Lucy, ein kleines Islandpony, sah Hector das erste Mal gleich in einer einmaligen Aktion auf dem Gestüt. Sie beobachtete von ihrer Koppel, wie Hector aus seinem Transporter geschoben wurde und gleich hysterisch ausschlug. Dabei erwischte er mit seiner Hinterhufe den Hofbesitzer Pfister und verletzte ihn am Ellbogen. Die aufgebrachte Menschenhorde versuchte verzweifelt das wilde Tier zu bändigen und irgendwann hatten sie ihn dann mit viel Kraft und Überzeugung in seine Box verfrachtet. Was für eine Aufregung! Herr Pfister musste gleich zum Arzt wegen seinem Arm, Frau Pfister weinte, Hans der Stallbursche fluchte und die Transportleute verzogen sich lautstark schimpfend vom Hof.
Lucy hatte von dem Haflingerpferd Schorsch erfahren, dass ein Araberhengst hier so eine Art Kur verbringen soll. Ein Rennpferd. Schnell, unheimlich und rabenschwarz war er. Der hatte schon alle Preise gewonnen. Jetzt war er etwas ausgebrannt, "Burn-out" hatte er, musste wieder zu sich finden. Der Besitzer zahlte einen stolzen Preis, das ließen sich die Gestütbesitzer natürlich nicht entgehen.
Was es alles gab, dachte Lucy. Sie hatte sich eigentlich noch nie aufgeregt. Manchmal, wenn Toni der Hahn in aller Frühe krähte und Lucy noch so schön döste und von grünen Wiesen träumte, dann vielleicht war sie etwas sauer. Aber sonst? Lucy dachte angestrengt nach. Sie lebte einfach in ihren Tag hinein und freute sich, wenn morgens die Sonne aufging.
"Na Kleine, träumst du wieder vor dich hin? Das war mal eine Show oder? Hach, jetzt ist er endlich da, der arabische Prinz und gleich so ein Drama." Rufus der Ziegenbock bleckte höhnisch vor sich hin. Schadenfroh war er, aber ansonsten ein witziger Kerl.
"Ja wirklich, eine Schande", meinte Lucy, "und der Herr Pfister hat sicher Schmerzen." Lucy hatte Mitleid mit dem Gestütbesitzer.
"Was muss er sich auch so ein Vieh in Haus holen, reine Geldgier. Jetzt haben wir das Ungeheuer auf dem Hof. Und weißt du, wer sich mit ihm im Stall vergnügen darf? Rate mal?" Rufus stierte sie mit leuchtenden Augen an.
Lucy mochte diesen Blick gar nicht. Denn meistens hatte Rufus einen sechsten Sinn.
"Jetzt hat es dir die Sprache verschlagen, stimmts? Du und ich, Süße. Der stinkende Ziegenbock und das brave Beistellpony sollen jetzt für gutes Raumklima bei Ihrer Hoheit sorgen."
Lucy blinzelte irritiert. Eine Aufgabe musste jeder hier verrichten. Keiner darf sich nur auf dem Gestüt tummeln. Lucy wurde oft vor einer kleinen Kutsche gespannt und fuhr Gruppen von Menschen durch die Natur. Oder sie wurde von Kindern geritten. Das war alles in Ordnung und machte auch Spaß. Sein Futter musste man sich verdienen, keine Frage. Aber so eine Aufgabe? Was sollte das denn sein?
"Beistellpony? Das klingt aber nicht nett." Lucy fand die Bezeichnung schlimm. Es hatte etwas Entwürdigendes, Abwertendes.
"Wir sollen dafür sorgen, dass sich der Prinz erholt und sich entspannt. Solche Geschöpfe wie wir tragen dazu bei. Unser Geruch vielleicht, was weiß ich, wir sind so was wie Therapietiere."
Rufus glotze zu dem Stall, wo man Hector hingebracht hatte.
"Ich helfe gerne wenn ich kann, aber hoffentlich wird er nicht böse." Lucy fand das alles ziemlich unangenehm.
"Keine Sorge, wenn der sich aufführt wie Graf Koks kriegt er gleich eine Abreibung. Warten wir ab, vielleicht täusche ich mich ja", meckerte Rufus, nicht wirklich überzeugend.
Natürlich hatte der Ziegenbock recht. Nach drei Tagen brachten die Stallarbeiter Jenny und Hans die beiden zu Hector in die Box. Hector selber war noch mit seinem Therapeuten auf der Koppel. Dieser flüsterte ihm ständig etwas in seine Ohren und massierte sein schwarzes, glänzendes Fell.
Die Box war groß und es roch nach frischem Heu. Lucy stellte sich brav in die für sie vorgesehene Ecke. Rufus bockte etwas rum und ging in die andere Ecke. Er war sauer, weil man ihn von seinen Ziegendamen entfernte. Es war still im Stall und die beiden warteten auf ihren Kurgast.
Nach einer Weile kam dann auch der Hengst. Er wurde von seinem Pferdeflüsterer hereingeführt. Hector sah, dass er Besuch hatte und scheute leicht. "Ruhig", mahnte der Mann und streichelte das unruhige Pferd. Dann verließ er die Box.
"Hallo Hector!" Rufus kam gleich zur Sache. "Wir sollen dir Gesellschaft leisten, also genieße uns."
Lucy schaute Hector neugierig an. Er war wunderschön, stark und kräftig. Seine schwarzen Augen huschten unruhig hin und her.
"Dann tut mir einen Gefallen und haltet eure Fressen. Kluge Sprüche höre ich den ganzen Tag", schnaubte Hector genervt und er blähte gefährlich seine Nüstern. Er war schlecht drauf nach dem ganzen Gesäusel des Typen. Lass locker, mach dich frei, der ganze Mist konnte ihm gestohlen bleiben. Er wollte nur seine Ruhe. Warum ließ ihn keiner einfach mal in Ruhe?
Das Pony sagt keinen Ton und das war auch gut so. Klein und etwas stoisch stand es in der Ecke und sah zu ihm rüber. Es war pummelig und weiß mit braunen Flecken. Seine Mähne war lang und etwas filzig. Es hatte große Augen in denen eine wahre Stille herrschte. Hector hatte noch nie solche Augen gesehen. Er starrte das Pony an und meinte in diesen warmen Augen zu ertrinken. Eine ihm unbekannte Ruhe überfiel ihn und er wurde plötzlich müde und beruhigte sich. Im Stall wurde es langsam dunkel und die neue Wohngemeinschaft verbrachte ihre erste gemeinsame Nacht.
Am nächsten Morgen hatte jeder seine Aufgabe zu erledigen. Hector musste Wassergrabengymnastik über sich ergehen lassen, Rufus wurde in das Streichelgehege gebracht und Lucy hatte Reitunterricht mit schwererziehbaren Kindern. Lucy galoppierte brav ihre Runden, wurde gestreichelt und mit Äpfeln gefüttert. Sie genoss den warmen Tag. Mit ihren Gedanken war sie bei Hector. Es ging ihm schlecht, das fühlte Lucy. Sie hatte sich nicht getraut ihn anzusprechen. Sie wollte nur Blickkontakt und irgendwie war Hector dann auch ganz umgänglich geworden.
Lucy trabte nach Dienstschluss mit Hans zurück in die Box. Hector war schon fertig mit seiner Gymnastikstunde und bekam sein Spezialfutter. Lucy stellte sich in ihre Ecke und sah dem Hengst beim Fressen zu.
"Wie heißt du, Pony?" Hector unterbrach sein Fressen und stierte Lucy finster an.
"Ich heiße Lucy und bin dein Beistellpony."
"Ha, was für eine Bezeichnung. Ihr seid da um mir meinen Wellnessaufenthalt angenehm zu machen. Ich kenne das alles. Ich bin ein Spitzenass, ein Gewinner, ich war schon auf allen Turnieren und habe alle Preise gewonnen. Ich werde hoch gehandelt, mein Team ist reich durch mich geworden. Ich bin ein Rassepferd und ein seelischer Krüppel. Ich habe Angst morgens aufzuwachen, weil jeder etwas von mir will. Leistungsdruck, Training, Forderungen. Ich muss perfekt sein. Überall hohe Erwartungen. Von klein auf ging ich durch diese harte Schule und meine Zukunft ist geprägt von Erfolg und Macht. Und hier soll ich mich erholen und das ganze Spiel beginnt von vorne. Verstehst du, was ich dir da sage?"
In Lucys Kopf drehte sich alles. Da waren so viele Wörter und Ausdrücke, die sie noch nie gehört hatte und sie klangen alle schrecklich anstrengend und ungesund. Der große Hengst erwartete jetzt eine Antwort von ihr. Warum war Rufus noch nicht zurück? Der hätte sicher gewusst, was zu tun war.
"Ich freue mich, wenn in der Früh die Sonne aufgeht und ich mein Fressen bekomme. Dann erledige ich meine Arbeit und freue mich auf meine Mittagspause. Dann arbeite ich bis abends und freue mich auf mein Fressen und meinen Stall. Und ich hoffe, dass morgen wieder alles genauso abläuft. Ich denke nicht nach, was gestern war und mache mir keine Gedanken, was in der Zukunft sein wird. Ich lebe immer im Moment und der ist immer gut und richtig für mich."
Lucy hatte noch nie in ihrem Leben so einen langen Satz von sich gegeben und wahrscheinlich hatte Hector kein Wort verstanden was sie meinte. Sie sah ihn mit ihren großen Augen fragend an und Hector kam langsam auf sie zu.
"Ja, das ist es, was mir fehlt. Ich bedauere meine Vergangenheit, meine Kindheit, die ich nie hatte, und die Angst vor der Zukunft, weil ich da nur eines sein muss: perfekt. Die Sonne aufgehen sehen oder eine grüne Wiese entlang laufen ohne etwas zu müssen, ist mir fremd. Du führst dieses Leben, ich sehe es in deinen Augen, da herrscht Frieden und Einklang. Du bist gesegnet kleine Lucy."
Hector sah Lucy tief in die Augen und seufzte laut. Dann ging er zu seinem Platz zurück.
Lucy fasste sich ein Herz und ging zu dem schwarzen Hengst und stellte sich neben ihn.
"Lass uns einfach da stehen und schauen", sagte Lucy zu Hector.
Hector erholte sich, er machte seine Therapien und genoss Lucys Anwesenheit und Stille. Rufus verhielt sich angemessen zurückhaltend und störte nicht die meditative Harmonie.
Am Tag der Abreise standen Lucy und Hector wieder eng zusammen. Sie verharrten in ihrer Ruhe und im gegenseitigem Einklang im Hier und Jetzt. Durch Lucy hatte Hector gelernt den Moment zu genießen und Entspannung zu empfinden. Die Therapie war ein Erfolg.
"Danke kleine Lucy, ich nehme dieses Bild mit in meine Welt und wenn ich meine Angst spüre, denke ich an uns beide, hier in diesem Stall. Du bist ein sehr gutes Therapiepony."
Lucy sah Hector tief in die Augen und freute sich für das Kompliment.
"Dann lass uns den Augenblick noch gemeinsam genießen, Hector, denn nur der zählt."
Einundzwanzig Geschichten über das Zusammenleben von Mensch und Tier. Mit Humor und einem Augenzwinkern erzählt die Autorin vom alltäglichen, gelegentlich skurrilen Miteinander und Gegeneinander von allerlei Getier und den Menschen. Geschichten für Tierfreunde und für alle, die es noch werden wollen.