Vergissmeinnichtblau
© Johannes Norz
Da sitzt sie nun, seit einer halben Stunde mir gegenüber und liest in einem Buch. Verstohlen mustere ich sie. Sie gefällt mir, in dem rot getupften Sommerkleid, das sich über ihrem prallen Körper spannt. Lange kann sie nicht mehr haben, bis zur Geburt. Über dem Bauch zieht es die Knöpfe aus einander, und ein bisschen von ihrer Haut blitzt durch. Ihr Busen ist stark angeschwollen und in ihrem eher tiefen Ausschnitt sieht man den hellen Ansatz. Ganz leicht zeichnen sich blaue Äderchen auf der Haut ab.
Ich versuche wieder, zu lernen. Im Prinzip sitze ich ja nicht zum Spaß in diesem Zug: morgen werde ich vor einem sehr qualifizierten und kritischem Publikum vortragen müssen, darf mir dabei keine Blöße geben. Also nicht mehr hinschauen, lernen! Aber auch wenn ich sie nicht ansehe, kann ich sie riechen, und das macht mich nervös. Sie riecht unverkennbar nach Frau, nach Sommerhitze, und das auf sehr anregend- sympathische Art. Wieder wandert mein Blick über ihren Bauch nach oben, wieder verfängt er sich im Ausschnitt.
Ob sie dort wohl noch besser riecht? Lern, du Idiot!
Also zurück zum Scriptum. Nicht alles dort drinnen erscheint mir auf Anhieb logisch. Im Gedanken versunken starre ich beim Fenster hinaus, meine Blicke verfangen sich in ihrem Spiegelbild. Jetzt sehe ich das Gesicht im Halbprofil. Sie hat eine ausgeprägte Nase. Das gefällt mir. Und sie sieht mich an. Oh. Schnell huschen meine Augen zurück zu ihr, aber sie schaut schon auf den grau- fleckigen Vorhang, der an der Türe zum Gang hängt. Nicht lange, dann kommt ihr Blick für einen kurzen Moment zu mir und huscht zum
Fenster zurück. Jetzt betrachte ich sie noch einmal. Sie scheint muskulöse Beine zu haben, die sich unter den Rock abzeichnen. Nach der Art von schwangeren Frauen hat sie ihre Beine nicht züchtig übereinander geschlagen, sondern leicht gespreizt. Deutlich zeichnet sich die üppige Wölbung ihres Bauches durch das Kleid, suche die Stell, an der er in die kleinere ihrer ihres Schamhügels übergeht. Unwillkürlich lecke ich mir beim Gedanken daran über meinen Mundwinkel. Wenn sie das jetzt gesehen hat? Sie hat, denn
sie sieht mich jetzt offen an. Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt; nicht nur, aber auch.
Ihre Augen sind vergissmeinnichtblau. Sie mustert mich kritisch, schüttelt ihren Kopf. Weshalb ich sie so ansehe, will sie wissen. Ihre Stimme klingt dunkel und warm. Und sie ist nicht böse, das hört man, eher verwundert. Weil sie schön sei, antworte ich. Offensichtlich verwirrt sie das noch mehr. Nicht in diesem Zustand, mit einem solchen Bauch! Sie streicht, wie um das zu bestätigen über die Rundung. Ich betrachte sie noch einmal, diesmal offen, ihr Gesicht, ihr langes blondes Haar, ihren Körper, versuche mich
aber zu beherrschen. Durch den leichten Stoff ihres Sommerkleides zeichnet sich jetzt die Form ihrer Brustwarzen deutlicher ab. Doch, gerade so fände ich sie schön. Bewunderung schwingt in meiner Stimme mit. Sie sei aufgedunsen, unförmig, monströs. Nein, erblüht. Erblüht? Sie streicht unsicher mit ihren langen und überraschend zarten Finger über ihre Hüften, den Bauch und die Brüste. Erblüht? Ein fragender, unsicherer Blick. Niemand könne so etwas schön finden? Ich folge mit meinen Blicken ihren Händen, beobachte,
sage nichts. Unförmig! Ihre Hände umfassen den Bauch. Aufgedunsen, monströs angeschwollen! Ihre Hände streifen zur Brust weiter. Ich strecke meine Hand zaghaft zu ihr, meine Fingerspitzen berühren ganz leicht ihren Bauch. Erblüht! Ganz leicht streichle ich die vorderste Stelle, spüre ihren Nabel, zucke zurück, erröte. Ob es mir Freude bereite, so etwas zu berühren? Wieder taste ich nach ihrem Bauch, behutsam, um sie nicht zu erschrecken. Ich umkreise ihren Nabel mit meinen Fingerspitzen. Sie riecht jetzt noch
stärker, noch verwirrender, langsam verliere ich die Kontrolle über die Situation. Natürlich gefällt sie mir! Meine Stimme ist rau.
Sie nimmt meine Hand, führt sie an die Unterseite ihres Bauches. Ob ich ihr Kind nicht spüren könne, fragt sie mich, als ob das irgendetwas an der Situation irgendwas ändern würde. Ich spüre eine leichte Bewegung, sag es ihr auch. Vor allem aber spüre ich den Rand ihres Höschens, bin mir schlagartig bewusst, dass man wildfremde Frauen an dieser Stelle niemals berühren darf. Wieder schießt mir das Blut in die Wangen, die Situation ist jetzt eindeutig erotisch, Ausreden gibt es keine mehr. Sie bemerkt es auch.
Aber sie lässt meine Hand nicht los, und so beginne ich behutsam die Stelle zu streicheln, den Saum entlang, ein bisschen tiefer sogar, und sie streichelt meine Hand ganz leicht. Wir sehen uns in die Augen, ich versinke in ihrem Vergissmeinnichtblau.
Immer noch sind wir weit von einander entfernt, unsre Knie berühren sich nicht einmal. Die Situation ist vollkommen irreal: Ich streichle eine wildfremde Frau, von der ich nicht einmal den Namen weiß, die ich erst seit ein paar Minuten kenne. Ich rutsche auf meinem Sitz ein bisschen nach vorne. Soll ich? Ob sie?
Krachend fliegt die Schiebetüre auf. "Die Fahrkartän bittä!"
Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, was passiert ist, stehe auf, krame nach meiner Karte, gebe sie dem Schaffner. "Und äana Fro?" Sie kramt in ihrer Handtasche, gibt ihr Ticket dem Schaffner. Der mustert unsre Karten ein bisschen verwirrt, vergleicht sie, liest die Einstiegs- und Ausstiegsbahnhöfe, schüttelt den Kopf und verlässt das Abteil wieder. Wir hören ihn am nächsten Abteil wieder: Krach!, "Die Fahrkartän bittä!"
Verlegen sehen wir uns an. Die Spannung ist gebrochen. Ich versuche zu scherzen "Meine Frau, Haha". Ja, lustig, Ihre Frau. Betretenes Schweigen. So gerne würde ich ..., aber was wenn? Ich kann nicht mehr anknüpfen. Auch sie rutscht nervös hin und her. "Johannes". Was ich meine? Mein Name. Oh. Immer noch Nervosität. Wir waren unversehens zu weit gekommen, zu weit, um jetzt noch unbefangen zu sein. Und jetzt auch zu weit auseinander, um wieder zurück zu finden. Ich suche ihr Vergissmeinnichtblau,
aber sie schlägt die Augen nieder. Wir benehmen uns wieder wie gesittete Erwachsene, nur kurze Blicke, wenn man denkt, dass es der andere gerade nicht bemerken kann, und eine große Spannung sind noch übrig. An der übernächsten Haltestelle steigt sie aus.
Eingereicht am 30. Januar 2007.
Herzlichen Dank an den Autor.
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