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Kristallinas abenteuerliche Reise zu dem Weihnachtsbaum

© Andrea Spakowski


Vor vielen, vielen Jahren lebte einst eine kleine Schneeflocke hoch oben im Himmel. Sie hieß Kristallina und wohnte mit zahlreichen anderen Schneeflocken im Reich der Wetterfeen, die den Menschen auf der Erde Tag für Tag das richtige Wetter bescheren und sich dabei ganz genau an die Jahreszeiten halten. Im Sommer polieren die Wetterfeen mit Feuereifer die Sonne und heizen ihre Strahlen mit glühenden Kohlen ein, damit sich die Menschen an der wohligen Wärme erfreuen konnten und ihr Getreide auf den Feldern prächtig gedeiht. Im Herbst hingegen füllen sie die dunklen Regenwolken mit unzähligen Wassertropfen und lassen den tosenden Wind aus seiner Kammer, um die Flüsse und Seen wieder mit reichlich Wasser aufzufüllen und das bunte Herbstlaub fröhlich durch die Lüfte tanzen zu lassen. Im Winter aber kommen die zahlreichen Schneeflocken zum Einsatz.
Diese werden allesamt in die großen Schneewolken verfrachtet, um mit ihnen oben am Himmelsgewölbe entlang an den Ort ihrer Bestimmung zu ziehen, und auf die Erde hernieder zu rieseln, wo sie sich wie eine riesige weiße Decke ausbreiten. Und genau auf diesen Tag wartete Kristallina damals sehnsüchtig.
Denn in diesem Jahr sollte sie zum ersten Mal von den Wetterfeen mit auf die Reise geschickt werden, um ihre Aufgabe als Winterbote zu erfüllen. Voller Ungeduld fieberte sie dem großen Ereignis entgegen und ließ sich immer wieder von den anderen Schneeflocken erzählen, wie es dort unten auf der Erde war. Sie hörte von fröhlichen Kindern, die sich mit ihren hölzernen Schlitten schneebedeckte Hügel hinuntergleiten ließen, und von mutigen Erwachsenen, die ähnliches auf zwei langen Skibrettern von jedoch weitaus steileren Berghängen vollführten. Auch berichteten ihr die anderen Schneeflocken von einsamen Wäldern, in denen sich im Winter sogar die scheuen Rehe und die munteren Hasen kaum blicken ließen, und von zugefrorenen Teichen und Seen, auf denen es so kalt war, dass sich die Schneeflocken darauf ganz eng aneinander gedrängt zu einer festen Schneeschicht verbinden mussten, um nicht vor Kälte völlig zu erstarren. Am besten aber gefiel Kristallina die Erzählung von den großen Tannenbäumen, die zur Weihnachtszeit auf allen Marktplätzen in den Dörfern aufgestellt wurden. Mit herrlich glänzenden Kugeln, von Hand gefertigten Strohsternen und Tausenden Lichtern geschmückt erfreuten sie das Herz sämtlicher Dorfbewohner und waren in der Weihnachtszeit der Mittelpunkt des ganzen Ortes. Das schönste an den Tannenbäumen jedoch war die feine weiße Schneedecke, die sich vorsichtig auf die duftenden Zweige und Äste legte, und dadurch jedem Baum einen ganz persönlichen Charakter verlieh. Dies kam vor allem am Weihnachtsabend ganz besonders zur Geltung, wenn die Bewohner mit ihren Kindern von der Christmette kamen. Dann versammelten sie sich alle auf dem Marktplatz rings um den Weihnachtsbaum, um die eiskalte Winternacht mit einem wunderschönen Lobgesang auf die einzigartige Tanne zu erfüllen.
Kristallina fand den Gedanken daran so unglaublich schön, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als gleich bei ihrer ersten Reise auf die Erde eine dieser Schneeflocken zu sein, die die festlich geschmückten Bäume mit einer weißen Decke umhüllten. Kristallinas Ungeduld wurde mit jedem Tag größer. Immer wieder fragte sie die Wetterfeen, ob es nicht endlich an der Zeit war, sie mit den anderen Schneeflocken auf die große Reise zu schicken.
Doch jedes Mal schüttelten diese lachend den Kopf und erklärten ihr, dass sie noch ein Weilchen warten musste. Schließlich aber war es soweit. Der kalte Winter hatte den stürmischen Herbst verdrängt und brauchte nun die tatkräftige Unterstützung der kleinen Schneeflocken. Als Kristallina das hörte, brach sie in lautes Jubelgeschrei aus. Endlich hatte das lange Warten ein Ende und sie durfte ihre Reise hinunter auf die Erde zu dem wunderschönen Weihnachtsbaum antreten. In Windeseile sauste Kristallina hinüber zu den anderen Schneeflocken, um mit ihnen in die großen Wolken zu steigen. Umsichtig fragte sie bei jeder Wolke nach, wofür die jeweiligen Insassen bestimmt waren, um bloß nicht in der falschen Schneewolke Platz zu nehmen. Schließlich wollte sie auf keinen Fall auf einem alten Scheunendach oder einem verlassenen Feldweg landen. Kaum das Kristallina die Schneewolken erreicht hatte, die zu den Marktplätzen mit den wunderschönen Weihnachtsbäumen reisten, kletterte sie geschwind hinein und setzte sich erleichtert auf einen der noch freien Plätze. Kurz bevor die Reise losging, wurden alle Schneeflocken von den Wetterfeen noch einmal ermahnt, sich nur ja gut fest zu halten, und die Wolke auf keinen Fall vor der Ankunft am Bestimmungsort zu verlassen, da die Schneeflocken sonst ganz woanders landen würden. Dann setzte sich das schwer beladene Gefährt auch schon in Bewegung.
Langsam und behäbig zog die riesige Schneewolke den grauen Himmel entlang, und schob sich Stück für Stück ihrem Bestimmungsort entgegen. Kristallina war so aufgeregt, dass sie unentwegt auf ihrem Sitz hin und her rutschte.
Neugierig verfolgte sie mit großen Augen jedes noch so kleine Fleckchen Erde, dass sie während ihrer Reise überquerten und staunte immer wieder über die vielen neuen Dinge, die sie dabei erblickte. Da war das gewaltige Meer, dass seine haushohen Wellen kraftvoll gegen die steile Felsenküste schleuderte, und die endlosen Bergketten, die sich wie eine riesige Steinwand durch die atemberaubende Landschaft schlängelten. Und die vielen Wiesen und Wälder, die sich über zum Teil noch völlig unberührte Landstriche erstreckten. Kristallinas Vorfreude auf das kleine Dorf, wo sie mit all den anderen Schneeflocken aus der Wolke den Weihnachtsbaum mit umhüllen sollte, wuchs mit jeder Minute. Als sie schließlich aus weiter Ferne die ersten Häuser der Ortschaft erkennen konnte, gab es für sie kein Halten mehr. In heller Aufregung verließ sie ihren Platz, um ihr nahendes Ziel noch besser sehen zu können. Dabei vergaß sie völlig die Anordnung der Wetterfeen, sich nur ja gut fest zu halten und so kam es wie es kommen musste. Als die schwere Wolke einen kleinen Ruck zur Seite machte, um einer entgegen kommenden Schneewolke auszuweichen, verlor Kristallina das Gleichgewicht und fiel heraus. Im ersten Moment war sie so erschrocken, dass sie kein einziges Wort heraus brachte. Auch die anderen Schneeflocken waren zunächst vor Entsetzen ganz stumm. Dann aber redeten sie alle aufgeregt durcheinander und starrten Kristallina ungläubig hinterher. Bald schon aber war diese kaum noch zu sehen, zumal sich die Wolke immer mehr von ihr entfernte.
Kristallina hatte ihren anfänglichen Schrecken ziemlich rasch überwunden und freute sich nun unbändig über ihren ersten freien Flug. Lachend wirbelte sie herum und drehte übermütig eine Pirouette nach der anderen. Dabei war sie so verzückt und aufgedreht, dass sie gar nicht merkte, wie sie sich allmählich einem großen, dunklen Gebirge näherte, dessen massive Felswände sich majestätisch über ein weiträumiges, tief verschneites Tal erhoben. Erst als sie neben zahlreichen anderen Schneeflocken, die sich zu einer festen Schicht auf einem der Berge formiert hatten, gelandet war, beruhigte sie sich wieder. Neugierig blickte sie umher und hielt suchend nach den duftenden Tannennadeln und der festlichen Weihnachtsdekoration Ausschau, konnte jedoch nichts entdecken. Vermutlich hatte sie bei ihrer Landung wohl eine ziemlich ungünstige Stelle auf ihrem heiß geliebten Tannenbaum erwischt. Mit einem leisen Seufzer wandte sich Kristallina schließlich an die anderen Schneeflocken, die sich trotz ihrer überraschenden Ankunft bislang in eisiges Schweigen gehüllt hatten. "Würde vielleicht einer von euch mit mir den Platz tauschen, damit ich auch einmal die glänzenden Weihnachtskugeln sehen kann?" fragte sie zaghaft. Doch statt einer Antwort hörte sie zunächst nur ein undeutliches Gemurmel. Als Kristallina erneut nachfragte, entgegnete schließlich eine der Schneeflocken: "Weihnachtskugeln gibt es hier nicht. Was sollen wir auch hier oben auf dem Berg damit?" Kristallina fuhr erschrocken zusammen. Das konnte doch nicht wahr sein! "Hier oben auf dem Berg? Aber ich wollte doch gar nicht auf einem Berg landen! Ich wollte doch zu einem der Weihnachtsbäume auf den Marktplätzen!" rief sie voller Entsetzen. Gleichmütig erklärten ihr die anderen Schneeflocke, dass sie wohl entweder die falsche Wolke genommen haben musste oder aber zu früh abgesprungen war. Kristallina stöhnte leise auf.
Natürlich! Durch ihren wilden Übermut und die enorme Vorfreude auf ihre baldige Ankunft hatte sie urplötzlich den Halt verloren und war viel zu früh aus der Wolke gefallen. Kein Wunder, dass von ihrem heiß geliebten Weihnachtsbaum weit und breit nichts zu sehen war. Warum nur hatte sie die eindringliche Warnung der Wetterfeen auch so leichtfertig missachtet?
Traurig sank sie in sich zusammen und überlegte fieberhaft, was sie nun machen sollte. Denn sie wollte ihren ersten Ausflug auf der Erde unter keinen Umständen hoch oben auf einem einsamen und verlassen Berg verbringen.
Obwohl es den anderen Schneeflocken eigentlich egal war, was in Kristallina vorging, verspürten sie dennoch so etwas wie Mitleid mit ihr. Daher gaben sie sich alle Mühe, Kristallina zu trösten, indem sie ihr von den vielen Vorzügen der ruhigen und abgeschiedenen Bergwelt berichteten. Doch Kristallina hörte gar nicht richtig zu. Sie wollte nur zu ihrem wunderschönen Tannenbaum, um den herrlichen Lobgesang der Menschen am Weihnachtsabend mit zu erleben. Stunde um Stunde dachte sie darüber nach, wie sie wohl wieder von diesem schrecklichen Berg fortkommen konnte, aber es wollte ihr einfach nichts einfallen. Während Kristallina noch immer über eine Lösung nachdachte, spürte sie plötzlich ein eigenartiges Ruckeln unter sich. Es war, als ob der Berg die dicke Schneedecke, die ihn so fest umklammerte, mit aller Kraft von sich stoßen wollte. Noch ehe sie wusste, was hier gerade mit ihr und den anderen Schneeflocken geschah, stürzten sie auch schon allesamt mit einem lauten Krachen den Berg herunter. Alles ging so schnell, das Kristallina zuerst dachte, sie habe nur geträumt. Ratlos wandte sie sich an die anderen Schneeflocken und erfuhr von ihnen, dass die Schneedecke soeben als Lawine zu Tal gestürzt war. Ungläubig ließ Kristallina ihren Blick umherschweifen und entdeckte schließlich ganz weit oben das massive Felsgestein, auf dem sie noch wenige Augenblicke zuvor mit den anderen Schneeflocken gelegen hatte. Voller Erleichterung atmete sie erst einmal tief durch und sah sich dann etwas genauer an ihrem neuen Aufenthaltsort um. Viel konnte sie jedoch nicht erkennen, da die Nacht allmählich hereingebrochen war, und das Tal mit ihrem schwarzen Vorhang verdunkelte. Doch das war gar nicht weiter schlimm. Nach all der Aufregung war Kristallina ohnehin so müde, dass sie schon bald darauf einschlief. Als Kristallina am nächsten Morgen erwachte, herrschte um sie herum bereits jede Menge Trubel. Gähnend rieb sie sich die Augen und blickte irritiert umher.
Nur wenige Meter von ihr entfernt standen zahlreiche Menschen in dicker Winterkleidung vor einem kleinen Häuschen und unterhielten sich angeregt über ihren heutigen Tagesablauf. Unter ihren schweren Stiefeln befanden sich zwei lange Bretter, durch die sie gezwungen waren, einen gewissen Abstand zueinander einzuhalten, während sie sich alle hintereinander in eine Reihe aufstellten und warteten. Nach und nach wurden sie nun paarweise in merkwürdige Schwebestühle verfrachtet, die oben an einem langen Drahtseil befestigt waren, und die Leute in gemäßigtem Tempo den Berg hinauf beförderten. Kristallina konnte kaum glauben, was sie da sah. Vorsichtig stieß sie eine der anderen Schneeflocken an und fragte erstaunt: "Sag mal, was ist denn hier los? Warum laufen die Menschen denn mit diesen komischen Brettern herum und fliegen auf schwebenden Stühlen den Berg hinauf?" Die andere Schneeflocke lachte amüsiert, als sie die Frage hörte. Dann aber erklärte sie der immer noch ratlosen Kristallina, was es mit den komischen Brettern und den schwebenden Stühlen auf sich hatte. "Die Menschen wollen hoch oben auf dem Berg zu den Skigebieten, um mit ihren langen Brettern über die verschneiten Pisten zu fahren. Weil es für sie aber viel zu anstrengend und mühselig ist, den Anstieg zu Fuß zu bewältigen, nehmen sie den Sessellift, und lassen sich damit bequem nach oben bringen!" Kristallina nickte bedächtig und starrte nachdenklich zu dem kleinen Häuschen hinüber, wo sich inzwischen noch weitere Leute auf ihren Skiern eingefunden hatten.
Stirnrunzelnd wandte sie sich schließlich wieder an die andere Schneeflocke.
"Wie lange bleiben die Menschen denn dort oben?", hakte sie interessiert nach. "Die meisten von ihnen verbringen den ganzen Tag auf den Skipisten und kommen erst gegen Abend wieder hinunter ins Tal." erklärte die andere Schneeflocke. Mit einem mahnenden Unterton in der Stimme fügte sie noch hinzu: "Aber pass bloß auf, dass du nicht an einem der Skier haften bleibst und mit ins Dorf geschleppt wirst, wenn die Menschen abends auf ihren Brettern hier an uns vorbei sausen. Viele von uns sind dadurch schon an den scheußlichsten Orten gelandet!" Als Kristallina das hörte, zuckte sie urplötzlich zusammen und dachte wieder an den wunderschönen Weihnachtsbaum, zu dem sie doch eigentlich wollte. Obwohl die andere Schneeflocke sie eher davor gewarnt hatte, auf einem der Skier mit zu reisen, konnte Kristallina es kaum erwarten, dass es Abend wurde und die Menschen sich mit ihren Skibrettern ins Tal begaben. Immerhin war das für sie die einzige Möglichkeit, von hier fort zu kommen. Voller Unruhe wartete Kristallina nun darauf, dass sich der Tag endlich seinem Ende neigte, und die ersten Skifahrer hinab ins Tal glitten. Nie zuvor in ihrem bisherigen Leben, war ihr ein Tag so lang erschienen wie dieser. Unentwegt starrte Kristallina zum Himmel hinauf, um dem Lauf der Sonne zu folgen, die sich gerade heute wohl so gar nicht dem Horizont nähern wollte. Zwischendurch wandte sie dabei immer wieder mal den Blick nach hinten, in der Hoffnung, doch bald einen etwas verfrüht umkehrenden Skifahrer zu erblicken, wurde jedoch jedes Mal aufs Neue enttäuscht. Erst als sie nach etlichen Stunden völlig erschöpft in sich zusammen sank, verabschiedete sich die Sonne allmählich und ließ die ersten Skifahrer ins Tal zurückkehren. Kaum dass Kristallina aus weiter Ferne die fröhlichen Stimmen einer Skigruppe vernahm, war sie auch schon wieder hellwach. Aufgeregt sah sie zu der Gruppe hinüber, die mit ziemlich hoher Geschwindigkeit auf sie zugerast kam. Im Nu sauste der erste Skifahrer an ihr vorbei, dicht gefolgt von einem zweiten, der nur wenige Sekunden später ganz nah bei ihr über die Schneedecke preschte. Kristallina starrte den beiden ungläubig hinterher. "Bei solch einem Tempo habe ich doch niemals eine Chance, mich an einem der Skier festzuhalten!" dachte sie erschrocken.
Doch noch ehe sie sich versah, wurde sie auch schon zusammen mit einigen anderen Schneeflocken von einem der nächsten Skifahrer aus der Gruppe erfasst und auf eine der beiden Skibretter geschleudert. Während die anderen Schneeflocken jedoch alles daran setzten, sich so schnell wie möglich wieder von den Skiern zu lösen, hielt Kristallina sich mit aller Kraft fest, um nur ja nicht wieder herunter zu fallen. Schließlich war dies vorerst die einzige Möglichkeit für sie, ihre Reise zu dem wunderschönen Weihnachtsbaum fort zu setzen. Dabei war es wahrlich kein Leichtes, nicht gleich wieder von den Skiern herunter zu purzeln. Immer wieder wurde die kleine Schneeflocke von links nach rechts und dann wieder von rechts nach links geschleudert, und das bei einer solch hohen Geschwindigkeit, dass ihr fast schon schwindelig wurde. Doch als die ersten Häuser des kleinen Dorfes nur noch wenige Meter von ihnen entfernt waren, fand Kristallinas rasante Fahrt ein baldiges Ende.
Der junge Mann, dem sie die waghalsige Tour zu verdanken hatte, schnallte seine Skier ab und hob die Bretter lässig auf seine Schulter. Kristallina, die sich noch immer auf einem der Skier befand, atmete erleichtert auf.
Endlich konnte sie sich eine kleine Verschnaufpause gönnen und wurde dabei sogar noch weiter mit ins Dorf hinein genommen. Neugierig betrachtete sie die hübschen Häuschen, und versuchte eifrig, einen kurzen Blick durch die zum Teil bereits hell erleuchteten Fenster zu erhaschen. Doch abgesehen von einer kleinen Familie, die fröhlich-plaudernd beim Abendessen saß und einem älteren Ehepaar, dass es sich im Wohnzimmer vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte, konnte sie leider nicht viel erkennen. Zumal ihr abendlicher Spaziergang durch das kleine Dorf schon bald ein jähes Ende fand. Denn der junge Skifahrer hatte sein Ziel nun endgültig erreicht und blieb vor einer recht einfachen aber dennoch gemütlichen Hütte stehen. Kristallina, die sich den plötzlichen Halt nicht erklären konnte, schaute verwundert umher. Was wollte der Mann denn ausgerechnet bei dieser merkwürdigen Hütte, aus deren Inneren laute Musik und unzählige, wild-durcheinander redende Stimme drangen? Bevor Kristallina jedoch eine Antwort darauf wusste, nahm der Mann auch schon seine Skier von der Schulter und steckte sie schwungvoll neben der Eingangstüre in den Schnee, wo sich bereits etliche andere Skibretter befanden. Das ganze geschah so überraschend, dass Kristallina gar keine Gelegenheit mehr hatte, sich noch rechtzeitig wieder an ihrem Skibrett fest zu klammern. Statt dessen purzelte sie Hals über Kopf hinunter auf den verschneiten Boden, wo sie zunächst völlig verwirrt liegen blieb. Als sie sich von ihrem plötzlichen Sturz wieder etwas erholt hatte, stieß sie eine der anderen Schneeflocken an, um zu erfahren, wo sie denn nun gelandet sei.
Doch die andere Schneeflocke verdrehte nur genervt die Augen und entgegnete mürrisch: "Ich habe wirklich einen verdammt anstrengenden Tag hinter mir!
Also lass mich gefälligst schlafen!" Kristallina wich erschrocken zurück und schwieg betroffen. Offenbar waren die Schneeflocken hier unten im Dorf bei Weitem nicht so freundlich und aufgeschlossen wie die Schneeflocken oben in den Bergen. Traurig rollte sie sich schließlich zusammen und schlief bald darauf ein. Die vielen neuen Eindrücke und Erlebnisse des vergangenen Tages hatten sie derart müde werden lassen, dass sie erst wieder erwachte, als die Sonne am nächsten Morgen bereits ganz hoch oben am Himmel stand. Das Leben in dem kleinen Dorf hatte längst wieder begonnen und trieb nun etliche Bewohner durch die schmalen Gassen und Straßen. Mit verschlafenem Blick musterte Kristallina die vielen Leute, die mit ihren schweren Winterstiefeln über die verschneiten Gehwege stapften. Vorsichtig schielte sie zu den anderen Schneeflocken hinüber, traute sich aber nicht, diese noch einmal anzusprechen. Vermutlich waren sie heute auch nicht viel gesprächiger als am Abend zuvor. Daher beschloss Kristallina, selbst heraus zu finden, wo sie sich nun eigentlich befand. Neugierig betrachtete sie die umliegenden Häuser und ließ ihre noch recht müden Augen langsam über die schneebedeckte Straße und den gegenüberliegenden Platz gleiten. Doch bis auf ein paar spielende Kinder, die lachend über die Schneedecke liefen und sich zuweilen einen Schneeball entgegen warfen, gab es für Kristallina scheinbar nichts Besonderes zu entdecken. Als sie ihren Blick gerade wieder von dem nur wenig interessanten Schauspiel abwenden wollte, entdeckte sie plötzlich ein merkwürdiges Gebilde in der Mitte des Platzes. Eingehend beäugte die kleine Schneeflocke die imposante Konstruktion, die sich wie ein riesiger Turm dem Himmel entgegen streckte und überall mit bunten, glänzenden Kugeln behangen und mit zahlreichen Holzfiguren und goldenen Sternen geschmückt war.
Kristallina stockte der Atem. War das etwa der Weihnachtsbaum, von dem sie schon so lange träumte? Aber natürlich war er das, schoss es ihr plötzlich wie ein Blitz durch den Kopf. Die kleine Schneeflocke konnte ihr Glück kaum fassen. Sie hatte ihn tatsächlich gefunden. Ihren Weihnachtsbaum! Allzu lange sollte Kristallinas überschwengliche Freude jedoch nicht wären. Denn obwohl sie ihren heiß und innig geliebten Weihnachtsbaum nun endlich gefunden hatte, überfiel sie mit einem male eine tiefe Traurigkeit. Was nützte es ihr denn schon, dass sie den wunderschönen Tannenbaum gefunden hatte, wenn sie doch etliche Meter von ihm entfernt auf dem Boden lag? Bis Heilig Abend war es nicht mehr lang und Kristallina hatte keine Ahnung, wie sie zu den anderen Schneeflocken auf dem so festlich geschmückten Tannenbaum gelangen sollte. Wehmütig sah Kristallina zu dem wunderschönen Tannenbaum hinüber und dachte angestrengt über eine Lösung ihres Problems nach. Den ganzen Tag brachte sie damit zu, ohne dass ihr etwas einfallen wollte, und schlief erst spät in der Nacht ein. Auch an den darauf folgenden Tagen erging es der kleinen Schneeflocke nicht anders. Stunde um Stunde grübelte sie über eine Lösung nach und konnte ihren immer trauriger werdenden Blick dabei nicht eine Sekunde von dem wunderschönen Weihnachtsbaum abwenden, bis ihr des Nachts irgendwann vor lauter Müdigkeit die Augen zufielen. Als Kristallina schließlich am Morgen des 24. Dezember erwachte, war sie so niedergeschlagen, dass sie den Anblick des Weihnachtsbaumes kaum noch ertragen konnte. Den ganzen Tag über hielt sie die Augen fest geschlossen und blinzelte nur ab und an einmal hinüber zu dem Marktplatz, um ihre Augen gleich darauf nur noch fester zu schließen. Viel zu schnell neigte sich der Tag seinem Ende zu und nur wenige Stunden nach Einbruch der Dunkelheit ertönten auch schon die schweren Kirchturmglocken, um das Ende der Christmette einzuläuten. Nach und nach versammelten sich sämtliche Dorfbewohner mit ihren Kindern vor dem festlich geschmückten Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz. Auch aus der kleinen Hütte, vor der Kristallina nach ihrer Reise auf den Skiern gelandet war, strömten die Gäste allmählich hinaus, um zu dem Tannenbaum zu gehen. Als dann gleich mehrere Leute auf einmal die Hütte verließen, kam es an der Tür zu einem größeren Gedrängel.
Dabei verlor eine junge Frau ihren dicken Wollschal, der genau auf Kristallina landete. Lachend hob die Frau ihren Schall auf und schlang ihn samt Kristallina um ihren Hals. Doch von all dem bekam die kleine Schneeflocke zunächst gar nichts mit. Zumal sie viel zu sehr damit beschäftigt war, jeglichen Gedanken an ihren geliebten Weihnachtsbaum in ihrem Kopf zu verdrängen. Als Kristallina kurz darauf wieder einmal ihre Augen einen winzigen Spalt öffnete, um einen ganz kurzen Blick auf den Weihnachtsbaum zu erhaschen, blieb ihr vor Schreck beinahe das Herz stehen.
Die kleine Schneeflocke befand sich tatsächlich unmittelbar vor dem hell erleuchteten Tannenbaum. Ungläubig betrachtete sie die glänzenden Kugeln und roch den würzigen Duft des eindrucksvollen Nadelbaumes, der ihr sanft in die Nase strömte. Nie hätte Kristallina es für möglich gehalten, dass sie ihrem Weihnachtsbaum doch noch so nahe sein würde. Aber die kleine Schneeflocke sollte ihrem Ziel noch viel näher kommen, als sie es in diesem Moment erwartet hatte. Denn plötzlich tauchte ein älterer Herr hinter der jungen Frau mit dem Wollschall auf und fing gewaltig an zu niesen. Noch bevor sich der Mann die Hand vor das Gesicht halten konnte, wurde Kristallina auch schon von dem heftigen Druck hoch in die Luft gewirbelt und zu den anderen Schneeflocken auf den Weihnachtsbaum katapultiert. War das eine Freude, als Kristallina neben ihren alten Bekannten aus der Schneewolke landete. Keiner von ihnen hatte je geglaubt, dass die kleine Schneeflocke tatsächlich noch den Weg zu dem Weihnachtsbaum finden würde. Am meisten jedoch freute sich Kristallina! Sie hatte es geschafft! Sie war auf ihrem heiß und innig geliebten Weihnachtsbaum angekommen! Überglücklich schmiegte sie sich an den duftenden Tannenzweig, auf dem sie gelandet war und lauschte andächtig dem melodischen Gesang der Dorfbewohner, die sich um den Weihnachtsbaum versammelt hatten. Eine Stunde erfüllte der weihnachtliche Lobgesang die eisige Nachtluft und hallte noch lange danach von den hohen Bergen herüber.
Nie zuvor in ihrem Leben hatte Kristallina etwas so schönes und einzigartiges erlebt, wie in dieser Nacht. Im nächsten Jahr, das wusste die kleine Schneeflocke schon jetzt, würde sie ganz sicher wieder an diesen Ort zurückkehren. Aber dann würde Kristallina die Anweisungen der Wetterfeen genau befolgen, um ihre Reise zu dem wunderschönen Weihnachtsbaum nicht noch einmal zu gefährden.



Eingereicht am 14. April 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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