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Dez
01
Die Hochzeit eines Kollegen
© Annika Senger

Kassandra und Marcus waren Kollegen. Beide spielten seit Jugendtagen Kirchenorgel und halfen sich von Zeit zu Zeit mit Vertretungsjobs in Gottesdiensten aus. An einem verregneten Tag im Sommer wollte Marcus heiraten: seine Freundin Cindy, deren zweieinhalbjährige Tochter Nora ihn Papa nannte. Kassandra stand zu diesem Anlass auf der Orgelempore und beäugte die Hochzeitsgemeinde, die sich schubweise in den Bankreihen versammelte. Ihr langes, schwarzes Haar, das sie sonst ungebändigt offen trug, hatte sie streng nach hinten frisiert und zu einem Zopf zusammengebunden. Obwohl sie für gewöhnlich in Jeans und bunten T-Shirts auf die Orgelbank kletterte, war sie anlässlich Marcus' Trauung in einen schwarzen Anzug geschlüpft. Selbst die Bluse unter ihrem Jackett war schwarz. Ihre grauen Augen wirkten starr und kalt - zur Seltenheit einmal frei von Lidschatten und Mascara. Zwei dunkle Ringe warfen stattdessen Schatten auf ihre Lider, während das Weiße ihrer Augäpfel rötlich glänzte.

Die Lampe neben der Orgel leuchtete rot auf - dieses Signal hatte die Küsterin mit Kassandra vereinbart, um das Paar rechtzeitig mit der Musik zum Traualtar zu geleiten. Die Organistin blickte hin und wieder in den Spiegel über der Notenablage. Der gewährte ihr freie Sicht ins Kirchenschiff. Cindys kleine Tochter tapste in einem sonnengelben langen Tüllkleid vor Mutter und Ziehvater über den roten Teppich des Mittelganges und ebnete ihnen den Weg mit roten und gelben Rosenblütenblättern. Marcus hatte sich anlässlich seiner Hochzeit alle Bartstoppeln abrasiert. Er trug denselben braunen Anzug wie sonntags an der Orgel. Bei seinen Treffen mit Kassandra hatte er ihn auch meist angehabt und immer wieder die Behauptungen "Cindy macht Stress" oder "Cindy zickt rum" fallen lassen.

"Eine Märchenhochzeit soll es werden!", jubilierte Cindy jetzt, nachdem sie mit Marcus vor der Kirche aus der weißen Hochzeitskutsche gestiegen war. Seine 15 Jahre jüngere Braut konnte ihren vor Fettpolstern sich wölbenden Körper nur schwer unter ihrem weißen, mit Strass-Steinen besetzten Spitzenkleid kaschieren. Ihr langes, dunkelbraunes Haar hatte sie sich professionell hochstecken lassen, doch unter ihrem Schleier, der in eine drei Meter lange Schleppe mündete, kamen die mit Perlen verzierten Locken kaum zum Ausdruck. Ihre Brille hatte sie gegen Kontaktlinsen ausgetauscht, der Schleier vor ihrem Gesicht verbarg allerdings ihre warmen braunen Rehaugen und ihr feines Model-Make-Up.

Kassandras Finger stürzten sich in die Tasten, sich suhlend in ihrer getragenen Moll-Bearbeitung von Felix Mendelssohn-Bartholdys Hochzeitsmarsch. Sie hatte einige Tage vor der Trauung damit zugebracht, das Werk als Hochzeitsgeschenk für Marcus umzuschreiben. Bei seinem Einzug mit Cindy und Nora schnellte schon nach den ersten Takten ein Pulk von entsetzten Gesichtern mit den Augen hoch zur Orgel. Die Braut drehte sich ebenfalls kurz um. In ihren Augen sammelte sich Tränenflüssigkeit an. Marcus animierte sie mit seinen sachten, schlichtenden Gesten auch nur schwerfällig zum Weitergehen. Seine Mutter schüttelte den Kopf; Cindys Schwester schloss sich der weinenden Braut an, Nora begann zu plärren, und Kassandra lachte als einzige, ohne dabei einen Laut auszustoßen. Sie hatte vor dem Gottesdienst einige Zeit geübt und präsentierte ihre Version des Hochzeitsmarsches mit annähernder Perfektion. Der Pfarrer räusperte sich nach dem düsteren, lang ausgehaltenen Schlussakkord: "Ja, Frau Schwarz, so wie von Ihnen haben wir den Hochzeitsmarsch hier noch nie gehört. Bitte spielen Sie die restlichen Stücke dieser Trauung etwas freudiger und schwungvoller, ja?" Als Eingangslied stand der Choral "Danke für diesen guten Morgen" auf dem Plan.

Intonation und erste Strophe orgelte Kassandra munter beschwingt, und die Gemeinde sang laut mit. Als zweite Strophe folgte das Lied "O Haupt voll Blut und Wunden". Der Gesang in den Bankreihen brach ab, nur Kassandras klassisch ausgebildete Stimme schwelgte emotionsgeladen in den Worten: "O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn! O Haupt, zum Spott gebunden mit einer Dornenkron'! O Haupt, sonst schön gezieret mit höchster Ehr' und Zier, jetzt aber höchst schimpfieret; gegrüßet sei'st du mir!"

Kassandras Singstimme und Cindys kindliches Schluchzen vermischten sich, bis die Braut mit ihren Lauten der Verzweiflung allein da stand. "Du falsche Schlange!" winselte sie. "Marcus, warum spielt die eigentlich auf unserer Hochzeit Orgel?!" Kassandra grinste verächtlich in den Spiegel. Der Bräutigam ließ seine Schultern hängen, Cindy sprang von ihrem mit weißen Rosen verzierten Stuhl auf, stemmte die Hände in die Hüften und brüllte: "Macht es dir eigentlich Spaß, meine Hochzeit zu ruinieren, du gemeine Zicke?!" Kassandra fixierte starr ihre Noten.

"Ich konnte doch nicht ahnen, dass ...", flüsterte Marcus Cindy zu und dämpfte seine Stimme so ab, dass ihn keiner außer der Braut mehr akustisch verstehen konnte.

"Dies ist ein Gotteshaus", übernahm der Pfarrer das Wort. "Frau Schwarz, wenn Sie den Frieden des Herrn mit einem falschen Ablauf stören wollen, dann verlassen Sie bitte umgehend die Kirche!"

"Es tut mir aufrichtig leid. Ich habe tatsächlich zwei Ablaufpläne verwechselt", sagte die Organistin und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Während der Pfarrer für das Brautpaar betete, blätterte sie in ihrem Auszug von Georges Bizets Oper Carmen herum. Seit einigen Monaten hatte sie die Titelrolle einstudiert, und immer wieder blieben ihre Augen an der Widmung auf der ersten Seite haften: "Zu Weihnachten für meine liebe Freundin Kassandra, die einzige verständnisvolle Frau in meinem zur Zeit so vertrackten Leben. Marcus." Jetzt, zu seiner Hochzeit, umschnürte seinen Hemdkragen wieder die feurig gelbrote Seidenkrawatte, die Kassandra nach dem Bemalen mit schwarzen und goldenen Noten geschmückt hatte. "Das ist das schönste, persönlichste und nützlichste Geschenk, was ich je zu Weihnachten bekommen habe! Du bist wirklich ein Schatz!" kommentierte er einst ihr Werk. "Verkauf' sie besser", hatte Cindy ihr beim gemeinsamen Essen am Vorabend geraten.

Doch Kassandra war Cindys Rat und Warnungen nicht gefolgt, hatte bereits einen Tag später mit Marcus vierhändig Orgel gespielt und zwischen den weihnachtlichen Stücken seine Umarmungen und Küsse in Empfang genommen. Nun begleitete sie am selben Platz seine Hochzeitsgemeinde bei "Geh aus mein Herz und suche Freud", wie die Noten im Choralbuch es vorschrieben. Über ihre Wangen flossen Tränen. Nach dem Lied hielt sie sich die rechte Hand vor den Mund; ihr Weinen hatte sich zu einem hörbaren Schluchzen gesteigert.

Der Pfarrer begann nach dem Choral mit der Trauhandlung: "Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht trennen. Marcus Hansel, wollen Sie die hier anwesende Cindy Fleischer annehmen als ihr rechtmäßiges Eheweib, sie lieben und ehren in guten wie in schlechten Zeiten, in Krankheit und Gesundheit, bis dass der Tod Sie scheidet, so antworten Sie "Ja, mit Gottes Hilfe".

Kassandras zarte Hände hämmerten unkontrolliert auf die Tasten der Orgel ein. Dissonant antworteten sie an seiner Stelle, drifteten schließlich ab in den Choral "Herzliebster Jesu". Kassandras Stimme schloss sich dem Spiel mit einem Ausdruck von Wut und Trauer an: "Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen, dass man ein solch scharf Urteil hat gesprochen? Was ist die Schuld? In was für Missetaten bist du geraten?"

Für ein paar Sekunden herrschte Stille in der Kirche. Erst ein geißelnd hoher Schrei aus Cindys Mund durchbrach das allgemeine Schweigen: "Ich wünsche dir den Tod, du Biest! Jetzt hast du geschafft, was du immer wolltest! Mir reicht 's! Ich gehe! Und wenn ich euch erwische, dann bringe ich euch beide um!"

Sie riss sich hoch und schleppte ihre 110 Kilo Körpergewicht mitsamt ihrer wallenden Robe zum Hauptportal. "Mama!" heulte Nora Cindy hinterher. "Das kannst du doch nicht machen!" stammelte Marcus. "Frau Schwarz, ich bitte Sie, sich auf der Stelle aus dem Gotteshaus zu entfernen!" rief der Pfarrer durch das aufkeimende Stimmengewirr.

Kassandra stieg von der Orgelbank und packte ihre Noten zusammen. Noch immer rannen Tränen über ihr Gesicht, doch die Drüsen in ihren Augen produzierten kaum noch Nachschub. Hocherhobenen Hauptes stolzierte sie von der Empore hinab.

Unten wartete Marcus mit der wimmernden Nora an der Hand. Das kleine Mädchen versteckte sich hinter seinem Rücken, als es Kassandra bemerkte, jaulend: "Papa! Nach Hause!" Sämtliche Farbe war aus Marcus' Gesicht gewichen. Seine blauen Augen blinzelten wieder so betrübt und hilflos hinter seinen Brillengläsern hervor wie an dem Tag, als er Kassandra stockend gesagt hatte, nie in sie verliebt gewesen zu sein. "Bist du jetzt glücklich?" fragte er sie betreten.

"Nein, mein Süßer, aber bald wieder", erwiderte die Organistin und ging mit einem Lächeln auf den Lippen ins Freie.

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