berge zu gehen!
Die Frau kam in seine Richtung, ihren Bewegungen nach zu urteilen war sie erschöpft. Sie lief leicht nach vorn gebeugt, den Kopf gesenkt und die Hände tief in den Taschen ihres Anoraks verborgen. Leon verfolgte sie durch das Glas. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit er die Gestalt entdeckt hatte, aber ein Frösteln erinnerte ihn daran, dass er sich wieder bewegen musste und ein Blick zum Himmel drängte ihn zur Eile, um noch vor dem drohenden Schneesturm seine Hütte zu erreichen. Dann vernahm er das Donnern, zunächst war es nur ein unbeschreibbares Rauschen und Knistern, ehe es zu einem ohrenbetäubenden Lärm anschwoll. Leon blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam und - erstarrte. Oberhalb der Frau löste sich eine Schneelawine, die mit rasender Geschwindigkeit an Stärke und Gewalt gewann, ehe sie über der Frau abstürzte und sie mitriss. Leon beobachtete die Schneemasse und verfolgte, wie weit sie talwärts walzte. Dann begann er zu rennen. Er wusste selbst nicht warum, aber er lief auf die Ausläufer der Lawine zu ohne sie aus den Augen zu lassen. Seine Lungen brannten, aber er rannte mit unverminderter Geschwindigkeit - so schnell der eisige Untergrund es erlaubte - vorwärts.
Jennifer stapfte durch den pulvrigen Schnee, der knirschend unter ihren Füßen nachgab. Die Hände tief in die Taschen vergraben, die Mütze ins Gesicht gezogen und den Schal um den Hals gewickelt, lief sie immer weiter und weiter. Es war ihr egal, wo sie hingelangte, am liebsten wäre sie sowieso tot. Ihr Leben hatte allen Sinn verloren - vor ein paar Tagen. Oder waren es Jahre? Sie hatte ihr Auto gepackt, sich einen sündhaft teuren Skianzug geleistet mit passenden Stiefeln dazu, und war Richtung Süden gefahren, bis sie schließlich in den Alpen gelandet war. Hier war die Luft klar, der Blick weit und sie endlich allein. Ihr Leben hatte sie hinter sich gelassen. Sie nahm nichts wahr von ihrer unmittelbaren Umgebung, außer den Geräuschen ihres Atems und ihrer Schritte. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um die gleiche Sache - ihre Vergangenheit. Aber die war passé und Jennifer war innerlich abgestorben. Das plötzliche Rauschen über ihr riss sie aus ihren Gedanken. Ein ohrenbetäubender Lärm umgab sie und die Erde begann zu beben. Wenn sie jetzt sterben würde, dann wäre alles vorbei - und bei dem Gedanken wurde sie unter einer Schneemasse begraben und mit in die Tiefe gerissen.
Als sie wieder zu sich kam, war es stockdunkel um sie herum. Sie konnte sich nicht bewegen - ihre Arme und Beine schienen eingeklemmt zu sein und in ihrem Mund war Schnee. Dann kam die Erkenntnis: Sie war von einer Lawine erfasst worden! Plötzlich wollte Jennifer doch leben, sie wollte nicht inmitten von Schneemassen einsam sterben. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie überlegte fieberhaft, was sie über Lawinenopfer wusste. Wie sollte sie sich verhalten? Sie atmete zunächst flach und langsam, um den Sauerstoffgehalt in ihrem winzigen Hohlraum möglichst lange zu erhalten. Die Wärme ihres Atems schmolz langsam aber sicher den Schnee vor ihrem Mund weg und der Raum wurde stetig größer. Glücklicherweise hatte sie die Arme vor ihrem Gesicht angewinkelt, so dass ein kleiner Raum zwischen ihrem Gesicht und ihren Armen entstanden war. In welche Richtung musste sie? Da fiel ihr ein, dass sie Spucke sammeln, sie zwischen den Lippen ausscheiden und fühlen musste, in welche Richtung der Speichel lief. Das Rinnsal lief ihr über die Wange in Richtung Ohr, sie lag folglich auf dem Rücken. Jennifer versuchte die aufsteigende Panik zu unterdrücken, sie lenkte ihre Gedanken praktischen Dingen zu: langsam bewegte sie ihre Finger, jeden einzeln. Dann probierte sie, eine ganze Hand zu öffnen und zu schließen. Als sie es endlich geschafft hatte, war sie völlig erschöpft und konzentrierte sich auf ihren Atem. Die Last auf ihrer Brust schien sie zu erdrücken, und doch konnte sie weiter Luft holen. Allmählich kroch die Kälte in ihre Glieder. Jennifer versuchte ihre Beine zu bewegen, doch der Schnee hielt sie in seinen eisigen Klauen. Sie wollte nicht erfrieren, sie durfte unter keinen Umständen einschlafen! Sie begann im Geiste Gedichte aufzusagen, während sie immer wieder ihre Hände bewegte und versuchte ihre Füße anzuwinkeln. Irgendwann spürte sie, dass heiße Tränen über ihre Wangen rollten und ein Schluchzer entrang sich ihrer Kehle. Sie zwang sich Kopfrechenaufgaben zu lösen, das Alphabet rückwärts aufzusagen, Hauptstädte zu den einzelnen Ländern der Erde zu bestimmen und an die Wünsche, die in ihr aufstiegen, fest zu glauben.
Leon erreichte den Schneehaufen, den er die ganze Zeit angepeilt hatte. Er ließ seinen Rucksack fallen, sank auf die Knie und begann mit bloßen Händen den Schnee abzutragen. Er wusste nicht, welche Macht ihn trieb, gerade an dieser Stelle zu suchen - oder überhaupt zu suchen. Es war Irrsinn! Wenn jemand so leichtsinnig war, wie diese Person, und allein in die Berge marschierte, dann hatte er es nicht anders verdient als verschüttet zu werden. Aber Leon konnte einen Menschen nicht seinem grausigen Schicksal überlassen, er musste helfen. Der Schweiß rann ihm übers Gesicht, sein Hemd unter der dicken Daunenjacke war nass, aber er konnte den Anorak nicht ausziehen. Die Gefahr einer Lungenentzündung war zu groß. Schließlich musste er einen Moment ausruhen. Er griff nach seiner Thermoskanne und trank in kleinen Schlucken von seinem Ingwertee. Der scharfe Geschmack belebte seine Sinne und er schob eine Strähne, die ihm ins Gesicht gefallen war, unter die Mütze. Er suchte den Schnee nach Bewegungen ab, aber nirgends war die kleinste Regung zu sehen. Hoffentlich kam er nicht zu spät. Zu allem Übel setzte auch noch Schneefall ein. Kleine sanfte Flocken legten sich auf sein Gesicht und seinen Körper, er aber kämpfte sich fieberhaft durch den Schnee, schob und grub in den Massen, vergrößerte das Feld seiner Tätigkeit und betete inbrünstig um Erfolg.
Jennifer glaubte ein Scharren zu hören. Sie wollte sich bemerkbar machen, aber sie brachte keinen Laut raus. Ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr, sie konnte sie nicht mehr spüren, geschweige denn bewegen. Einzig ihre Hände, die eiskalt, aber noch fühlbar waren, machten ununterbrochen kleine Bewegungen. Immer wieder kamen ihr die Tränen und sie schmeckte das Salz auf ihrer Zunge. Der Raum um ihren Mund war größer geschmolzen und sie konnte sogar die Arme leicht verlagern. Vielleicht gelang es ihr so, Schnee oberhalb von sich wegzuscharren und somit den Raum nach oben hin zu vergrößern. Dann hörte sie wieder Geräusche. Sie schienen sich entfernt zu haben und sie begann verzweifelt mit den Händen zu rudern, soweit ihr Gefängnis es zuließ. Sie hoffte, dass jemand die Geräusche, die sie verursachte, hören konnte. Doch dann ließen ihre Kräfte nach und sie wurde bewusstlos.
Der Schneefall wurde stärker und Leon guckte verstimmt zum Himmel: "Musst du es jetzt so schneien lassen?" Er brummte unwirsch vor sich hin ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Irgendetwas trieb ihn unweigerlich an. Dann glaubte er einen Schluchzer gehört zu haben. Er hielt inne und lauschte angestrengt in die Stille. Nur das Rauschen des Windes drang an sein Ohr, sonst war es totenstill. Leon schüttelte den Kopf und suchte weiter. Er spürte seine Hände kaum mehr, denn seine ledernen Handschuhe waren durchnässt und ließen Kälte eindringen. Dann hörte er wieder einen Laut. Leon beugte sich vor, schob seine Mütze hinter die Ohren und konzentrierte sich auf die Richtung, aus der er das Geräusch vernommen hatte. Sollte seine Mission glücken? Das Gefühl, kurz vor dem Ziel zu sein, verlieh ihm noch einmal ungeahnte Kräfte und er schaufelte Schnee hinter sich und starrte gebannt vor sich. Nach zwei Stunden - oder auch etwas mehr - schimmerte etwas Orangefarbenes durch den Schnee. Leon strich die weiße Masse zur Seite und entdeckte ein Bein. Blitzschnell schätzte er die Entfernung zwischen Bein und Kopf einer liegenden Person ab und begann weiter links zu graben. Der Stellung der Füße nach musste der Mensch auf dem Rücken liegen. Er klopfte der Person zwischendurch beruhigend auf den Unterschenkel und rief ihr tröstende Worte zu, aber Jennifer spürte seine Berührung nicht und seine Stimme konnte sie in ihrer Bewusstlosigkeit nicht erreichen.
Endlich fand er ihr Gesicht. Sie hatte die Augen fest geschlossen und ihr Mund war leicht geöffnet. Leon beugte sich vor und versuchte ihren Atem zu spüren. Zu seiner grenzenlosen Erleichterung streifte ihn ein warmer Hauch und er schlug der Frau leicht auf die Wange. Sie öffnete kurz die Augen, ehe sie wieder bewusstlos wurde. Vorsichtig grub Leon weiter, bis er die Glieder frei hatte und sie behutsam aus ihrem Schneebett heben konnte. Er legte sie noch einmal ab, kontrollierte, ob sie eventuell irgendwelche Brüche oder andere Verletzungen hatte und setzte seinen Rucksack auf. Dann hob er die schmale Gestalt auf seine Arme und machte sich auf den beschwerlichen Heimweg. Der Schneefall wurde stärker und der Boden war glatt und uneben. Keuchend legte er den Weg zu seiner Hütte zurück, der Wind peitschte ihm unerbittlich den Schnee ins Gesicht und seine Arme drohten unter der Last schlapp zu machen. Leon biss die Zähne zusammen und kämpfte sich durch die Naturgewalten, bis er schließlich völlig erschöpft die heimatliche Tür erreichte.
Vorsichtig legte er Jennifer auf das Fell vor seinem Kamin, legte Holz nach und lief mit zwei Eimern nach draußen. Als er die Hütte wieder betrat, schälte er sich aus seiner Jacke und seinen Stiefeln, hockte sich neben die bewusstlose Frau und zog ihr die völlig durchnässten Kleider vom Leib. Ihre Glieder waren blau verfärbt und er begann sie mit Schnee, den er in den Eimern geholt hatte, abzureiben. Der Schweiß tropfte ihm vom Gesicht vor Anstrengung aber endlich wurde ihre Haut wieder rot, die Arme und Beine schienen zu glühen und die Frau fühlte sich auch nicht mehr so kalt an. Behutsam nahm er sie auf seine Arme, legte sie in sein Bett, wickelte ihren nackten Körper in Wolldecken und deckte sie zusätzlich mit seinem Federbett zu. Dann ging er in die Küche, kochte Tee und Gemüsebrühe, ehe er sich selbst entkleidete und trockene warme Kleidung überzog. Er hing die nassen Sachen über den Herd auf die dafür vorgesehene Stange und rührte zwischendurch im Suppentopf. Als Leon ein Stöhnen hörte, ging er schnell in sein Schlafzimmer und setzte sich zu Jennifer auf die Bettkante. Er strich ihr das feuchte braune Haar aus der Stirn und betrachtete sie eingehend. Sie hatte ein schmales Gesicht mit einer kleinen Stupsnase und einem sinnlichen Mund. Ihre Haut wirkte blass und durchscheinend, doch ihre Wangen begannen zu glühen und kündigten Fieber an. Leon holte eine Schüssel mit Wasser, Handtücher und einen Becher mit Brühe. Anschließend hockte er sich wieder zu Jennifer, legte ihr die feuchten Tücher auf die Stirn und kühlte ihr Gesicht. Als sie kurz die Augen öffnete, setzte er ihr den Becher mit Suppe an die Lippen und flößte ihr einen kleinen Schluck Flüssigkeit ein, dann sank Jennifer wieder zurück in die Kissen und in ihren Dämmerzustand. Das Fieber stieg. Leon machte die ganze Nacht Wadenwickel und wechselte immer wieder die Laken und Decken. Unermüdlich kühlte er das glühende Frauengesicht und heizte die Hütte, damit der Schüttelfrost nachließ. Sie warf sich hin und her, schrie im Fieber auf und schluchzte tief in ihrer ausgedörrten Kehle. Leon streichelte ihr über die Stirn und sprach beruhigend auf sie ein. Während er um das Leben der jungen Frau kämpfte, herrschte draußen ein heftiger Schneesturm. Der Wind peitschte die kalte Masse an die Fenster, die Fensterläden, die Leon nicht mehr hatte schließen können, wurden aus den Angeln gerissen und flogen durch die Luft in die Schneewüste. Es heulte und knirschte, das Donnern einer Lawine war in der Ferne zu hören und wurde nur durch das Knistern des Kaminfeuers unterbrochen.
Gegen Morgen schien die Krise überwunden. Das Fieber sank leicht und Jennifer wurde ruhiger. Sie fiel in einen tiefen Schlaf. Erschöpft fuhr sich Leon durch die Haare und setzte sich in den Sessel neben dem Bett. Dort übermannte ihn die Müdigkeit und er nickte augenblicklich ein.
Er wachte mit steifem Nacken auf. Erstaunt stellte er fest, dass er in seinem Sessel saß, dann fiel sein Blick auf die Frau in seinem Bett und er erinnerte sich an die vorherige Nacht. Leise erhob er sich und beugte sich zu der Patientin herunter. Sie hatte immer noch Fieber, aber sie schlief ruhig und fest. Leon schlich in seine Küche und kochte sich einen starken Kaffee. Anschließend duschte er heiß und schlüpfte in warme frische Kleidung. Er musste in den Schuppen, um Holz zu holen, es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich durch die Schneemassen vor seiner Haustür zu kämpfen und den Schuppen frei zu schaufeln. Er braucht eine geschlagene Stunde ehe er das Tor des Schuppens öffnen konnte. Schwitzend trug er mehrere Körbe Holz ins Haus und inspizierte anschließend die Sturmschäden. Ein Teil der Fensterläden war abgerissen und die übrigen hingen lose in den Angeln. Später musste er die Läden befestigen und schließen, denn der Himmel versprach noch mehr Schnee. Doch zunächst musste er nach der jungen Frau sehen. Leon hoffte, dass das Fieber nicht wieder anstieg.
Als er sein Schlafzimmer betrat, schaute sie ihn mit glasigen Augen an.
"Guten Tag, können Sie mich hören?" Leon beugte sich zu ihr.
Sie wollte etwas sagen, doch sie brachte keinen Laut aus ihrer Kehle. Leon hob ihren Kopf an und setzte ihr den Becher mit kaltem Tee an die Lippen. Mit gierigen Schlücken trank die Frau und ließ sich anschließend erschöpft zurückfallen.
"Geht es Ihnen besser?" versuchte es Leon noch einmal.
Aber sie starrte ihn nur aus verschleierten braunen Augen an. Leon drückte ihr sanft die Hand und verließ das Zimmer, um sich um die nötigen Reparaturen zu kümmern.
Vier Tage und fünf Nächte hielt das Fieber an. Jennifer bekam von ihrer Umgebung nichts mit. Ihr Hals brannte und ein trockener fester Husten explodierte in ihrer Brust. Leon stützte sie und hielt ihren Kopf, wenn wieder ein Hustenanfall sie schüttelte. Ihre Augen lagen tief in ihren Höhlen und ihre Wangen waren eingefallen. Wenn sie schlief, warf sie sich häufig hin und her und weinte. Unermüdlich versorgte er die Frau und betrachtete besorgt die höher werdenden Schneewände. Sie waren von der Außenwelt abgeschnitten. Das Telefon war tot, die Wege unpassierbar und die Natur schien immer noch nicht müde zu werden, ihre wütende Macht zu demonstrieren.
Es war still. War sie tot? Sie lauschte. Hörte sich so Totenstille an? Sie fühlte ihren Körper. War er wirklich - oder nur eine Erinnerung?
Jennifer zwang sich dazu, die Augen zu öffnen. Sie lag - in einem fremden Bett. Eine dicke Federdecke bedeckt ihren Körper und neben dem Bett spendete eine kleine Lampe sanftes Licht. Sie drehte den Kopf - und erstarrte. In einem Sessel saß ein fremder Mann! Ihr Herz begann zu rasen und Panik drohte sie zu überwältigen. Sie schloss die Augen und bemühte sich ruhig zu atmen, aber ein heftiger Hustenreiz sprengte ihre Brust und sie schnappte krampfhaft nach Luft. Warme Hände hielten sie fest und stützten ihren schmerzenden Körper. Dann wurde sie wieder sanft in die Kissen gedrückt und tiefe blaue Augen blickten sie forschend an.
"Guten Morgen. Wie geht es Ihnen?", fragte der Mann mit sonorer Stimme.
"Wo bin ich?" Jennifer blickte voller Panik in das Gesicht über ihr.
"Sie sind in Sicherheit. Wie heißen Sie?"
"Jennifer. - Jennifer May."
"Gut, Jennifer. Ich bin Leon."
"Wie komme ich hier her?"
"Sie sind von einer Lawine überrollt worden. Aber Sie haben Glück gehabt." Er lächelte nicht, sondern sah ihr ernst in die Augen.
In dem Augenblick fiel ihr alles wieder ein. Sie hatte unterhalb der Berges gestanden, als ein Riesengetöse sie in ihren Gedanken gestört hatte. Sie hatte sterben wollen. Aber dann in dem Schneegrab hatte sie um ihr Leben gekämpft. Leon hatte sie allem Anschein nach gerettet.
"Ich habe Ihnen mein Leben zu verdanken." Es war keine Frage, sondern vielmehr eine Feststellung, wie Leon überrascht wahrnahm.
"Ich habe versucht, Sie auszugraben - was mir auch gelungen ist. Danach waren Sie ziemlich krank - und Sie werden auch ..."- ein heftiger Hustenanfall erschütterte Jennifer und Leon nahm sie wieder in den Arm und hielt ihren Kopf und ihren Bauch. "Sie werden auch noch einige Tage das Bett hüten müssen. Leider können wir niemanden benachrichtigen, dass sie leben und in Sicherheit sind." Er verzog den Mund zu einem grimmigen Lächeln.
"Ich brauche niemanden zu verständigen." Ihr Tonfall und ihre verschlossene Miene machten Leon neugierig. Er forschte in ihren Zügen, aber ihre Augen verrieten nichts.
Achselzuckend drehte er sich um: "Ich mache uns jetzt erst einmal etwas zu essen." Damit verschwand er in der Küche und Jennifer lauschte auf die fremden Geräusche. Leon klapperte mit Töpfen und Besteck, während draußen ein starker Wind herrschte und an den Fensterläden zerrte. Fröstelnd zog Jennifer die Decke höher und kuschelte sich in das warme weiche Bett.
Sie beobachtete ihn, wie er Holz nachlegte. Nach weiteren fünf langen Tagen im Bett konnte sie heute zum ersten Mal vor dem Kamin sitzen. Der Husten klang allmählich ab und das Fieber war verschwunden. Sie trug einen dicken wollnen Pullover und eine alte Jogginghose von Leon. Die Wangen waren hohl und unter den Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Jennifer hatte sich im Bad ausgiebig betrachtet, nachdem sie das erste Mal seit zehn Tagen geduscht hatte. Das heiße Wasser war über ihren Körper geprasselt und hatte sie zugleich belebt und ermüdet. Anschließend wurde sie in eine dicke Wolldecke gewickelt und vor den Kamin verfrachtet. Nun verfolgte sie Leons Bewegungen. Er hatte die Ärmel seines Flanellhemdes hoch gewickelt. Braune, muskulöse Arme kamen dabei zum Vorschein, die in schlanke, starke Hände mündeten. Seine breiten Schultern strahlten Sicherheit aus und in sein langes blondes Haar hätte Jennifer zu gerne mal hineingegriffen. Aber Leon war unnahbar. Er schenkte ihr seine Aufmerksamkeit, wenn sie husten musste oder sonst etwas brauchte, aber ansonsten war er zurückhaltend, fast schon unhöflich. Auch jetzt hockte er schweigend vor dem Feuer und schürte mit dem Haken in der Glut.
Plötzlich drehte er sich um. Seine unglaublich blauen Augen starrten sie wütend an: "Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, allein bei dem Wetter in die Berge zu wandern?"
Jennifer musste erst einmal zwinkern, weil sein Angriff sie so überraschend traf.
"Ich, - ich wollte allein sein." Sie schob trotzig ihr Kinn vor.
"Allein? - Und dafür geht man einfach so in die Berge!" Er trat jetzt ganz dicht vor sie. "Ist Ihnen klar, dass Sie nicht nur sich, sondern auch andere damit in Gefahr gebracht haben?"
"Jetzt ist mir das klar. Aber das war nicht in meiner Absicht. Ich wollte sterben", fügte sie leise hinzu.
"Was?"
"Ich sah keinen Sinn mehr in meinem Leben."
Der traurige Schimmer in ihren Augen ließ seine Wut verrauchen und Leon hockte sich vor ihren Sessel.
"Warum?"
"Weil mein gesamtes Leben mit einem Schlag ausgelöscht wurde." Ihr Kinn begann zu zittern und eine dicke Träne löste sich aus ihrem Auge.
Leon fing die Träne mit seinem Daumen auf. "So schlimm?"
"Mhm."
"Wollen Sie es mir erzählen?" Seine unergründlichen Augen bohrten sich in ihren Blick.
"Ich habe die beiden erwischt."
Jennifer wischte sich unwirsch die Tränen mit einem Ärmel von den Wangen. Leon ließ sich auf das Fell vor dem Kamin nieder und blickte sie einfach wartend an. Bilder aus der Vergangenheit stiegen in Jennifer wie ein alter Film auf. Sie sah sich mit Roland an der Elbe spazieren gehen. Händchen haltend hatten sie Zukunftspläne gemacht. "Ich war verlobt mit dem Geschäftsführer des Unternehmens. Mir gehörten zu der Zeit fünfzig Prozent der Firma und der Geschäftsführer verfügte über zwanzig Prozent. Der Rest gehört - auch heute noch - einer Aktiengesellschaft. Ich bin Unternehmensberaterin." Sie starrte eine Zeit lang schweigend in die Flammen. Sie war auf Geschäftsreise gewesen und freute sich, dass sie früher als erwartet heimfahren konnte. In einer Woche würden sie heiraten und sie würden gemeinsam ein Leben aufbauen, geprägt von Geborgenheit und geschäftlichem Erfolg. So hatten sie es sich immer vorgestellt. An diesem Tag schloss Jennifer die Wohnungstür auf und roch bereits das fremde Parfum. Leise schob sie die Tür auf und schlüpfte durch den Spalt - wie ein Eindringling - dabei war es ihre Wohnung! Sie schlich auf Zehenspitzen - wie magisch angezogen - zum Schlafzimmer. Die Tür stand einen Spalt weit offen und sie hörte Rolands Stimme: "Liebling, in einer Woche werde ich zwar heiraten, aber das ist die Basis für unsere Zukunft! Jennifer wird mir ihre Anteile der Firma übertragen, weil sie sich mit Sicherheit aus dem Geschäft zurückziehen wird. - Sie will Kinder." Ein weibliches Kichern folgte. "Dann gehören mir siebzig Prozent und ich habe die uneingeschränkte Macht im Unternehmen. Ich werde es leiten und Du wirst meine persönliche Assistentin." Ein Schnurren und das Geräusch eines tiefen Kusses waren zu hören. Die Frauenstimme hauchte: "Wir werden häufig auf Geschäftsreise gehen müssen." "Da hast Du Recht."
Jennifer fuhr sich über die Augen und blickte zu Leon: "Dann habe ich leise den Rückzug angetreten, vom Handy aus die Hochzeit beim Standesamt und beim Pfarrer abgesagt - die dreihundert geladenen Gäste habe ich Roland überlassen - habe mich in den Wagen gesetzt und bin einfach losgefahren. Erst bei der kleinen Pension ‚Sonne' unten im Ort habe ich angehalten und nach einem Zimmer gefragt."
"Dann haben Sie sich einen Skianzug und Stiefel besorgt, um Ihrem Leben ein Ende zu bereiten?" Seine Stimme klang befremdet und vorwurfsvoll.
"Ich sah keinen Ausweg mehr. Zunächst wollte ich nur allein sein." Ein entschuldigendes Lächeln spielte um ihren Mund. "Dann - als die Gedanken nicht mehr aufhörten, wollte ich nicht mehr leben. Ich hörte das Donnern der Lawine und stand wie gelähmt einfach da und wartete. Als ich schließlich in der Lawine zu mir kam, kämpfte ich um mein Leben." Sie verschränkte ihre Hände ineinander und blickte unter sich. "Ich danke Ihnen." Schüchtern hob sie den Blick und lächelte Leon zaghaft an.
Leon erhob sich ruckartig: "Ich mach uns jetzt Mittagessen und anschließend werden Sie oben im Gästezimmer ausruhen."
Leon führte sie die schmale Holzstiege in die obere Etage. Jennifer stellte fest, dass die Hütte eher ein Blockhaus war. Im Erdgeschoss befand sich das geräumige Wohnzimmer, eine praktische Küche, ein kleines Bad und Leons Schlafzimmer. Hier oben gingen verschiedene Türen von dem engen Flur ab. Vor der letzten blieb Leon stehen und öffnete sie: "Hier ist Ihr Zimmer."
Jennifer trat ein und staunte. Ein Himmelbett stand an einer Wand des Raumes, der im Stil der alten Siedler eingerichtet war. Um die kleinen Fenster hingen geblümte Gardinen und bei besserem Wetter musste man eine unglaublich schöne Aussicht über die Bergwelt von hier aus haben. Sie drehte sich um: "Danke. Es ist wunderschön."
Leon nickte nur und zog die Tür hinter sich leise ins Schloss.
Jennifer ging erst einmal auf Erkundungstour. Gegenüber dem Bett war eine schmale Tür in die Wand eingelassen. Sie stieß sie auf und stand in einem klitzekleinen Bad, von dem eine Tür wieder auf den Flur führte. Sogar eine Dusche war dort und Leon hatte weiche Handtücher auf das Waschbecken gelegt. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass noch keine Wetterbesserung in Sicht war und sie fragte sich, wie lange sie Leons Gastfreundschaft noch strapazieren musste. Schließlich legte sie sich in die warmen Decken des Bettes und schlief auf der Stelle ein.
Leon lief unruhig im Wohnzimmer auf und ab. Diese junge Frau machte ihn nervös. Er wollte wieder allein sein. Doch gefangen in der Schneewüste würden sie noch einige Tage - vielleicht sogar Wochen - miteinander auskommen müssen. Um die Vorräte machte er sich keine Gedanken, aber die Nähe zu ihr erdrückte ihn.
Schließlich setzte er sich an seinen Schreibtisch und begann zu schreiben. Die Tasten seines Laptops klackerten unter seinen flinken Fingern und das vertraute Geräusch beruhigte ihn allmählich. Die Geschichte floss aus seinem Innern heraus und er vergaß Zeit und Raum. Vor seinem inneren Auge entstanden Bilder von Tieren und Umgebungen. Die Dialoge reihten sich organisch in das Gesamtgeschehen und Leon freute sich, seine Bilderbuch - Freunde zu treffen und fühlte sich glücklich.
Irgendwann tauchte er wieder in der Realität auf. Die Stille, die ihn umgab, wurde hörbar und er stand auf, streckte seine steifen Glieder und zwinkerte erstaunt, als er merkte, dass es bereits dunkel geworden war. Er würde Tee kochen und dann nach seinem Gast sehen. Der Geruch frisch aufgebrühten Tees lag in der Luft und er deckte den Tisch mit Brot, Wurst und Käse. Dann ging er leise in das obere Stockwerk. Sachte klopfte er an die Tür von Jennifers Zimmer. Als sie sich nicht rührte, stieß er beunruhigt die Tür auf und trat ein. Im Zimmer war es stockdunkel und unheimlich still. Leon tastete nach dem Lichtschalter und knipste die Deckenlampe an, die den Raum in schwaches Licht tauchte. Leon stellte sich neben das Bett und beugte sich zu Jennifer. Sie lag friedlich schlafend wie ein Kind in die Decken gehüllt mit rosigen Wangen und entspannten Gesichtszügen. Leon spürte ein Ziehen in der Magengegend und er strich zärtlich eine braune Haarsträhne aus Jennifers Gesicht. Sie regte sich, drehte sich auf den Rücken und streckte die Arme unter der Decke hervor. Sie reckte sich und öffnete schließlich die Augen. Sie grinste Leon fröhlich an: "Oh, habe ich gut geschlafen. Ich habe entsetzlichen Hunger."
Leon betrachtete erstaunt das freche Glitzern in Jennifers Augen. Sie schien sich sichtlich zu erholen und weitere Facetten ihrer Persönlichkeit ans Tageslicht zu bringen. Blitzschnell warf sie die Bettdecke zurück und sprang mit einem Satz vor das Bett. Sie hatte die Schwäche ihres Kreislaufs nicht berücksichtigt und schwankte unsicher auf ihren wackeligen Beinen. Geistesgegenwärtig ergriff Leon ihren Arm: "Langsam. Sie müssen sich noch in acht nehmen!", brummte er. Als sie sich wieder gefangen hatte, ließ er sie abrupt los und drehte sich um. Bei der Tür sagte er nur: "Das Essen steht auf dem Tisch."
Kopfschüttelnd folgte Jennifer ihrem Gastgeber. Sie fragte sich, warum er so wechselhaft war.
Sie wartete seit Stunden auf ihn. Er war nach dem Mittagessen aufgebrochen, um nach der Straße zu sehen. Er hatte seinen dicken Anorak übergeworfen, die schweren Stiefel angezogen und eine wollne Mütze tief ins Gesicht gezogen. In seinem Rucksack transportierte er Tee und Socken zum Wechseln. Nun saß Jennifer am Fenster und versuchte in der Dämmerung etwas zu erkennen. Aber der Schneefall hatte noch immer nicht nachgelassen und so war jedes Ausspähen zwecklos.
Sie kochte Tee. Mit der Tasse in der Hand schlenderte sie durch das Wohnzimmer. In einer Ecke stand ein alter zerkratzter Schreibtisch, der mit Papieren, einem Laptop, Bleistiften, Radiergummis und Kleinkram übersät war. Der Tisch stand unmittelbar vor einem Fenster, so dass bei gutem Wetter die Sonne direkt auf die Platte fallen musste. Der Stuhl, der davor geschoben war, wies Spuren von Tinte und Kaffeeflecken auf. Neugierig ließ Jennifer ihren Blick über das Sammelsurium schweifen, als er an einem Stapel Schriftstücken hängen blieb. Wie von einem Sog angezogen, begann sie zu lesen: eine Kindergeschichte. Langsam sank Jennifer auf den Stuhl, stellte die Tasse ab und griff nach dem Papierhaufen. Sie zog ihn vor sich und tauchte in eine friedliche humorvolle Welt, in der Tierkinder miteinander lebten und spielten und weise Alttiere sie erzogen und liebten. Der Hauptprotagonist war ein kleiner Bär und Jennifer erkannte die Serie: ‚Petzo - Ein kleiner Bär entdeckt die Welt.' Leon war ein berühmter Kinderbuchautor! Die Minuten verrannen und wurden zu Stunden, aber Jennifer nahm von all dem nichts wahr. Sie vertiefte sich in die Geschichte und in ihrem Kopf entstanden Bilder.
Als Leon nach Hause kam, wachte sie wie aus einem Trancezustand auf und wandte ihm den Kopf zu: "Es ist wunderschön!" Ihre Augen waren ganz glasig und ein kindliches Lächeln spielte um ihre Mundwinkel.
Leons Augen verdunkelten sich zu einem Gewittergrau. Er blieb mitten im Zimmer stehen und starrte unverwandt zu Jennifer.
Sie bemerkte seinen Blick und eine steile Falte zeigte sich über ihrer Nase.
"Was fällt Ihnen ein, in meinem Sachen zu schnüffeln?" Seine Stimme donnerte durch den Raum.
"Ich - entschuldigen Sie - ich hätte erst fragen müssen, aber ich habe die erste Seite gesehen und da - da war ich schon vertieft in Ihre Geschichte. Ich habe die Zeit vergessen!" Sie lächelte ihn entschuldigend an.
"Machen Sie das nie wieder! Haben Sie verstanden?" Sein Blick bohrte sich in ihren und sie glaubte innerlich verbrennen zu müssen.
Fluchtartig stürzte Jennifer an ihm vorbei und lief mit pochendem Herzen die Treppe hinauf, wo sie im Gästezimmer verschwand und mit zitternden Händen die Tür ins Schloss drückte.
Leon war mit drei großen Schritten beim Schreibtisch. Er schob die Blätter sorgfältig zusammen und legte sie wieder auf einen ordentlichen Stapel neben den Computer. Niemals mehr würde eine Frau seine Kinderbücher belächeln! Seine kleinen Leser verstanden ihn und liebten die Protagonisten seiner Geschichten. Aber Erwachsene hatten den Blick für das Wesentliche häufig verloren und er wollte sich die Welt, die er geschaffen hatte, unter keinen Umständen zerstören lassen.
Während Leon sich umzog, das Feuer schürte und Abendbrot zubereitete, saß Jennifer zitternd in einem Schaukelstuhl, den Leon ihr am vorherigen Tag ins Zimmer geschafft hatte. Sie hatte sich in eine Wolldecke gewickelt und wiegte sich hin und er. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen, weil sie sich so entsetzlich einsam fühlte. Sicher, es war falsch und unhöflich gewesen, in Leons Sachen zu lesen, aber sie hatte ihren Fehler zugegeben und sie verstand seine harsche Reaktion nicht. Seine blauen Augen waren fast schwarz gewesen und er hatte eine unbändige Brutalität ausgestrahlt, wie er sich vor ihr aufgebaut hatte. Was war das für ein Mann? Einerseits war er humorvoll und freundlich, wie man in seinen Büchern lesen konnte, er war fürsorglich - das hatte sie am eigenen Leib erfahren, er konnte gut zuhören und er war - verschlossen. Er gab nichts über sich selbst preis. Er lebte zurückgezogen und sie war in seine Welt eingedrungen. Jennifer hielt inne, als sie diesen Gedanken näher betrachtete. Wahrscheinlich war sie Leon eine größere Last, als sie ohnehin schon vermutet hatte. Sie musste sich unbedingt erkundigen, ob die Straßen und Wege wieder passierbar waren, damit sie ihn verlassen konnte. Ein Blick aus dem Fenster nahm ihr allerdings diese Hoffnung, der meterhohe Schnee wurde durch den starken Wind ans Fenster geweht und hinterließ seine weißen, unerbittlichen Spuren.
Sie saß im Dunkeln, als Leon leise das Zimmer betrat. Sie hatte auf sein Klopfen nicht reagiert und er hatte einfach die Tür geöffnet. Den Rücken der Tür zugewandt, wiegte sie sich im Stuhl gleichmäßig sanft hin und her. Eine warme Wolldecke lag um ihren Körper und ihr braunes Haar war zu einem Zopf im Nacken mit einem Baumwollfaden, den sie sicher irgendwo gefunden hatte, zusammengebunden. Sie rührte sich auch nicht, als die Dielen unter seinen Tritten knarrten. Leon ging zu ihr und trat neben den Schaukelstuhl.
"Ich habe Tee gekocht. Wollen Sie auch etwas essen?"
Jennifer schüttelte nur stumm den Kopf und Leon stellte die Tasse auf die Kommode. Unsicher wischte er sich die Hände an seiner Jeans ab und steckte sie anschließend in die Hosentaschen. Jennifer blickte starr geradeaus.
"Es tut mir leid, dass ich Sie so angebrüllt habe." Seine Stimme war sanft und dunkel.
Als Antwort hob Jennifer nur den Blick. Ihr Kinn begann zu zittern und sie musste sich auf die Lippe beißen, um nicht wieder zu weinen.
Leon zuckte hilflos mit den Schultern: "Ich geh dann mal wieder. Wenn Sie Hunger bekommen, dann finden Sie in der Küche etwas. Gute Nacht."
Jennifer nickte kaum merklich und Leon verließ mit schlechtem Gewissen das kleine Gästezimmer.
Am anderen Morgen, als Jennifer die Treppe herunterkam, hatte Leon bereits das Haus verlassen. Ein Zettel auf dem Tisch teilte ihr mit, dass er vermutlich nachmittags wieder da sein würde. Er sei auf Jagd und wolle außerdem nach den Straßen sehen. Die Einsamkeit, die die junge Frau umgab, war hörbar und spürbar und fröstelnd zog Jennifer ihren Pullover enger um sich. Nach dem Frühstück spülte sie das Geschirr, schürte das Feuer und putzte das Bad. Doch die Zeit verging nur schleichend. Sie legte ihr Bett aus - in sein Zimmer ging sie nicht -, fegte das Wohnzimmer und setzte sich schließlich erschöpft vor den Kamin. Ihr stand immer noch der lange Tag vor Augen, dessen Stunden dahin zu tröpfeln schienen. Wann würde Leon zurückkommen? Was sollte sie in der Zwischenzeit machen?
Plötzlich tauchten die Bilder, die durch das Lesen des Kinderbuches in ihr entstanden waren, wieder vor ihrem inneren Auge auf. Sie hatte früher viel gemalt, aber wegen ihres Berufes und wegen Roland die Sache aufgegeben. Ob sie es vielleicht noch beherrschte?
Jennifer schlich zum Schreibtisch, nahm von dem Stapel weißen Papiers und schnappte sich einige Bleistifte und ein Radiergummi. Grimmig dachte sie an die bevorstehende Schelte, aber der Drang, ihre Bilder entstehen zu lassen, war größer als die Angst vor einem erneuten Zornesausbruch ihres Gastgebers.
Der Bleistift flog zügig übers Blatt. Sie ließ den kleinen Bären zum Leben erstehen, gab seinen Spielkameraden ein Gesicht und malte die Landschaft und den Himmel. Sie merkte gar nicht, wie die Zeit verging. Immer wieder spitzte sie den Stift, wechselte zwischen weichen und härteren Minen und gab der gesamten Geschichte eine bildhafte Gestalt. Die Zunge konzentriert zwischen die Lippen geschoben, die Augenbrauen leicht zusammengezogen und die Füße unter den Po geklemmt saß sie am Esstisch, als Leon nach Hause kam. Sie hörte ihn nicht. Verwundert blickte Leon zu ihr hin. Sie saß über den Tisch gebeugt, aber er konnte ihr Gesicht nicht erkennen, weil eine einzelne Haarsträhne über ihre Wange gefallen war. Leise trat er zu ihr und starrte gebannt auf die Zeichnungen, die auf dem Tisch verstreut lagen. Er erkannte all seine Protagonisten und sie hatte sie mit menschlichen Zügen versehen. Petzo hatte seine Gesichtszüge! Fasziniert beobachtete Leon, wie sie eine neue Figur aufs Papier brachte und er konnte noch nicht einmal böse sein, dass sie seinen Lieblingsbleistift, den ihm ein kleiner Leser geschenkt hatte, bis auf einen Stumpen abgespitzt hatte. Das Rascheln seines Anoraks neben ihrem Ohr ließ sie aufschrecken und sie starrte Leon mit weit aufgerissenen Augen an. Er lächelte nur und griff nach einem der Blätter: "Sie haben mich gemalt."
Eine leichte Röte überzog Jennifers Gesicht, aber sie nickte tapfer.
"Die Eule - wer ist das?"
"Das ist eine Lehrerin von mir, die ich sehr gerne gemocht habe."
"Frau Eule stellt auch meine Lieblingslehrerin dar." Leon legte das Blatt zurück und schaute Jennifer tief in die Augen: "Sie haben mich besser erkannt, als jemals jemand vor Ihnen."
"Ich habe nur das gemalt, was ich aus Ihrem Buch gelesen habe." Jennifer rutschte auf ihrem Stuhl hin und her.
"Sie haben es verstanden." Mit diesen Worten drehte sich Leon um, um sich umzuziehen und ließ eine völlig verblüffte Jennifer zurück.
Später saßen sie vor dem Kamin. Die Flammen tauchten alles in sanftes Licht und das Knacken des Holzes war das einzige Geräusch, das die Stille unterbrach. Leon wandte sich an Jennifer: "Woher können Sie so gut malen?"
"Ich habe schon immer gerne gemalt. Schon als Kind. Und wie sind Sie darauf gekommen zu schreiben?"
Leon nahm sich Zeit für eine Antwort und Jennifer befürchtete schon, er würde sie wieder ohne Auskunft abspeisen. "Ich habe früher auch schon geschrieben - Krimis für Erwachsene - unter einem Pseudonym. Aber irgendwann habe ich mich entschieden für die ehrlichsten aller Menschen zu schreiben, für Kinder."
"Sie schreiben wunderbar. So, als ob Sie einem Kind persönlich die Welt erklären und selbst dabei die Welt noch einmal neu entdecken."
Beschämt guckte Leon in die Flammen. "Warum malen Sie nicht mehr?" Abrupt wechselte er das Thema.
"Wie kommen Sie darauf?"
"Ich nehme nicht an, dass Sie neben Ihrem Beruf Zeit dazu haben."
"Sie haben Recht. Ich hatte das Zeichnen bereits aufgegeben, als ich die Gelegenheit gehabt hätte, etwas daraus zu machen."
Leon hob nur fragend eine Braue.
"Mein Vater hatte für mich große Pläne. Ich sollte sein Unternehmen übernehmen, dazu musste ich Betriebswirtschaft studieren. Als ich das Studium absolviert hatte, starb er und hinterließ mir eine gut gehende Firma. Ich war verpflichtet - dachte ich."
"Warum haben Sie sich nicht gewehrt?"
"Ich war die einzige Tochter. Meine Mutter starb, als ich noch sehr klein war und er hatte nur mich. Ich wollte ihm nicht wehtun."
"Das kann ich verstehen. Und jetzt?" Leon blickte ihr in die Augen.
"Ich weiß es noch nicht. - Was ist mit Ihnen?"
"Ich schreibe. Und Sie sollten Kinderbücher illustrieren."
"Das war immer mein Wunsch," kam die leise Antwort.
"Worauf warten Sie?"
"Ich weiß es nicht."
"Warum haben Sie Petzo meine Züge gegeben?" Neugierig forschte Leon in ihrem Gesicht.
"Weil Ihr Sohn Ihnen ähnlich sehen muss."
Leon erstarrte und Jennifer fragte sich, was sie nun schon wieder falsch gemacht hatte.
"Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber Sie erklären doch die Welt einem Kind - und ich hatte das Gefühl, dass es Ihres sein sollte."
"Sie haben Recht." Leon schloss die Augen. Qualvolle Minuten, in denen das Schweigen mehr sagte als tausend Worte, vergingen. Dann endlich begann Leon: "Ich - - war mit einer blonden schönen Frau zusammen. Sie wollte Mannequin werden. - Als sie schwanger wurde, war ich aus dem Häuschen und wollte sie heiraten. Aber sie mich nicht. Sie wollte Karriere machen. Ich hatte auch nichts dagegen. Als Schriftsteller konnte ich auch zu Hause arbeiten und mich um das Kind kümmern. Aber sie lehnte eine Heirat ab. - Ich bat sie, mir das Kind zu überlassen, sobald es auf der Welt war. Aber sie - - sie ließ es abtreiben - ohne mein Wissen und hat es mir hinterher gesagt. Sie hat mein Kind getötet!" Ein Schluchzen schüttelte Leon und Jennifer legte einfach ihren Arm um ihn, um ihm Trost und Halt zu geben.
"Ich habe meinen Sohn in meinen Büchern zum Leben erweckt und versuche so anderen Kindern die Liebe, die ich ihm nicht geben kann, zu schenken."
"Sie machen viele Kinder glücklich."
Leon stand auf, um Holz nachzulegen. "Sie hat mich für meine Bücher ausgelacht."
"Sie hat Sie nicht verstanden." Jennifer strich ihm zärtlich über die Wange. Leon legte seinen Kopf schräg und lehnte seine Stirn an Jennifers; so standen sie eine Weile und gaben sich gegenseitig Trost und Verständnis.
Am nächsten Morgen wurde Jennifer durch einen Sonnenstrahl geweckt. Sie schwang sich aus dem Bett und lief zum Fenster. Ein atemberaubender Anblick bot sich ihr: Ein azurblauer Himmel spannte sich über die verschneite Landschaft, die am Horizont durch eine Bergkette begrenzt war. Ein Adler schwebte über einem Schneefeld und veranlasste einen Schneehasen blitzschnell die Flucht zu ergreifen. Es war ein Glitzern und Leuchten über der Landschaft, das fast unecht wirkte. Schnell zog sich Jennifer an und huschte die Treppe hinunter. Der Duft frischen Kaffees stieg ihr in die Nase und auf dem Tisch stand ein Teller mit frisch gebratenem Schinken. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, als sie sich auf der Bank hinter dem Tisch niederließ. Leon kam mit zerzaustem Haar aus der Küche und schenkte ihr Kaffee ein: "Guten Morgen. Haben Sie Lust nachher ein Stündchen hinaus zu gehen?"
"Oh, ja!" Jennifers dunkle Augen strahlten.
"Dann sollten Sie jetzt kräftig zulangen, damit Sie bei Kräften bleiben." Leon nahm ihr gegenüber Platz und griff im selben Moment wie Jennifer in den Brotkorb. Ihre Hände trafen sich und sie zuckten beide blitzartig zurück. Dann vernahm Jennifer nur ein Glucksen und als sie den Blick hob, löste sich ein warmes volles Lachen aus Leons Brust. Erstaunt starrte Jennifer ihren Gastgeber einen Augenblick an, ehe sie in das befreiende Lachen einstimmte.
Nach dem Frühstück rüsteten sie zu einer Wanderung. Leon öffnete die Tür und ein Schwall kalter, frischer Luft strömte ihnen entgegen. Jennifer musste trotz Sonnenbrille zwinkern, der Schnee reflektierte die Sonne so stark, als würde sie direkt in Scheinwerfer blicken. Leon schulterte seinen Rucksack und schob dann seinen Arm unter Jennifers Ellbogen. Er hatte bereits vor der Hütte Schnee geschoben, so dass ein Gang zwischen mannshohen Schneemauern entstanden war. Jennifer legte den Kopf in den Nacken und stieß einen Jauchzer aus. Lächelnd zog Leon sie weiter und sie stapften durch den hohen Pulverschnee Richtung Gletscher.
Nach einer Weile blieb Leon stehen und holte sein Fernglas aus dem Rucksack. Sein Blick streifte die Bergkette vor ihnen und er beobachtete einen Adler, der majestätisch seine Kreise zog. Dann reichte er den Feldstecher an Jennifer weiter.
"Dort drüben", er wies mit einer Hand auf einen Berg, "dort haben Sie gestanden, als die Lawine abging und dahinten", Jennifer folgte seinem Finger, "sind Sie gelandet."
Ungläubig starrte Jennifer auf die Entfernung zwischen dem Berg, wo sie zuletzt gestanden hatte, ihrem Fundort und dann auf den langen Weg, der zu Leons Haus führte. Langsam setzte sie das Glas ab und wendete sich ihrem Retter zu: "Das war ein Wunder!"
Leons Augen strahlten so blau wie der Himmel: "Ich wurde von einer höheren Macht getrieben. Ich glaube auch, dass es ein Wunder war."
Jennifer reichte ihm das Fernglas, das Leon wieder verstaute, ehe sie ihren Weg durch die traumhafte Landschaft fortsetzten. Die Sonne wärmte ihre Gesichter und ein rosiger Schimmer überzog Jennifers blasse Wangen.
Nach etwa einer Stunde blieb Leon erneut stehen. Er tastete den Untergrund am Wegesrand ab und klopfte zufrieden auf einen Felsen. Schnell fegte er die Schneedecke hinunter, stellte seinen Rucksack ab und löste die Schnüre: "Kommen Sie, es ist Brotzeit."
Jennifer, die den Ausblick genossen hatte, drehte sich glücklich lächelnd um: "Ich habe wirklich Hunger."
Leon reichte ihr eine Schnitte, die dick mit Schinken belegt war. Belustigt beobachtete er seine Begleiterin, die genussvoll in die Stulle biss und langsam kaute. Sie hatte die Augen hinter der Brille geschlossen und streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Leon setzte sich auf den Felsen: "Nehmen Sie Platz, wir haben noch ein ganz schönes Stück Weg vor uns."
Jennifer gehorchte und hockte sich, gegen Leon gelehnt, auf die schneebedeckte Sitzgelegenheit.
Die Sonne strahlte in unvermindertem Glanz vom Himmel, als die beiden Wanderer das Blockhaus wieder erreichten. Leon wollte gerade die Haustür öffnen, als ihn ein Schneeball am Rücken traf. Langsam setzte er den Rucksack ab, drehte sich um und griff blitzschnell in den Schneehaufen neben dem Eingang. Kreischend lief Jennifer davon, bemüht selbst neue Schneegeschosse zu produzieren um Leon damit zu bombardieren. Ihre helle fröhliche Stimme mischte sich mit Leons warmem Bariton und spiegelte die Heiterkeit der Landschaft wider. Sie tollten wie Kinder im Schnee, bewarfen sich mit Kugeln oder traten gegen Schneeverwehungen. Irgendwann ließ sich Jennifer in den Schnee auf den Rücken fallen. Sie spreizte und schloss ihre Beine und beschrieb mit ihren Armen Halbkreise um ihren Körper.
"Hilf mir mal auf!" Sie streckte Leon die Arme entgegen und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen. Dann drehte sie sich um und betrachtete befriedigt ihren Engel. Leon legte sich neben die Stelle und fabrizierte ebenfalls einen Himmelsboten. Als er sich ein weiteres Mal auf den Rücken legen wollte, stürzte sich Jennifer mit einer Hand voll Schnee auf ihn und seifte ihn ein. Sie rollten sich auf der Erde und rangen miteinander, bis sie atemlos in den Schnee zurücksanken. Plötzlich lagen sie in einer engen Umarmung nebeneinander. Leon hob den Blick und seine strahlend blauen Augen bohrten sich in Jennifer braune. Die Zeit schien still zu stehen. Dann senkte er langsam seinen Mund auf Jennifers kühle Lippen, ohne den Blick von ihr zu nehmen und küsste sie zärtlich und lang.
Sie gingen Hand in Hand zurück zum Haus. Leon öffnete die Tür, stellte den Rucksack neben seine Schuhe und zog seinen Anorak aus. Jennifer schälte sich aus ihrem Skianzug und hängte die nassen Sachen über den Herd. Keiner von beiden sprach ein Wort. Langsam kam Jennifer zurück ins Wohnzimmer, wo Leon das Feuer geschürt und Holz nachgelegt hatte. Er stand auf und trat auf sie zu. Jennifer hob den Blick, ihre Lippen waren leicht geöffnet und er senkte den Kopf. Vorsichtig strich er mit seinem Mund über ihre Lippen und Wangen. Jennifer stand ganz still, fühlte der ungewohnt zärtlichen Berührung nach und genoss den Augenblick. Dann hob Leon seine Arme und streichelte sanft an ihren Armen auf und ab, während seine Lippen ihre suchten und ein behutsames Spiel mit ihnen begannen. Schließlich schlang Jennifer Halt suchend ihre Arme um seinen Hals. Seine Hände fuhren genüsslich ihre Seiten auf und ab, bis sie unter ihrer Brust verweilten. Stöhnend lehnte sich Jennifer an ihn und drängte sich gegen seinen Körper. Vorsichtig legte Leon Jennifer auf das Fell vor dem Kamin. Ihre alabasterfarbene Haut hob sich im Feuerschein von seinem gebräunten Körper ab. Er fuhr mit den Fingern die Linien ihres weichen Körpers nach und spürte ihr Herzklopfen. Sie war so zart und gleichzeitig so stark, dass es ihm fast den Atem nahm. Sie erforschten einander, gaben und nahmen in atemloser Spannung, bis sie eins wurden.
Leon wachte vor Sonnenaufgang auf. Der Platz neben ihm war leer und er war dankbar dafür. Jennifer und er waren zwei erwachsene Menschen, die die gemeinsame Zeit genießen wollten und es auch taten. Es sollten keine Versprechen oder Verpflichtungen zwischen Ihnen stehen, die ihnen Schwierigkeiten bereiten würden, sobald Jennifer abreisen konnte. Deshalb war es besser, wenn sie die Nächte getrennt schlafen würden, damit keine zu große Vertrautheit entstehen konnte. Genüsslich gähnend streckte er die Arme unter der Decke hervor, schaltete die kleine Nachttischlampe ein und guckte auf den Wecker. Mittlerweile zeigte er fast sechs Uhr an und Leon beschloss, aufzustehen, ein gutes Frühstück vorzubereiten und anschließend Holz hacken zu gehen. Während er in der Küche wirtschaftete, trat Jennifer hinter ihn und legte ihre Arme von hinten um seine Taille. Sie drückte ihr Gesicht an seinen Rücken und schnurrte wie eine Katze. Lächelnd wandte sich Leon ihr zu und gab ihr einen freundschaftlichen Kuss.
"Gut geschlafen?"
"Danke. So gut habe ich seit langem nicht mehr geschlafen. Und Du?"
"Ich habe auch wunderbar geruht. Was hast Du heute vor?" Leon drehte sich wieder um und gab Wasser in den Filter.
Jennifer schob sich die Haare aus dem Gesicht: "Ich möchte gerne wieder raus gehen und vielleicht könnte ich ja noch ein wenig malen."
"Prima Idee. Du findest hinten im Wohnzimmerschrank sämtliche Bände meiner Kinderbücher, falls Du Dich davon inspirieren lassen willst."
Erstaunt starrte Jennifer Leon mit offenem Mund an. Er lächelte nur: "Du kannst Deinen Mund wieder zumachen. Du bist der einzige Erwachsene, der meine Bücher richtig versteht, also wirst Du in den Fanclub aufgenommen und darfst auch alles lesen."
Ein breites Grinsen zeigte sich auf Jennifers Gesicht: "Danke. Das ist mir eine große Ehre!" Mit diesen Worten wirbelte sie herum und verschwand unter der Dusche.
Leon wunderte sich über sich selbst. Er hatte seit Jahren keinem Menschen mehr so viel Einblick in sein Leben gewährt wie dieser jungen Frau, der er das Leben gerettet hatte.
Die Tage vergingen in entspannter Gleichförmigkeit ohne langweilig zu werden. Jennifer malte vormittags. Nachmittags nutzten sie das gute Wetter, um spazieren zu gehen. Leon zeigte ihr immer neue Gegenden mit wilden Tieren, die in der Bergwelt zu Hause waren. Sie staunte und konnte sich wie ein Kind freuen, sie hielt den Atem an, wenn ein Hase in der Nähe war und jauchzte hinterher, wenn sie wieder alleine waren, vor Freude auf. Wenn sie sich abends geliebt hatten, verschwand sie in ihr kuscheliges Zimmer, wo sie in Leons Büchern schmökerte oder mit offenen Augen träumte. Dann hörte sie auch das Klackern der Tastatur, wenn Leon an seinem Laptop saß und arbeitete. Sie hatten nie darüber gesprochen, aber es war wie eine Abmachung zwischen ihnen, dass sie niemals zusammen einschliefen. Jennifer fühlte sich deshalb manchmal ein wenig verlassen, aber sie ermahnte sich, sich nicht an Leon zu klammern, der ihr die schönste Zeit ihres Lebens bescherte. Wenn sie so dalag, spürte sie, dass sie wirklich glücklich war.
Es war Mitte März, als der Schnee soweit getaut war, dass ein Passieren der Straßen wieder möglich wurde. Jennifer wurde unruhig und Leon dachte, sie wolle nach Hause. Wenn es nach ihm ginge, dann konnte sie noch ein wenig bleiben, er genoss ihre Gesellschaft, wie er sich erstaunt eingestand. Er verstand aber auch ihren Wunsch in den Alltag zurückzukehren und ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. Er war froh, dass sie vernünftig war und keine falschen Ansprüche an ihn stellte, die er nicht erfüllen wollte und konnte.
Als er eines Morgens das Haus verließ, um die Straßen zu kontrollieren, wusste Jennifer bereits, dass der Abschied bevorstand. Sie legte sich ihren Skianzug zurecht und stellte die Stiefel ans wärmende Feuer. Dann ging sie in die Küche um zum letzten Mal für sie beide zu kochen. Am Tag zuvor hatte Leon einen Hasen geschossen, den sie nun vorbereitete. Sie schälte Kartoffeln und Karotten, würzte das Fleisch und briet es kräftig an. Dann setzte sie Kartoffeln und Gemüse auf, deckte den Tisch festlich mit Kerzen und schönen Gläsern, die sie im Wohnzimmerschrank entdeckt hatte und schürte das Feuer. Am Fenster neben ihrem Platz zeigten sich wunderschöne Eisblumen und Jennifer strich zärtlich über die Gebilde, die so verschiedenartig glitzerten und sie traurig werden ließen. Sie würde die Bergwelt - und Leon - vermissen. Schnell wandte sie sich um, schaute in der Küche nach dem Rechten und verschwand anschließend im Bad, um sich noch einmal ausgiebig zu pflegen. Sie wusch ihr Haar, cremte sich nach dem Duschen mit Leons Körperlotion ein und feilte ihre Nägel. Dann schlüpfte sie in eines von Leons Hemden und eine seiner Hosen, die sie wie immer mit einem Band festschnürte, und setzte sich mit einem seiner Bücher vor den Kamin, um auf seine Rückkehr zu warten.
Leon kam am frühen Abend zurück. Er war bis zur Straße gelaufen, dann wieder zurück und hatte die Zufahrt mit einem Schneeschieber von Hand freigeschaufelt. Seine Schultern schmerzten von der Anstrengung und seine Wangen brannten von der Kälte. Als er das Blockhaus betrat, genügte ein Blick auf Jennifer und die festlich gedeckte Tafel, um ihm zu zeigen, dass sie bereits mit ihrer Abreise rechnete. Ein Stich in seiner Herzgegend irritierte ihn und er beschäftigte sich schnell mit seinem Anorak und seinen schweren nassen Stiefeln.
Sie hatte wunderbar gekocht und Leon hatte aus seinem eisernen Vorrat eine Flasche teuren Rotwein spendiert. Die rote Flüssigkeit leuchtete dunkel im Kerzenschein und Jennifers Augen hatten einen verräterischen Schimmer, den sie hinter ihren Haaren zu verstecken suchte.
In dieser Nacht schlief Leon bei Jennifer. Sie lag seitlich an ihn gekuschelt in seiner Armbeuge. Als er erwachte, lag sie noch genauso. Ihre Beine hatten seine umschlungen und ihren Arm hatte sie über seine Taille gelegte. Ihre Lippe war an seine Brust gedrückt, so dass ihr Atem gleichmäßig über Leons Haut strich. Er streichelte sanft ihren Arm und sog den Duft ihrer Haut und ihrer Haare tief ein. Es fühlte sich so gut und richtig an, wie sie da bei ihm lag. Aber dennoch war die Sache zu Ende. Jennifer würde sich ihr Leben wieder aufbauen und er musste sich aufs Schreiben konzentrieren.
Das Frühstück verlief schweigend. Jennifer starrte in ihren Kaffeebecher und versuchte die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Leon kaute lustlos sein Brot und warf einen Blick auf ein altes Stück Zeitung, das er unter der Eckbank gefunden hatte.
Schließlich war es Zeit für die Abfahrt.
"Du musst Deine Bilder noch mitnehmen." Leon griff nach den Zeichnungen von Jennifer.
Sie schüttelte den Kopf: "Nein, ich schenke sie Dir."
"Du könntest sie veröffentlichen. Wenn Du willst, dann schlage ich es meinem Verlag vor."
"Das ist sehr lieb von Dir. Ich möchte sie Dir aber schenken - als Dank und Erinnerung an eine denkwürdige Zeit. Du kannst mit ihnen machen, was Du willst." Ein schiefes Lächeln huschte über Jennifers Gesicht, ehe sie sich schnell umdrehte und die Tür öffnete.
Ein heftiger Schmerz durchzuckte Leons Brust, als er auf Jennifer Rücken starrte. Ehe er es selbst wahrnahm, rief er ihren Namen und Jennifer drehte sich langsam zu ihm um. Sie blickte ihn mit ängstlich hoffenden Augen und starkem Herzpochen an. Er durfte sie nicht gehen lassen! Leon öffnete seine Arme und Jennifer stürzte sich mit einem Laut zwischen Schluchzen und Jauchzen hinein.
Tausende kleine Eissterne glitzerten im Sonnenschein, als Leon und Jennifer Hand in Hand vor die Hütte traten und der Anblick der weißen Einsamkeit sie gefangen nahm.

Eingereicht am 30. Januar 2007.
Herzlichen Dank an die Autorin.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt.
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