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Liebste Freiheit

© Vasilika Schnitzer


Das Blumengeschäft an der Ecke wird in zwei Minuten geschlossen, also beschleunige ich, halte meine Kapuze fest und renne über die leere Straße auf die andere Seite. Als ich eintrete, lächele ich die Verkäuferin an, die gerade damit beschäftigt ist, sich einen Mantel überzuwerfen und mich nun fragend ansieht. "Nur ein kleiner Strauß, bitte", hauche ich atemlos und krame einige Münzen aus der Tasche. "Ein kleiner Nelkenstrauß."
"Einwickeln?", fragt sie, während sie ihren schwarzen Regenmantel über die Schultern zieht und aus dem Regal hinter der Theke einen Strauß hervorholt.
"Nein, danke, nicht nötig", meine ich hastig und schüttele den Kopf. Ich lasse die Münzen in die offene Hand der Verkäuferin fallen, verstecke das kleine Nelkenbündel unter meinem Regenschutz und verabschiede mich mit einem Nicken.
Der Regen prasselt auf meinen Kopf, die Schuhe sind durchnässt, der Strauß dürfte schon recht zerknautscht aussehen, so gebückt wie ich renne. Ich biege in den Park ein, laufe durch die Pfützen, sehe dank dem Regen nicht einmal wo ich hintrete. Ich blicke nach vorne, und vor mir baut sich die große, schwere Pforte des Friedhofeingangs auf. Es ist schon spät, beginnt zu dunkeln, die Pforte ist selbstverständlich geschlossen, um streunende Hunde fernzuhalten. Das Tor ist stabil, aus Gusseisen, es hat eine schöne Verzierung mit vielen einladenden Querstangen. Meine linke Hand bleibt unter dem Mantel, umfasst das Bündel, die rechte strecke ich hoch, klammere mich an eine Stange, suche mit den Füßen Halt in den Windungen des Tores. Schritt für Schritt arbeite ich mich nach oben, schwinge meinen Körper über die Eisenspitzen und springe auf der anderen Seite ab, wobei ich etwas ungeschickt in einer Pfütze lande. Die Haare unter der Kapuze sind schon längst nass, dennoch streife ich diese nicht ab, während ich den asphaltierten Weg entlang haste. Es ist keine künstliche Beleuchtung da, das Licht der Abendsonne wird immer schwächer, der Mond schimmert vage durch die dichten Gewitterwolken. Glücklicherweise kenne ich den Weg, einige Meter hinter der alten Eiche zweige ich rechts ab, gelange über eine kleine Steintreppe in wildes Gestrüpp, durch welches sich ein dünner Kieselpfad schlängelt. Nasse Zweige klatschen gegen meinen Bauch, während ich blindlings meinen Weg stampfe. Irgendwann sehe ich das Metallkreuz vor mir, darunter die nasse Erde des frischen Grabes. Ich bleibe stehen, beruhige meinen Atem, stehe am Fuße des Grabes, aufrecht, nehme die Kapuze vom Kopf und hole das Nelkenbündel unter dem Mantel hervor. Ich betrachte das tropfende Kreuz, es sieht beinahe hoffnungsvoll aus, in dieser Dunkelheit hütet es das Grab, hütet meine Seele, vertreibt die Sorge aus mir. Die Nelken in meiner Hand beugen ihre wasserschweren Blüten hinab zur Erde, und ich strecke mich vor und bette den Strauß unten am Kreuz. Dann stelle ich mich auf die Knie und wende mein Gesicht dem Himmel zu.
Wir haben es geliebt, unter dem Regen zu laufen. Ohne Schutz, in leichter Kleidung, nur er und ich und der Regen. Oft saßen wir auf dem Bett, Rücken an Rücken, lachten die halbe Nacht lang, und als die Wassertropfen gegen das Fenster zu prasseln begannen, gingen wir barfuss hinaus und tobten durch den Wald. Ich liebte seine nasse Umarmung.
Der Regen fällt mir ins Gesicht, der Wind wird stärker. Lächelnd lege ich meine Finger auf die Erde, ziehe fünf kleine Rillen für fünf kurze Jahre.
Ich schließe die Augen und spüre, wie seine Hände über meine Schultern streicheln. Ist das alles was ich an ihm vermisse?
Wir kümmerten uns nie um die Welt. Wir brauchten nur uns. Das Leben ist ein Spiel, darin waren wir uns einig. Wir fürchteten uns nicht vor der Zukunft, nicht vor Neuem, Unerwartetem. Wir stellten uns auf den Kopf, liebten einander bedingungslos und frei.
Ich gebe zu, ich hatte Angst davor, mein Leben zu teilen. Ich wollte über das Extreme hinausschießen, aber allein, völlig frei von Verantwortung oder Bindung. Und er zeigte mir eine neue Möglichkeit, ihn konnte ich lieben, ohne von ihm abhängig zu sein. Wir waren nur Freunde - und noch ein bisschen mehr als das.
Ich erhebe mich von seinem Grab, verstecke mich unter der Kapuze. Ein letzter Blick auf das Kreuz, das ich heute zum letzten Mal sehe, ein Blick auf das Grab, das nun sich selbst überlassen sein wird. Dann drehe ich mich um und trotte den Weg zurück zur Pforte.
Wir haben oft über den Tod geredet. Wie auch über alles andere. Eigentlich brauche ich ja niemanden, habe ich ihm gesagt. Aber mit dir ist es einfach schöner. Ich brauche dich schon, hat er lächelnd erwidert. Und ich hoffe, dass ich für dich nicht nur ein Spiel für schöne Stunden bin. Ich habe ihn dann immer angesehen und geküsst. Und Tränen zurückdrängend heiser geflüstert, dass ich ihn liebe. Ob seine traurigen Augen, von denen ich mich so oft lachend abwandte, nach einem Stückchen Wahrheit in mir suchten?
Brauchte ich ihn? War ich an ihn gebunden?
Ich klettere über das Tor, jogge durch den Park zurück in die Stadt, laufe die hell erleuchtete Straße entlang, die zu meiner Studentenwohnung führt.
Einige vereinsamte Pärchen, die sich kitschig unter einem Regenschirm verstecken, kommen mir entgegen, und ich bekomme Lust, meinen Mantel auszuziehen und so weiter zu laufen. Aber ich will den Regen nicht auf mir spüren. Dieses Gefühl gehört uns beiden. Ich will es nicht für mich allein.
Ich sperre meine Wohnung auf, werfe die nassen und schmutzigen Klamotten an der Schwelle ab, schließe mich im Bad ein und stelle mich unter die heiße Dusche. Wäre er jetzt hier, würde er vermutlich den Duschvorhang zurückziehen und mich fragend angrinsen, und ich ...
Was willst du da, fragte ich empört und richtete den Wasserstrahl in sein Gesicht. Prustend wandte er sich ab, sprang dann mit einem Satz in die Dusche und hielt meine Arme fest. Ich will dich nur ansehen, flüsterte er und streifte mit seinem Blick unschuldig meinen Körper. Lachend zog ich ihm das nasse Shirt über den Kopf und schmiss es über die Vorhangstange. Musste eh mal gewaschen werden, meinte er und zuckte seine nackten Schultern. Ich schloss die Augen, legte den Kopf zurück und genoss seine Lippen, die meinen Hals kitzelten. Wenn du dieses Jahr also fertig bist, murmelte er in meinen Nacken hinein, gehen wir nach China? Ich schnurrte zustimmend, und er legte seine Arme um meine Taille. Zu Fuß? Ja, hauchte ich ihm entgegen, und fügte
hinzu: aber wenn du es zu anstrengend fin... Er verschloss meinen Mund mit seinen Lippen und drückte mich fest an sich heran.
Ich merke, dass ich schon viel zu lange unter der Dusche stehe, drehe das Wasser ab und greife nach einem Handtuch. Ich werde auf jeden Fall nach China reisen. Dann eben allein, dann eben ohne ihn. Ich wollte schon immer den Ruhm, etwas Besonderes gemacht zu haben, für mich allein. Es wird eine größere Herausforderung. Und es wird zugleich einfacher werden, denn ich werde nur für mich verantwortlich sein. Und wenn ich umkomme, wird niemand um mich trauern. Das ist besser so.
Ich schlüpfe in einen Bademantel, gehe aus dem Bad, setze mich an meinen Tisch. Ein Stapel Bücher über China türmt sich vor mir auf, davor zerstreute Notizen über die Reisestrecke, Gepäck und Genehmigungen. Nach China zu Fuß, ohne Geld in der Tasche, nur ein dicker Schreibblock und ein paar Stifte, um über die Menschen, über die Kriege, über das Leben zu schreiben. Gemeinsam wären wir losgelaufen, wie schon oft, ins Blaue hinein. Diesmal mit dem Bewusstsein, ein Leben lang zu laufen. Nicht nur für drei Wochen durch das Gebirge, sondern für Jahrzehnte durch den Querschnitt des Lebens. Ich werde alleine gehen.
Ich wollte immer stark sein. Gleichzeitig suchte ich nach einem Mann, der mich übertraf. Es gab nur einen. Es gab nur ihn. Brauchte ich ihn?
Liebte ich ihn?
Ich musste mich immer zwingen, mir einzugestehen, dass ich ihn liebte. Nein, in Wirklichkeit konnte ich auch ohne ihn auskommen. Natürlich, es war schön mit ihm. Er gab mir Atem, aber ich konnte auch atemlos leben. Er gab mir Ruhe, aber was brauche ich Ruhe?
Und er hat sich nicht einmal verabschiedet. Ein Anruf von der Polizei, nichts weiter. In seiner Brieftasche war ein Foto, sagten sie, mit dieser Telefonnummer auf der Rückseite. Ob ich ihn kenne. Und dass es uns Leid tut, Ihnen mitteilen zu müssen, dass er auf dem Nachhauseweg von einem Lastwagen erfasst wurde, bei dem Versuch, ein Kleinkind zu retten, welches auf die Straße gekrabbelt war. Lebt das Kind, fragte ich. Nein, antworteten sie, er hat es nicht geschafft. Danke, sagte ich, danke für den Anruf. Ich legte auf und zerbrach einen Bleistift. Den Bleistift, mit dem ich über ihn geschrieben hatte. Mistkerl. Ohne sich zu verabschieden.
Wir waren Freunde. Wären wir ein liebendes Pärchen gewesen, so hätte mich sein Tod schockiert. Ich würde trauern, sehr lange trauern, und irgendwann lernen, darüber hinwegzukommen. Ich würde mein Leben neu gestalten. Aber so gibt es nichts neu zu gestalten. Er hat zu meinem Leben gehört, und jetzt gibt es ihn eben nicht mehr. Mein Leben geht weiter. Wir waren nur Freunde.
Ich liebe dich, sagte er und strich mit seinen Fingern über meinen Bauchnabel. Warum, fragte ich. Wofür eigentlich. Für meinen Körper? Dafür, dass ich mit dir schlafe? Nein, sagte er, dafür dass du mit mir lachst.
Er ist weg und es ist besser so. Jetzt bin ich frei. Frei von mir selbst, von meinen zweifelhaften Gefühlen. Jetzt kann ich gehen.
Mein Rucksack steht an der Tür und wartet. Die Regale sind leer. Ich habe nie viel besessen. Was ich nicht brauchen würde, habe ich weggeschenkt. Es sind viele Menschen ohne Hab und Gut in dieser Stadt. Es hat mich gefreut, sie glücklich zu machen. Wenigstens für einen Augenblick. Seine Sachen habe ich auch verschenkt. Von ihm habe ich nur noch einen kleinen Zettel, auf dem steht ich liebe dich. Das Letzte, das er mir geschrieben hat, bevor er an seinem letzten Tag die Wohnung verließ. Ich weiß nicht weshalb ich das aufhebe. Es ist nicht mehr wichtig, aber dennoch tröstlich zu wissen, dass mich jemand geliebt hat.
Ich lege mich schlafen, morgen geht es früh los. Der Regen klopft gegen die Scheibe, das Licht einer Laterne erhellt meine Wohnungstür. Das Licht drängt mich zum Aufbruch, irgendetwas zieht mich, und ich stehe auf und schließe die Vorhänge. Ich schmeiße mich auf das Bett, ziehe das Kissen über den Kopf und versuche einzuschlafen. Habe ich Angst vor dem Morgen? Angst vor der Reise? Lächerlich. Ich muss jetzt schlafen. Schlafen.
Der graue Morgen hängt in meinem Zimmer, als ich aufwache, und um die Leere der traumlosen Nacht auszufüllen, drücke ich irgendeinen Knopf auf der Fernbedienung des Players. A great day for freedom, singt Pink Floyd, na also, gerade der richtige Einstieg in diesen Tag. Ich ziehe mich an, stopfe die schmutzige Wäsche vom gestrigen Spaziergang in eine Plastiktüte und lasse diese im Müll verschwinden. Dann öffne ich die Vorhänge, mache mir einen Tee und genieße zum letzten Mal die Erinnerung, die in diesem kleinen Raum schwebt, in dem wir viel Zeit miteinander verbracht haben. Eine kurze, doch wilde Liebe, wir hatten alles, es gibt jetzt nichts zu vermissen, es gibt keine Sehnsucht nach etwas. Es war schön, es war heiß, aber es ist vorbei, es hat keine Bedeutung mehr.
Ich schlürfe meinen Tee aus, hole Atem und verlasse mit einem prickelnden Gefühl im Magen die Wohnung. Stark und voller Tatendrang mache ich mich auf meinen Weg.
Ich weiß nicht wie lange ich schon laufe. Ich weiß nicht warum ich dir meine Geschichte erzähle, aber du erweckst den Eindruck eines verständigen Menschen, und es ist schön, dass du Zeit für mich hattest. Ich danke dir auch für den Becher frischen Wassers, den du mir gabst, als ich erschöpft auf der Schwelle deiner Fischerhütte saß. Vielleicht kannst du etwas mit meinem Leben anfangen. Aber du wirst mir wahrscheinlich nicht erklären können, weshalb ich seine Liebe als Herausforderung angesehen hatte. Weshalb ich sie für Schwäche hielt und stets versuchte, diese Schwäche in mir zu verdrängen.
Es ist doch eine Schwäche, nicht wahr?
Er hat sich nicht verabschiedet, und das nehme ich ihm übel. Das macht man nicht unter Freunden. Deshalb, lieber Freund, sage ich dir jetzt Lebewohl, ich muss weiter. Pass bitte auf meinen Rucksack auf, dort drin ist mein Block, meine Geschichten über diese Welt. Er ist vollgeschrieben, ich habe keinen Platz mehr bei mir. Ich kann nicht weiterschreiben. Ich bin müde. Ich habe mich aufgeschrieben, du kannst es lesen, wenn du möchtest. Ich habe jedenfalls eine neue Herausforderung im Visier - die Abendsonne, die gerade vor deinem Fenster im Ozean versinkt. Ich werde ihr einen Besuch abstatten.
Vielleicht treffe ich dort einen alten vergessenen Freund - ich habe ihm noch etwas zu sagen...



Eingereicht am 13. Februar 2007.
Herzlichen Dank an die Autorin.
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