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Ein Geschenk der Hoffnung

© Andrea Spakowski


In wenigen Tagen ist Weihnachten. Die Straßen im Zentrum von Sao Paulo sind wie jedes Jahr festlich geschmückt und durch die vollen Kaufhäuser ertönt fröhliche Weihnachtsmusik. Zahlreiche Leute laufen eilig von Geschäft zu Geschäft, um ihre letzten Weihnachtseinkäufe zu erledigen und noch das ein oder andere Geschenk für ihre Liebsten zu besorgen, während sich erwartungsfrohe Kinder die Nase an den Schaufenstern der Spielzeugläden platt drücken und mit offenen Mündern die üppigen Auslagen bestaunen. Doch von all dem scheint der neunjährige Junge, der neben dem Eingang eines großen Geschäftshauses kauert, rein gar nichts zu bemerken. Den Blick starr auf den Gehweg gerichtet sitzt er auf seinem kleinen Schemel und wartet auf Kundschaft. Marcelo ist Schuhputzer. Seit knapp zwei Jahren schon bietet er Tag für Tag von morgens bis abends in den Straßen von Sao Paulo seine Dienste an, um seine Mutter und seine drei Geschwister finanziell zu unterstützen. Denn Marcelos Familie ist arm. So arm, dass es oft noch nicht einmal dafür reicht, um alle Kinder richtig satt zu bekommen. An manchen Tagen gibt es für Marcelo und seine Geschwister nicht mehr als ein Stück altes Brot und ein paar Gemüseabfälle, die seine Mutter auf dem Markt vom Boden aufgelesen hat. Und wenn es ganz schlimm kommt, so haben sie nicht einmal das. Mit leerem Magen liegt Marcelo dann des nachts neben seinen Geschwistern auf der alten, schmutzigen Matratze in der kleinen Wellblechhhütte, in der es weder Strom noch fließend Wasser gibt, und träumt von einem besseren Leben. Dann stellt er sich vor, wie es wäre, zur Schule zu gehen, um Lesen und Schreiben zu lernen und eines Tages eine richtige Arbeit anzunehmen. Eine Arbeit, bei der man genug Geld für seine Familie verdienen kann, damit niemand mehr hungrig zu Bett gehen muss. Doch Marcelo hat kaum noch Hoffnung, dass sich sein Traum jemals erfüllen wird. Sein Vater hat die Familie schon vor etlichen Jahren verlassen und das wenige Geld, das Marcelo zum Unterhalt der Familie beisteuern kann, reicht nicht aus, um davon die teuren Hefte und Stifte für die Schule zu bezahlen. Ganz zu schweigen von den Büchern. Darum sitzt Marcelo weiter jeden Tag vor dem großen Geschäftshaus im Stadtzentrum und sucht den Gehweg nach staubigen
Lack- und Lederschuhen ab. Unermüdlich starren seine dunklen Augen auf das graue Pflaster und lassen ihn bei jedem potentiellen Kunden in die Höhe schnellen. Mit einem lauten "Lustra! Lustra!" versucht Marcelo seine Dienste an den Mann zu bringen und wird dabei nicht selten enttäuscht. Kaum einer nimmt Notiz von dem schmächtigen Jungen, der immer wieder lautstark seine Dienste anpreist. Gerade heute, so kurz vor Weihnachten, ist es ganz besonders schlimm. Die Leute sind so in Eile, dass sie für Marcelo noch nicht einmal ein müdes Lächeln oder ein abwehrendes Kopfschütteln übrig haben. Traurig kehrt er schließlich am Abend nach Hause zurück, wo seine Mutter bereits mit einer bescheidenen Mahlzeit auf ihn wartet. Doch Marcelo möchte nichts essen. Die Enttäuschung über seinen mehr als schlechten Arbeitstag lastet so schwer auf ihm, dass er einfach keinen Bissen herunter bekommt. Stattdessen legt er sich auf die alte Matratze am Boden und hofft, dass ihm der morgige Tag mehr einbringen wird. Doch auch dieses Mal läuft das Geschäft zunächst nicht viel besser. Wieder ziehen unzählige Passanten an Marcelo vorbei, ohne ihm dabei nähere Beachtung zu schenken. Erst am späten Nachmittag hat Marcelo endlich die Gelegenheit, seine Fähigkeiten als Schuhputzer unter Beweis zu stellen und somit ein paar Centavos zu verdienen. Ein junger Mann in einem eleganten Anzug bleibt lachend vor ihm stehen und schaut auf seine schwarzen Lederschuhe herab. Obwohl seine offenbar recht neuen Schuhe noch nicht sonderlich verschmutzt sind, nimmt er Marcelos Dienstleistung bereitwillig in Anspruch. Eifrig macht sich der Junge sogleich ans Werk und staubt fein säuberlich die schwarzen Lederschuhe des jungen Mannes ab, ehe er sorgsam die Schuhcreme aufträgt und sein Tuch in die Hand nimmt, um die Schuhe kräftig zu polieren. Blitzschnell fährt er mit dem Tuch über das schwarze Leder, um es in kürzester Zeit auf Hochglanz zu bringen, und lässt den Lappen dabei immer wieder eindrucksvoll knallen.
Klappern gehört schließlich zum Handwerk. Der Mann ist sichtlich zufrieden.
Lächelnd betrachtet er seine frisch polierten Lederschuhe und drückt Marcelo ein paar Münzen in die Hand, ehe er im dichten Menschengewühl verschwindet.
Marcelo setzt sich wieder auf seinen kleinen Schemel und hält abermals Ausschau nach schmutzigen Schuhen. Bis zum Abend halten noch drei weitere Kunden bei ihm an, die seine eifrigen Dienste mit einem beachtlichen Trinkgeld entlohnen. Marcelo ist erleichtert. Endlich mal wieder ein Tag, an dem er nicht mit leeren Händen nach Hause kehren muss. Als er die kleine Wellblechhütte erreicht, liegen seine jüngeren Geschwister bereits auf ihrer Matratze und schlafen. Lächelnd holt Marcelo die Münzen aus seiner Hosentasche und legt sie auf den alten Holztisch. "Schau, wieviel ich heute verdient habe!" verkündet er nicht ohne Stolz, ehe er sich zu seiner Mutter an den Tisch setzt. Liebevoll fährt ihm die Mutter mit der Hand durch sein wuscheliges Haar, während sich Marcelo ein Stück von dem trockenen, harten Brot abbricht, dass sie ihm zu der noch lauwarmen Suppe reicht. Mit vollem Mund fängt er an, seiner Mutter von dem wahrhaft erfreulichen Arbeitstag zu erzählen und schlürft dabei genüsslich die Suppe von dem Löffel, als seine kleine Schwester plötzlich von ihrem Nachtlager aufsieht. "Der Pfarrer war heute morgen hier!" unterbricht sie den eifrigen Redefluss ihres großen Bruders. Marcelo runzelt überrascht die Stirn und wirft seiner Mutter einen fragenden Blick zu. Mit einer unmissverständlichen Geste gibt diese ihrer Tochter zu verstehen, dass sie weiter schlafen soll und wendet sich dann wieder ihrem ältesten Sohn zu. "Ja, der Pfarrer war heute morgen hier." berichtet sie mit leiser Stimme. "Er kam mit einer Frau von der Fürsorge und wollte mit mir über das bevorstehende Weihnachtsfest reden!" Marcelo schüttelt irritiert den Kopf. "Welches Weihnachtsfest? Für uns gibt es doch gar kein Weihnachtsfest!" entgegnet er ratlos. Die Mutter nickt bedächtig und erklärt: "Das habe ich den beiden auch gesagt! Doch sie meinten, dass es in diesem Jahr anders wäre. Vor ein paar Tagen sind hier in Sao Paulo ganz viele Päckchen aus einem fernen Land angekommen. Der Pfarrer sagte, es seien Weihnachtsgeschenke aus Deutschland. All diese Geschenke sollen nun am Weihnachtsabend bei einer kleinen Feier an die Kinder aus den Armenvierteln verteilt werden." Marcelo kann gar nicht glauben, was ihm seine Mutter soeben erzählt hat. Ungläubig starrt er sie mit großen Augen an und legt achtlos sein Brot aus der Hand. "Das alles hat der Pfarrer gesagt?" raunt er mit heiserer Stimme. Seine Mutter nickt stumm und schiebt nachdenklich die Münzen auf dem Tisch hin und her, die ihr Sohn heute verdient hat. Obwohl Marcelo weiß, dass seine Mutter sich so etwas niemals ausdenken würde, fällt es ihm schwer, ihren Worten tatsächlich Glauben zu schenken. Der kleine Schuhputzerjunge kann sich einfach nicht vorstellen, dass es für ihn und seine Geschwister in diesem Jahr eine richtige Weihnachtsfeier geben soll.
In all den anderen Jahren zuvor hatte es ein solches Fest für ihn und seine Familie schließlich auch nie gegeben. Warum sollte das in diesem Jahr plötzlich anders sein? Schweigend starrt Marcelo auf seinen Teller und denkt nach. Vielleicht stimmt das mit der Weihnachtsfeier ja tatsächlich.
Vielleicht feiern sie alle zusammen in diesem Jahr wirklich ein richtiges Weihnachtsfest. Aber Geschenke? Von fremden Menschen aus einem fernen Land?
Wer sollte ihm denn etwas schenken wollen? Woher sollen ihn die Menschen aus dem fernen, fremden Deutschland denn überhaupt kennen? Marcelo ist völlig durcheinander. Immer wieder bittet er seine Mutter, ihm noch einmal die genauen Worte des Pfarrers zu sagen und stellt ihr unzählige Fragen, auf die sie jedoch keine Antwort weiß. Als Marcelo an diesem Abend zu Bett geht, kann er wieder einmal, wie schon so oft, nicht einschlafen. Doch dieses Mal ist es nicht der Hunger, der ihn die halbe Nacht wach hält. Unentwegt denkt er darüber nach, was seine Mutter ihm bei seiner Heimkehr erzählt hat, und versucht dabei, sich vorzustellen, wie so eine Weihnachtsfeier wohl sein mag. Vielleicht würde es ja einen richtigen Weihnachtsbaum mit goldenen Sternen und für alle ein leckeres Essen geben. Eine warme Gemüsesuppe mit frischem Brot oder sogar ein Stück Fleisch und Kartoffeln. Und dann, so hat es ihm die Mutter jedenfalls gesagt, würde jedes Kind eines von den Weihnachtspäckchen aus dem fernen Land bekommen. Aber was würde wohl in den Päckchen drin sein? Woher sollten denn die fremden Leute wissen, was sich so ein kleiner Schuhputzerjunge wie Marcelo wünscht? Wo er doch selbst gar nicht einmal so recht weiß, wie seine Wünsche eigentlich aussehen. Denn Marcelos Wünsche haben keinen materiellen Wert. Marcelos Wünsche bestehen nur aus vielen, kleinen Träumen. So träumt er manchmal davon, dass sein Vater wieder zurück nach Hause kommt, damit seine Mutter nicht mehr so alleine und traurig ist, oder dass er mit seiner Familie in einer größeren Hütte wohnt, wo es für jeden eine eigene Matratze zum Schlafen gibt. Sein größter Traum aber ist es, eines Tages zur Schule gehen zu können. Dann bräuchte er nicht mehr Tag für Tag seiner tristen Arbeit als Schuhputzer nachgehen, sondern könnte endlich lesen und schreiben lernen. Aber Träume kann man nun mal nicht in einem Karton verpacken und auf die Reise schicken.
Das weiß Marcelo nur zu gut. Und das wissen sicher auch die fremden Leute aus dem fernen Deutschland.
Als Marcelo an den folgenden Tagen wie gewohnt in die Stadt geht, um seine Arbeit als Schuhputzer zu verrichten, ist er immerzu darum bemüht jegliche Gedanken an die bevorstehende Weihnachtsfeier zu verdrängen. Zum einen weil er viel zu große Angst hat, dass sich alles letztlich doch nur als Missverständnis herausstellen könnte. Zum anderen aber auch, weil er sich auf seine Arbeit konzentrieren muss, um seiner Mutter am Abend etwas Geld mit nach Hause zu bringen. Auch Marcelos Mutter verliert kein einziges Wort mehr über die Weihnachtsfeier. Sie möchte ihren Sohn nicht noch einmal in so große Unruhe versetzen, zumal sie selbst nicht weiß, was die Familie tatsächlich am Weihnachtsabend erwartet. Obwohl es Marcelo anfangs sehr schwer fällt, nicht mehr an den Besuch des Pfarrers und die Weihnachtsfeier zu denken, verblasst die Erinnerung an den Abend, an dem ihm seine Mutter davon erzählt hat, für ihn mit jedem Tag etwas mehr. Am Morgen des 24.
Dezember ist er schließlich sogar davon überzeugt, dass er sich die Geschichte von der Weihnachtsfeier selbst nur eingeredet hat. Das Gespräch zwischen ihm und seiner Mutter erscheint ihm so unwirklich, dass er alles nur noch für einen belanglosen Traum hält, den er vor einigen Nächten gehabt haben muss. Wie gewohnt geht Marcelo auch an diesem Tag zu seinem Platz vor dem großen Geschäftshaus und hält eifrig nach schmutzigen Lack- und Lederschuhen Ausschau. Doch die wenigen Kunden, die sich heute von Marcelo die Schuhe auf Hochglanz bringen lassen, zeigen sich nicht gerade von ihrer spendablen Seite, sodass die Ausbeute eher bescheiden ausfällt. Enttäuscht geht Marcelo schließlich am frühen Abend nach Hause. Zu seiner großen Verwunderung warten seine Mutter und seine jüngeren Geschwister jedoch nicht wie sonst in der maroden Wellblechhütte auf ihn, sondern laufen ihm lachend entgegen, als sie Marcelo in der Ferne kommen sehen. Marcelo ist sichtlich irritiert. Fragend sieht er seine Mutter an, während seine Geschwister unruhig an ihm herumzerren und ihn zum Mitkommen bewegen wollen. Immer wieder reden sie auf ihn ein und erzählen in einem Fort von der Weihnachtsfeier, zu der sie nun alle zusammen gehen werden. Als Marcelo das hört, sind all seine Gedanken an das bevorstehende Fest, die er in den vergangenen Tagen so vehement verdrängt hat, mit einem Schlag wieder da. So schnell er nur kann, läuft er zu der kleinen Wellblechhütte, um seinen Schuhputzkasten dort abzustellen und gleich darauf mit seiner Familie den kleinen Gemeindesaal nicht weit von dem Armenviertel aufzusuchen. Als Marcelo und seine Familie ihr Ziel erreichen, sitzen bereits alle anderen Familien aus dem Armenviertel auf ihren Plätzen. Ein Mann von der Fürsorge reicht Marcelos Mutter zur Begrüßung die Hand und führt sie mit ihren Kindern an einen freien Tisch. Lautes Stimmengewirr erfüllt den festlich geschmückten Saal, untermalt von gedämpfter Weihnachtsmusik, die aus einem alten Lautsprecher am anderen Ende des Raumes dringt. Überall stehen brennende Kerzen, die den dunklen Raum mit ihrem wohlig-warmen Lichtschein durchfluten und sich eindrucksvoll in den leuchtenden Kinderaugen widerspiegeln. Marcelo ist so überwältigt, dass er die vielen neuen Eindrücke zunächst gar nicht richtig realisieren kann. Es ist, als habe er eine völlig andere Welt betreten. Eine Welt, wie es sie sonst nur in den schönsten Märchen gibt. Wie gebannt lässt er seinen Blick immer wieder umherschweifen und entdeckt dabei sogar einen richtigen Weihnachtsbaum, der aufwendig mit allerhand buntem Flitterkram geschmückt ist und in einem eigenartigen Kontrast zu dem merkwürdigen Gebilde steht, dass sich gleich neben dem Baum befindet und mit einem weißen Laken verhüllt ist. Angestrengt überlegt Marcelo, was wohl unter dem Laken verborgen sein mag, doch noch ehe er eine Antwort darauf findet, beginnt auch schon die von allen mit Spannung erwartete Weihnachtsfeier. Mit lauter Stimme wendet sich der Pfarrer an die so zahlreich erschienen Gäste und heißt sie bei einer kleinen Ansprache herzlich willkommen. Dann erklärt er in wenigen Worten den Ablauf des heutigen Weihnachtsabends. Zu Beginn des heiligen Festes möchte der Pfarrer die biblische Weihnachtsgeschichte verlesen, um vor allem den Kindern die ursprüngliche Bedeutung des Weihnachtsfestes etwas näher zu bringen und anschließend mit allen zusammen einige Lieder singen. Den Höhepunkt des Abends soll dann die Verteilung der Weihnachtspäckchen und das abschließende Festessen bilden. Als Marcelo das hört, läuft ihm ein wohliger Schauer über den Rücken. Es stimmt also tatsächlich, dass er und all die anderen Kinder hier im Saal heute ein Weihnachtsgeschenk bekommen werden. Andächtig lauscht er der biblischen Weihnachtsgeschichte, die nur wenige Augenblicke später von dem Pfarrer vorgetragen wird und singt voller Ehrfurcht und Dankbarkeit jedes Weihnachtslied mit, auch wenn er den Text nicht wirklich kennt. Dann steuert das kleine Weihnachtsfest auch schon allmählich auf seinen mit Spannung erwarteten Höhepunkt zu: die Verteilung der Weihnachtspäckchen!
Lächelnd gehen der Pfarrer und ein Mann von der Fürsorge hinüber zu dem Weihnachtsbaum und nehmen ganz langsam das weiße Laken von dem daneben befindlichen Gebilde herunter. Ein leises Raunen geht durch den Saal, als das Geheimnis endlich gelüftet wird: ein riesiger Berg bunt-glitzernder Geschenkpäckchen! Mit klopfendem Herzen beobachtet Marcelo, wie der Pfarrer gemeinsam mit dem Mann von der Fürsorge anfängt, die vielen glitzernden Päckchen an die kleinen Gäste zu verteilen. Zögernd nehmen die ersten Kinder eines der vielen Weihnachtspäckchen entgegen und halten es vorsichtig in ihren kleinen Händen. Von allen Seiten bestaunen sie das liebevoll verpackte Geschenk und trauen sich zunächst gar nicht, das hübsche Weihnachtspapier von dem Päckchen zu entfernen. Dann aber überwinden sie ihre anfängliche Scheu und öffnen behutsam das für sie bestimmte Geschenk. Bald schon ist der ganze Saal von leisem Papiergeknister erfüllt, dass sich nach und nach mit freudigen Überraschungsrufen und glücklichem Kinderlachen vermischt.
Angespannt verfolgt Marcelo jeden Schritt des Pfarrers, der zusammen mit seinem Helfer von einer Familie zur nächsten geht, und lässt sie nicht eine Sekunde aus den Augen. Dann endlich hat der Pfarrer auch ihren Tisch erreicht und gibt Marcelo und seinen Geschwistern ebenfalls jeweils eines der hübsch verzierten Päckchen. Marcelo kann noch gar nicht glauben, dass er soeben ein Weihnachtsgeschenk erhalten hat. Das erste Weihnachtsgeschenk seines Lebens! Vorsichtig lässt er seine kleinen Hände immer wieder über das glänzende Goldpapier fahren. Wie schön sich das anfühlt! Marcelo ist so überwältigt, dass er es minutenlang gar nicht wagt, das Päckchen zu öffnen.
Allein der Anblick dieses Weihnachtspäckchens erweckt in ihm ein solches Glücksgefühl, das er diesen Moment einfach noch ein bisschen länger auskosten möchte. Dann hebt er schließlich doch den Deckel des hübsch verzierten Kartons hoch und legt ihn mit zitternden Händen beiseite, ehe er einen zaghaften Blick in das Innere seines Weihnachtspäckchens wirft. Als Marcelo sieht, was alles in seinem Päckchen ist, stockt ihm abermals der Atem. Der kleine Karton ist bis zum Rand mit den herrlichsten Dingen gefüllt: zwei Tafeln feinste Schokolade, eine große Tüte mit köstlichen Fruchtbonbons und sogar ein richtiges Spielzeugauto aus Metall. Der kleine Schuhputzerjunge, der noch nie ein eigenes Spielzeug besessen hat, kann sein Glück kaum fassen. Mit rotglühenden Wangen holt Marcelo das Auto aus dem Karton und betrachtet es hingebungsvoll von allen Seiten. Als sein Blick dabei schließlich wieder auf das Weihnachtspäckchen fällt, entdeckt er plötzlich etwas, dass er selbst in seinen kühnsten Träumen nie für möglich gehalten hätte. Die fremden Leute aus Deutschland haben ihm ein nagelneues Schreibheft und mehrere bunte Bleistifte geschickt. Sogar ein Lineal haben sie für ihn mit eingepackt! Fassungslos schlägt sich Marcelo die Hand vor den Mund und spürt, wie ihm mit einem Male Tränen der Freude in die Augen schießen. Woher haben die fremden Leute denn nur von seinem großen Traum gewusst? Wie haben sie denn nur erahnen können, dass er sich nichts sehnlicher wünscht, als eines Tages in die Schule zu gehen? Zaghaft holt Marcelo das Schreibheft aus dem Karton und stellt sich in seinen Gedanken vor, wie er die schneeweißen Seiten mit den fein gezogenen Linien eines Tages mit den ersten Wörtern füllen wird, die er in der Schule zu schreiben gelernt hat. Auch wenn Marcelo auf diesen Tag noch lange warten muss, so hat er dennoch mit diesem Geschenk endlich wieder ein Stück neue Hoffnung auf ein besseres Leben. Nun weiß Marcelo ganz sicher, dass man Träume doch verschicken kann.



Eingereicht am 16. April 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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