Wie immer um die Mittagszeit gegen 11.00 h warten schon alle - vier Hunde und zwei Zwergziegen (auch Hornhunde genannt) -, die immer mitkommen, wenn es zu unserem Grundstück am Stadtrand geht. Felder und Wiesen sind ideal, um die Hunde toben und springen zu lassen. Im nahen Bach wird ausgiebig gebadet. Eine kaum befahrene Landstraße führt in diese Idylle. In weiterer Entfernung liegt die Bahnstrecke. Alle zwei Stunden verkehrt der planmäßige Personenzug, dazwischen ab und an eine einzelne Lok oder ein Güterzug. Selten saust der ICE über die Gleise.
Schnell und zügig springen die sechs ins Auto. Ab zum Toben! Am Ziel angelangt, greife ich nach hinten und öffne die Tür. Schon springt alles, was vier Beine hat, hinaus auf die Wiese. Man könnte meinen, das sei der erste Ausflug seit Jahren. Natürlich Quatsch. Nahezu täglich findet dieses Ritual statt. Die Hunde stieben auseinander. Jeder hat etwas anderes, wichtiges zu tun. Intensives Zeitung lesen ist angesagt. Die Ziegen machen ihre Bocksprünge vor Freude.
Nun beginnen wir mit unserer Riesen-Runde. Unterwegs buddelt der eine und wedelt dabei mit seinem Schwänzchen, der andere läuft zum Wasser, ein dritter benässt einen Baum usw. Da dort auch etliche andere Spaziergänger mit ihren Hunden unterwegs sind, gilt es natürlich auch, neue Bekanntschaften zu schließen und alte aufzufrischen. Gesellschaft gibt es an diesem verregneten Tag nicht. Ich stapfe tapfer in Gummistiefeln durch die klatschnasse Wiese. Als der Ziegenbock Ludwig übermütig in meine Kniekehle rennt, ist der erste Sturz fällig. Mitten in die Pfütze! Nichts unbedingt Neues für mich. Es ist ja auch wenig Platz auf den Feldern, Wiesen und Auen. Endlich erreichen wir das Wasser. Mein Mischlings - Mittelhund Pongo, mein kleiner Pudelmischling Harry und Bentor, der Bardino aus Fuerteventura, spielen und toben wie verrückt. Rein ins Wasser - raus aus dem Wasser. Stecken sammeln, streiten und raufen. Nur Jarro, unser Podenco, auch aus Fuerteventura, hält sich wie immer woanders auf. Er schließt sich selten dem Rudel an, ist aber immer in meiner Nähe. Gerade als ich zuschaue, wie die Hunde im Wasser toben, hat Jarro sein eigentliches Ziel verfehlt, trifft mich in der Kniekehle, und ich falle zum zweiten mal in das glitschige Gras. Ich ziehe mich immer dem Wetter entsprechend an, um für Stürze gerüstet zu sein. Stadtfein sehe ich nach der zweifachen Begegnung mit dem Erdboden nicht mehr aus.
Nach einiger Zeit verlassen wir die Badestelle und steuern den Bach, üblicherweise die letzte Raststation, an. Weit entfernt verlaufen die Bahngleise. Jarro ist wie immer hinten dran. Plötzlich saust Jarro an mir vorbei, was ja nicht bedenklich stimmt, über die Wiese. Nun aber immer weiter den Hang hoch auf die Gleise zu! Ich rufe ihn ohne Erfolg. Ich rufe wieder, er bleibt stehen, schaut mich an. Ich denke: "Gott sei Dank. Ich rufe wieder, damit er zurückkommt. Der Hund läuft auch los, aber in die falsche Richtung. Ich schaue mich um, und sehe ganz weit weg eine Lok oder ähnliches. Ich ahne Grauenvolles! Denke aber im selben Moment: Wie viele Hunde und Katze überqueren Gleise und es passiert nichts, schließlich hören und spüren Hunde ja alles viel früher als Menschen. Jarro kam nicht, aber die Lok kommt mit rasender Geschwindigkeit heran. Ich hoffe noch immer, dass einfach nichts passieren kann. Fünf Gleise nebeneinander, der Hund wird er ja nicht gerade auf dem befahrenen Gleis stehen.
Die Lok fährt vorbei, kurz darauf ertönt ein grauenhaftes, kurzes Jaulen, dann ist es totenstill. Ich renne auf den Bahndamm zu. Aber mit mir laufen die drei Hunde und die beiden Ziegen. Ich stoppe sofort, denn erst müssen alle ins Auto, damit sie nicht auch noch auf die Gleise rennen. Ich bin überzeugt, dieses Jaulen war ein letzter Aufschrei! Nun erst aufgeregt zum Auto hastend bemerke ich, wie die drei Hunde plötzlich stehen bleiben und zurückschauen. Als ich mich umwende, um zu sehen, wonach die drei so interessiert schauen, rutscht mir schier das Herz in die Hose. Jarro steht mitten auf der Wiese. Mit letzter Kraft schleppt er sich in meine Richtung. Ich renne ihm entgegen. Bei mir angekommen, bricht er zusammen. Jetzt erst bemerke ich seine schwere Verletzung. Schnell renne ich mit den anderen drei Hunden und den zwei Ziegen zum Auto, lasse sie einsteigen, setze mich ans Steuer und fahre quer über die Wiese zu Jarro. Artig wie selten bleiben alle hinten im Auto sitzen. So kann ich ungestört meine Jacke auf dem Beifahrersitz ausbreiten und den schwerverletzten Hund darauf legen. Ich fahre nach Hause. Keine fünf Minuten, und ich bin da. Ich rufe meinem Mann zu: "Sofort die Tierklinik verständigen, ich habe einen verletzten Hund im Auto!. Hunde, Ziegen aussteigen lassen, schon steigt mein Mann zu mir ins Auto, und ab geht die Post. Leider ist die Tierklinik nicht vor Ort. Wir sind über15 Minuten unterwegs. Die Tierärzte erwarten uns bereits. Jarro wird auf einer Trage ins Behandlungszimmer gebracht. Er bekommt sofort einen Tropf, Beruhigungsmittel und Schmerzmittel. Dann wird geröntgt und etliche andere Untersuchungen werden durchgeführt. Ergebnis: Am rechten Oberschenkel eine ca. 30 cm lange klaffende Wunde, tief bis auf die Knochen, durchtrennte Muskeln, 12 innere Blutergüsse, einer davon genau unter dem Herzen. Letzterer drückt eine Beule ins Herz. Dadurch atmet Jarro unregelmäßig, was die Behandlung erschwert. Er wird operiert, die Wunde wird genäht. Klingt recht einfach, aber der Muskel darunter muss von unten nach oben genäht werden. Die Nacht muss er überleben, dann wäre das Allerschlimmste erst mal überstanden, heißt es. Gegen sechs Uhr abends holen mein Mann und ich Jarro aus der Tierklinik ab. Viele Anweisungen!
Keiner der drei anderen Hunde hat etwas gefressen. Sie haben genau gewusst, dass etwas Schlimmes passiert ist. Und etliche "Wissenschaftler behaupten, dass es so was nicht gibt! Das ist doch der blanke Hohn!
Und dann kommt die Nacht. Jarro weint leise vor sich hin. Die ganze Nacht bin ich bei ihm. In meinem Büro habe ich ihm ein Bettchen hergerichtet. Er darf natürlich nicht mit den anderen Hunden zusammen sein, er braucht ja besonders viel Ruhe. Gegen morgen schläft er plötzlich ganz fest ein. Als er wach wird, macht er unter sich. Egal, es geht ihm besser! Nicht weltbewegend, aber er hat die Nacht überstanden. Es kann nur noch besser werden. Am Nachmittag wird er unruhig. Mein Mann trägt Jarro die Treppe hinunter, setzt ihn im Hof in den Sand, und der Hund verrichtet sein Geschäft. Keinen Schritt vor, keinen zurück, so wie sein Herrchen ihn da hingestellt hat, verharrt Jarro. Flugs wird er wieder nach oben getragen. Als hätte er Schwerstarbeit geleistet, schläft er sofort ein. Diese Prozedur wird etwa 14 Tage ausgeführt. Zwischendurch geht es in die Tierklinik zur Kontrolle. Nach zweieinhalb Wochen werden Fäden gezogen. Tapfer wie Jarro ist, geschieht dies, ohne dass er auch nur einmal zuckt, geschweige denn einen Ton von sich gibt. Etliche Tierärzte stehen plötzlich um uns herum, und bewundern diese hier in der Umgebung seltene Hunderasse. So brav, so tapfer, das ist selten. Jarro beschließt: "Wenn ich zu Hause bin, werde ich wieder mit den anderen zusammen im Haus leben. Daheim angekommen, im oberen Geschoss abgesetzt, humpelt Jarro sofort ins Wohnzimmer, in dem die anderen drei sich aufhalten. Nach langer Zeit ist er mal wieder richtig glücklich.
Weil Jarro sich kaum bewegen kann, bekommt er mehrere kleinere Portionen hochwertiges, leicht verdauliches Futter am Tag. Regelmäßiges Lösen ist sehr wichtig, da er ja nicht alleine rausgehen kann. Unser Jarro, auch Sputti oder Welpi genannt, ist wieder sichtlich glücklich. Die Wunde heilt zusehends. Aber mit Rausfahren ist noch lange nichts. Sputti muss Geduld haben!
Jetzt, mitten im Sommer, ist der Unfall längst vergessen. Man könnte meinen, es wäre nie etwas passiert. Besser so! Unser Jarro ist absolut der Alte. Man sagt, Hunde lernen durch Unfälle nicht. Jarro ist der Beweis, dass es anders sein kann. Nie mehr hat er sich weit von mir entfernt. Auch läuft er mit dem Rudel. Hört er einen Zug, geht er freiwillig bei Fuß, er bekommt sogar Angst, wenn das Zuggeräusch zu lange anhält. Er müsste begriffen haben, dass es besser ist, bei Frauchen in der Nähe zu bleiben. Was sich nicht geändert hat: Jarro ist nach wie vor sehr anhänglich und liebebedürftig.
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