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DIDYME - die Zwillinge

© Manfred Maier


Massimo (Troisi) war eine verwandte Seele. So beginnt Pippo seine Erzählung, welche von seiner geliebten und gehassten Heimaterde, welche von Salina handelt.
Vom grünsten und fruchtbarsten Archipel der Eolischen Insel. Von Salina, von Didyme, wie die Griechen die Insel nannten.
Das Schnellboot bringt jahrelange Liebhaberinnen und Liebhaber, bringt die vor dem Massentourismus Flüchtenden, die Entdecker, die EroberInnen der Poesie von Milazzo in etwas mehr als einer Stunde auf die Insel vor der Insel.
Ob neu oder langjährige Erfahrung. Kaum haben sie das Gewühl im Ankunftshafen S. Marina Salina hinter sich gelassen, werden sie sich dem Zauber der Insel hoffnungslos ausgeliefert sehen.
Aber klar, die Preise werden sie zumindest teilweise verärgern, die durchhängende Matratze ihres Feriendomizils wird ihr wohlstandsgeschädigter Rücken nicht befürworten. Bitter, andererseits, wer kennt das nicht, sie haben schon wieder das falsche Lokal erwischt.
Davon sprechen wir später.
Die Bewohner der Insel, jahrhundertelang isoliert, über Generationen der Sonne, dem Wind und dem launischen Meer ausgeliefert, werden sie herzlich empfangen. Gastfreundschaft, dieser Begriff wird sich mit Inhalt füllen.
Haben sie dazu noch den Film "Il postino" gesehen, hat sich Massimo Troisi in seiner Rolle als Briefträger des Poeten Pablo Neruda, dargestellt von P. Noiret, heimlich und gewollt in ihr Herz geschlichen, dann wissen sie, dass Tiefgründigkeit gelegentlich einer oberflächlichen Fassade, eines Klischees bedarf, um zum Leben erweckt zu werden.
Der bekannte Maler und Poet, Pippo Cafarella, bezeichnet sich nicht nur als verwandte Seele von Massimo, sondern ist auch, Zufälle gibt es hier nicht, Besitzer des Hauses in Pollara, in dem P. Noiret sich der Aufgabe stellte, Pablo Neruda darzustellen. Pippo ist auf den ersten Blick der atypische Insulaner. Gerade deshalb wird schnell klar, es gibt kaum einen Besseren, der den Typ verkörpert.
"Kennen sie Pippo?"
Ein Grinsen, ein vieldeutiges verdrehen der Augen, ein gedehntes ja, wird die Antwort sein. Was für ein Mensch ist er? Un buono, kommt es zurück. Ein Guter, vielleicht un po' matto, ein wenig verrückt, als Zusatz.
Ein Produkt der Insel, ein Resultat der verbrannten Erde, für immer geprägt von dem betörenden und allgegenwärtigen Geruch von Jasmin, Anis und einer Unzahl von wildwachsenden Kräutern. Das geradezu beängstigend klare, türkisfarbene Meer, welches, den Winden ausgeliefert, unvermutet zur bedrohlichen Bestie wird. Die Sorge um die Olivenbäume, in einem auch für die Insel ungewöhnlich heissen Sommer, der verzehrende Blick nach der blonden Touristin, das erwartungsvoll in einer Tuffsteingrotte über dem Meer wartende Boot.
Mincchia pazza (verrückter Schwanz) steht auf der einen Seite, gross und leuchtend auf den Planken. Da es viele deutschsprachige Touristen auf der Insel gibt, möchte Pippo den Bootsnamen gerne übersetzt auf die andere Seite pinseln.
Die Insulaner haben ihm angeboten, Bürgermeister von Malfa zu werden. Da spielt es keine Rolle, dass er Kommunist ist. Die Wildbachverbauung zählt, die muss er befürworten.
Die Erde prägt, zumal einen wie Pippo. Er kennt die Erzählungen, welche über Generationen weitergegeben werden. Er weiss, in Malfa gab es seit Menschengedenken keine Überschwemmung, er will keine Überbauung, er wird nicht Bürgermeister, er hat kein Konto in der Schweiz, er ist Maler, Poet, Kommunist; Pippo, oder besser, er ist ein Sohn von Salina.
Dafür bekommt er die Empfehlung, seine Sommer in Salina wie ein Tourist zu verbringen. Touristen interessieren sich nicht für Bebauungspläne, erheben keine Einsprachen, mischen sich nicht in die Belange der Insulaner ein.
Pippo, nein, Pippo ist kein Tourist. Er öffnet sein Atelier in Malfa, unabhängig von seiner Anwesenheit, vierundzwanzig Stunden am Tag, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr. Jede und Jeder ist KünstlerIn.
Dass die Dorfjugend mehr nach Amore und Party strebt, ist ihm egal. Einige seiner hoch dotierten Werke werden im Zuge dieser Öffentlichkeitsarbeit entscheidend verändert. Er betrachtet dies als Performance. Der Pfarrer und die Carabinieri des Ortes sehen darin eher einen Beitrag zur Verrohung der guten Sitten.
Decken sie sich im Dorfladen mit Brot, Käse und, mindestens, einer guten Flasche Wein ein. Und, sie werden die wundertätige Wirkung auf eine arg beanspruchte Wohlstandseele in Pippos "Magazzino della Terapie" auf die schönste Art selbst erleben.
Kunst ist hier das, was ihnen Spass macht.
Kunst ist im besten Sinne des Wortes kein Teil der Spassgesellschaft. Deshalb hat der Inselsohn auch enterbt und hungrig, ja, auf dem Bahnhof von Mailand geschlafen. Gemalt, von sättigenden Panini und einer aus seiner Sicht besseren Welt geträumt, und ihn nie verloren, den Geruch seiner Heimaterde.
Auch dann nicht, als er längst in der Obhut eines bedeutenden Galeristen gelandet war, Panini plötzlich Fileti hiessen und Interviews zahlreicher als seine Bilder wurden.
Er, der nie weg war, kehrte zurück.
Um seiner Tante, welche beauftragt war sein Erbe zu verwalten, zärtlich an die Kinnfalten zu greifen. Du musst endlich sterben Zia, sonst bleibt nichts für mich übrig, sagt er. Die Tante lächelt, besteht darauf noch lange zu leben. Schliesslich will sie gewinnen im Lotto, oder früher im Spielcasino.
Sie ist sich des Gewinns sicher, Pippo auch, nicht des Gewinns, mehr des Umstandes, dass die Tante mit ihrer Spielsucht auch noch den Rest seines von ihr verwalteten Erbes durchbringen wird.
Inselalltag, alle, wirklich alle, werden es bestreiten. Und doch, es sind jene wahren Geschichten, die eine durch ihre Abgeschiedenheit bewahrte archaische Ader belegen. Diese Regeln, welcher kein Aussenstehender je versteht. Diese Geschichten, welche Leonardo Sciasca so vortrefflich erzählt. Von denen wir wissen, es sind Klischees, die uns ahnen lassen, es könnte sie geben.
Sie wollen Massimo Troisi treffen? Der hoch Verehrte ist viel zu früh verschieden. Und doch, sie können ihn auf Salina treffen. Diese ungestüme Zärtlichkeit, eine kaum gebändigte Wildheit. Unbeholfen und tölpelhaft, weit entfernt von jedem intellektuellen Getue. Er lebt weiter, in der verbrannten Vulkanerde, im Duft von exotischen Blumen, welche im Norden als Pflänzchen im Blumenladen ein Vermögen kosten und uns hier als üppige Bäume entgegentreten. Im Busfahrer, welcher zwar sagen kann, dass morgen der Fahrplan ändert, und ungeniert eingesteht, dass er keine Ahnung hat, wann er morgen Dienst hat.
Er lebt mit jedem Blick auf die Bucht von Pollara, in der eigentümlich melancholischen Melodie des Windes, im nahen Rauschen des Meeres. Die silbern schimmernden, allgegenwärtigen Blätter der Olivenbäume säumten auch seinen Weg. Nebst den beiden erloschenen Vulkankegeln, sind die Kapernsträuche das Wahrzeichen der Insel.
Und auch sie erzählen die Geschichte des Briefträgers, auch sie erzählen von der Insel.
Sehnsucht und Begierde, Stärke und Schwäche, Lust und Leid als prägende Erfahrung einer kleinen, grossen Welt. Der Bauer, welcher ihnen auf ihren ausgedehnten Wanderungen begegnet, wird ihnen von den Mühen des Alltages erzählen. Die Schönheit der Insel, ihr Geruch, Farbe und Beschaffenheit der hart zu bearbeitenden Erde, ist fester Bestandteil dieser Erzählungen.
Und macht in seltener Unmittelbarkeit erfahrbar, dass Poesie weder erkannt noch benannt werden muss, um als bereichernde Erfahrung wahrgenommen zu werden.
Im Hafen kreisen und kreischen die Möwen, auf Abfälle der heimkehrenden Fischer hoffend. Auch sie wissen nichts von Poesie, sie sind vielmehr Teil davon.
Später ist jetzt, wir wollten von ganz praktischen Dingen sprechen. Vom Dorfgasthaus in Malfa zum Beispiel, von dessen bezauberndem Gastgarten, vom offenen, schweren Inselwein.
Von einer Stimmung, die so gut ist, dass sie sich einer seriösen Beschreibung entzieht. Einer Küche, üppig, schwer und in einer Weise gewürzt, die ihren Wander- oder Badetag nochmals buchstäblich kulinarisch abbildet.
Staunen, schmecken, riechen und völlig glücklich und überessen das Lokal zu verlassen. Das fast schon tragische Glück eines vollendeten Inselalltages.
Ach ja, schlafen muss der Mensch ja auch noch wo. Fraglich, ob das Haus der Träume, in dem der Film Neruda wohnte, empfehlenswert ist.
Die Lage, die Aussicht werden sie entzücken. Dass sie einen unempfindlichen Rücken mitbringen, Luxusausstattungen lächerlich finden, Komfortansprüche generell nicht ihr Ding sind, mag dabei hilfreich sein.
Sie müssten, um alle diese Widerwärtigkeiten geniessen zu können, zuerst den Sohn der Insel und Eigentümer des Hauses, Pippo überzeugen.
Wer einmal das einmalige Vergnügen hatte, ein derartiges Gespräch am Telefon mitzuerleben, weiss auf welches Abenteuer sie sich einlassen.
Er wird ihnen erklären, es gäbe keine Betten. Er wird behaupten, das angebliche Stroh sei nicht sehr bequem. Er wird ihnen von einer Vereinigung zum Missbrauch des einzig verbliebenen Esels der Insel erzählen. Und sie darauf hinweisen, dass der Missbrauch dieses Esels extra kostet. Pro Mal natürlich, wie können Sie nur fragen.
Seine Frau Anna ärgert sich grün über Pippos ungewöhnliche Form der Geschäftsanbahnung. Für ihn ist dies eine präventive Massnahme. Denn, jemand, sei es sie oder er, welche diese Form der Vorselektion ohne murren übersteht, ist seiner Ansicht nach eine würdige Kundin, ein guter, problemloser Mensch.
Sie erinnern sich an die Geschichte von den Betten? Umso besser, nach Bestehung von Pippos Examen werden sie sich nachher wenigstens nicht beschweren.
Das ist der einzige Sinn der Sache. Ziemlich nahe an der Person des verehrten Massimo (Troisi), unverzichtbarer Teil der Inselpoesie.
Wenn sie jetzt noch immer entschlossen sind, nicht den nächsten last minute Flug zu buchen, sondern nach Salina zu reisen, haben sie gute Chancen.
Den überwältigenden Eindruck einer noch immer archaischen Poesie wahrzunehmen.
Dies funktioniert auch, wenn ihre Rückenbeschwerden einen Aufenthalt im Postino Haus verbieten oder sie Pippos Test nicht bestehen.
Der Kerl ist zwar eine sehr nahe verwandte Seele des Briefträgers, aber zum Glück nur einer von rund dreitausend Insulanern.
Packen sie alle ihre Sinne und wenig Gepäck ein. Und machen sie nicht den Autor dieser Zeilen für die Folgen ihres Leichtsinns verantwortlich.
Dann geht die Sache für alle gut aus.

Eingereicht am 03. November 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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