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Dez
01
Ein Kalb wurde geboren
© Tina Martik

Es war ein wunderschöner warmer Tag. Der Frühling war endlich da. Die Sonne zeigte ihre ganze neu gewonnene Kraft. Der Schnee schmolz, auf den Wiesen bildeten sich kleine Bäche, die sich ihren Weg bis zum Strassengraben bahnten. Vögel versteckten sich nicht mehr, sie begannen zu zwitschern.

Die Frau zog ihre Gummistiefel an, streifte ihre Jacke über, rief den Hund zu sich und begab sich auf den Weg. Sie unternahm mit dem Hund jeden Tag ausgiebige Spaziergänge, sie führten zuerst stets den Berg auf, um von dort die eindrückliche Aussicht zu genießen. Rund um sich sah sie Berggipfel, die mit Schnee bedeckt waren. Unterwegs hatte sie einige ruhigen Ecken gefunden, wo sie sich für ein paar Minuten hinsetzte und die beinahe unberührte Natur um sich herum beobachtete.

Wie konnte sie jahrelang in einer Großstadt leben? Sie erinnerte sich noch genau, an die Hektik und den Stress auf den Strassen, an die stickige Luft in den Trams, an die Ruck-Zuck-Fahrten im Bus. Sie erinnerte sich an die Anspannung, die Nervosität und den Konkurrenzkampf während der Arbeitzeiten im Büro. Smog, Abgase und grauer Himmel begleiteten sie jeden Tag. Nein, sie möchte nicht wieder dort hin, in dieses Leben, das wie auf der Überholungsspur an einem vorbei lief.

Während sie nachdachte, legte sie einen langen Weg hinter sich. Heute durfte sie sich aber nicht allzu lange mit Nachdenken und Grübeln aufhalten. Am heutigen Tag hatte Fini ihren Termin.

Die Erinnerung an ihre Pflichten ließ die Frau in einem schnelleren Schritttempo weiterzugehen. Bis zum Stall war es von hier oben sicher eine gute Stunde, sie musste sich beeilen. Vielleicht ist das Kalb schon da! Diesmal wusste man es genau, wann das Kalb kommen wird. Fini war nicht vom Nachbarsbullen in einem von Menschen unbeobachteten Augenblick besprungen, sondern wurde nach der modernsten Technik mit menschlicher Hilfe besamt. Der Spender des Samens wurde in einem Bullenkatalog ausgesucht, ein kräftiges Kalb musste es werden. Dadurch war der Geburtstermin beinahe auf den Tag genau sichergestellt.

Die Frau wohnte seit längerer Zeit auf dem Hof. Aber wie ein Kalb geboren wurde, das hatte sie noch nie gesehen. Die meisten Kälber kamen ohne große Aufregung zur Welt, meistens in der Nacht im Stall, manchmal sogar draußen auf der Weide. Der Bauer war dabei, ab und zu kam er erst, als es schon vorbei war und die Kuh sowie ihr Neugeborenes zufrieden im Gras oder im Stroh im Stall lagen. Einmal suchten sie ein neugeborenes Kalb im hohen Gras, nur die Spur vom herunter gerutschten nassen Körper zeigte, wo sie suchen müssen. Es war eine Zwillingsgeburt, die Kuh konnte beide Kälber nicht schützen, ein Kalb war den Hang herunter geglitten, wäre dort eine Tanne nicht im Weg gestanden, hätte das Kalb eine unerwartete Reise bis zum Grundstück des Nachbarn unternommen. Wenn es Komplikationen bei der Geburt gab, wurde ein Veterinär hierbei gerufen.

Der Stall war archaisch. Es gab keine Boxen, keinen Greifer, um das Futter und das Stroh mühelos zu transportieren, keinen Boden aus Metall mit Rillen, durch diese die Gülle in den Güllefass selbstständig abläuft. Es war ein alter, mit viel mühsamer Arbeit verbundener, kleiner Betrieb. Der Bauer führte seinen kleinen Hofbetrieb neben seiner regulären Arbeit.

Sie half aus, gab den Tieren das herrlich duftende Heu, streute das golden strahlende Stroh unter ihre Füße, putzte den Güllegraben. Die Kühe waschen, nein das tat sie nicht. Sie hatte ihre Angst von diesen großen Tieren, die gefährlichen Hörner hatten, bis jetzt nicht überwunden. Sie half an den Weiden den Zaun anzubringen, ab und zu jagte sie einem entlaufenen Kalb oder Rind nach, um es wieder dorthin zu bekommen, woher es ausgebrochen war. Im Sommer schaute sie, ob die Tiere genügend Wasser in ihrer Tränke auf der Weide hatten. Sie half heuen, das alte Silo aufzufüllen, sie half die Kühe von einer Weide zu anderen zu zügeln, nur wie ein Kalb geboren wird, das hatte sie noch nie miterlebt.

Von weitem sah sie die ganze Herde draußen stehen, der Bauer lies die Kühe und die Rinder am Mittag an die warme Luft. Nun war es nicht mehr weit bis zum Stall. Als sie ganz nahe kam, spürte sie ihr Herz schneller klopfen. Ein paar Schritte noch. Vorsichtig öffnete sie das Tor zum Stall und spähte in die Dunkelheit. Fini stand da, gab keinen Mucks von sich. Die Frau machte das Licht an und jetzt sah sie es. Ihr Herz spürte sie im Hals.

Es ist so weit! Sie wurde von Panik erfasst. Was mache ich bloß!?

Sie schloss das Tor hinter sich, sperrte den Hund aus. Sie überlegte fieberhaft. Das Wohnhaus ist viel zu weit weg von hier, bis dorthin zu laufen und den Bauer anzurufen, dazu ist es zu spät. Ich muss etwas tun, aber was?

Die Vorderfüsse und der Kopf des Kalbs waren schon draußen. Was muss ich, was soll ich tun!? Zuerst sich beruhigen, dann weiter und vernünftig denken.

Ihr Atem ging schnell. Die Kuh, die muss in dieses spezielle Abteil gebracht werden. In einer Ecke des Stalls war etwas wie ein Gebärsaal eingerichtet. Es hieß, die Kuh loszubinden und quer durch den Stall in die andere Ecke zu führen. Wie schaffe ich es bloß? Sie ging zum Kopf der Kuh, sprach sie flehentlich an: "Fini, sei ein braves Mädchen, komm, ich will dir helfen." Die Kuh dachte aber im Moment überhaupt nicht daran, ein braves Mädchen zu sein, ihre gefährlichen Hörner waren links, dann wieder rechts. Sie kämpfte für sich und für ihr Ungeborenes. Die Frau versuchte den Strick loszubinden, es gelang ihr nicht, die Hörner waren ihr immer viel zu nahe. "Geh zur Seite!" Nichts half, Fini schlug mit dem Kopf hin und her.

Dann ging die Frau auf die andere Seite, um zu schauen, wie es dem Kalb geht. Ihr stockte der Atem. Die Zunge des Kalbes hing blau angelaufen aus dem Maul heraus. Ist es am Ersticken!? Eine Angstwelle durchfuhr sie. Sie raffte sich auf und ging nochmals nach vorne und versuchte an den Strick heranzukommen. Fini machte wie wild, drehte ihren Kopf von Seite zur Seite, ihr Muhen war mit Quallen erfüllt.

Die Kuh kriege ich nicht los, dachte sie. Also zum Kalb schauen. Wenn es rauskommt und auf den Betonboden herunter fällt, bricht sich es das Genick. Die Frau mobilisierte alle ihre Kräfte, zog einen Strohballen zur Fini und verteilte das ganze Stroh unter ihren Füssen und im Güllegraben. Fini muhte, drehte sich immer wieder um, sie war ersichtlich unsicher, was da vor sich geht. Die Frau betrachtete das Kalb. Sie konnte nicht beurteilen, ob es lebte oder tot war.

Wenn ich mindestens ein Handy hätte! Dachte sie erbost. Ein Anruf hätte gereicht. Der Bauer kommt frühestens in einer Stunde.

Fini gab einen lauten Schrei von sich. Der Kopf des Kalbes rückte ein Stück nach außen. Die Frau holte ein Eimer voll Wasser und dachte nach, dann entschied sie sich zu helfen. Sie nahm die Vorderfüsse des Kalbes in ihre Hände, sofort ließ sie wieder los. Es fühlte sich kalt an. War es tot?...Nein, es ist nass und fühlt sich einfach nur kalt an, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie fasste die Füße nochmals diesmal kräftiger an. Vorsichtig zog sie ein wenig. Fini muhte. Ob ich ihr noch mehr weh tue? Wie soll ich es denn wissen! Also wenn das gut kommt. Die Frau gab sich einen Ruck und zog behutsam wieder an den Füssen. Das Kalb kam ihr einige Zentimeter entgegen. Fini muhte nun ununterbrochen. Nochmals ziehen, vorsichtig. Wieder ein paar Zentimeter mehr vom Kalb waren zu sehen. Fini hörte nicht auf zu muhen. "Mädchen, falls ich dir wehtue, verzeih mir bitte", flehte sie Fini an. Sie war sich sicher, jetzt darf sie nicht aufhören zu ziehen. Ihre Hände waren schon ganz kalt und klebrig. Ihre Hose war vom Schleim und Blut verschmiert. Ihre Füße rutschten stets aus. Sie trocknete ihre Hände im Stroh ab und fasste das Kalb wieder an. Diesmal zog sie kräftiger. Fini schaute sich böse um. Es wird nicht mehr lange dauern. Vielleicht ein- oder zweimal Ziehen, dann wird es vorbei sein. Die Frau sammelte ihre letzten Kräfte, nahm allen Mut zusammen und zog behutsam nochmals an den Füssen.

Plötzlich ging alles sehr schnell, bevor sie richtig reagieren konnte, war das Kalb draußen. Mit so einer Wucht hatte sie nicht gerechnet. Fast hätte sie das Gewicht des nassen Tieres mitgerissen und sie wäre auf das Kalb hingefallen. Da die Zunge des Kalbes immer noch aus dem Maul herabhing und blau angelaufen war, musste das Maul und die Nase gereinigt werden. Die Frau wusch sich ihre Hände im Wasser im bereitstehenden Eimer, nahm die Hände voll und reinigte das Maul. Dann benetzte sie den Kopf, vor allem die Nasenlöcher und wusch sie aus.

Die Zunge verschwand im Maul.

Es ist geschafft! Ihre Knie wurden weich. Sie zitterte und Tränen der Erleichterung stiegen ihr in die Augen. Sie ging in die Knie und fand sich im Stroh neben dem Kalb kauernd und weinend wieder. Fini mit ihrem Muhen und der Hund mit seinem Gebell, stellten sie bald wieder auf die Beine. Sie nahm eine Hand voll Stroh und begann das Kalb abzutrocknen. Fini muhte, tritt nervös von einem Bein auf das andere, schaute sich um. Die Frau ging nochmals zum Kopf der Kuh. Endlich gelang es ihr den Strick zu lösen. Fini war zwar weiterhin unruhig, aber anders, jetzt wollte sie ihr Kalb beschnuppern und ablecken, ihm ihre Wärme und Liebe geben. Sobald sie losgebunden war, drehte sie sich vorsichtig um ihre eigene Achse um, beschnupperte behutsam ihr Kind und begann es zu säubern.

Jetzt atmete die Frau beruhigt aus und trat an die frische Luft. Sie wusch sich ihre noch zitternden Hände. Erschöpft setzte sie sich auf den Boden, der Hund war sofort bei ihr und leckte ihr die Wange ab. Das erste Kalb in diesem Frühling war da. Nun brauchte sie einen Namen für das Kleine. Fini, Fini…das Kleine wird Floh heißen.

Floh war ein wenig auch ihr Kind.

Noch Jahre später erzählte sie von diesem Ereignis ihren Freunden und Bekannten, scherzhaft behauptete, dass sie sogar ein Kalb geboren hatte. Was sie nach der Schilderung des Abenteuers in ihren Gesichtern sah, war ein unglaubliches Staunen. Es erfüllte sie jedes Mal mit Stolz.

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