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Der Gedanke der Weihnacht oder: Weihnachtshund Charly

© Petra Kramp


Mama hatte ihm wieder nicht zugehört, Mama hörte ihm viel zu selten zu in letzter Zeit. Einen Hund hatte er sich gewünscht, einen richtigen, einen echten, einen, der, wenn man ihn streichelte, auch wirklich mit dem Schwanz wedelte, gerade eben, weil er es so wollte, und nicht, weil die eingebaute Batterie es von ihm verlangte.
Und was hatte er stattdessen bekommen? Eine Plüschkatze. Nun, das war zwar nicht alles gewesen, was er unter dem Weihnachtsbaum vorfand, aber es war das einzige, was man mit seinem eigentlichen Wunsche am ehesten in Verbindung bringen konnte. Den anderen, noch viel größeren Wunsch konnte ihm leider niemand erfüllen, dessen war er sich schon bewusst.
Er streichelte mechanisch über das Fell des Katzentieres.
Tim war unglücklich, zutiefst unglücklich. Dicke Tränen kullerten über seine Wangen.
Das letzte selbstgebackene Plätzchen war gegessen, die letzten Krümel in der Dose aufgelesen, der Christbaumschmuck lag bereits wieder wohlgeordnet in den dafür vorgesehenen Schachteln. Den Weihnachtsbaum hatte seine Mutter schon unmittelbar nach den Festtagen entsorgt. Sie hatte ihn einfach von der Balkonbrüstung in den Innenhof geworfen. Dort lag er jetzt und wurde erst am 7. Januar abgeholt. Mama wollte jetzt nach Weihnachten möglichst alles wieder so herstellen, wie vor dem Fest.
Als wenn das so einfach wäre! Und Tims sehnlichster Wunsch wurde ebenfalls weggeräumt, beiseite geschafft.
"Ach, der Junge, er wünscht sich doch immer so viel, und seine Wünsche ändern sich doch so schnell", hatte Mama gestern am Telefon zu Tante Hedwig noch gesagt und dann wieder von ihren eigenen Problemen geredet.
Dass Tante Hedwig am anderen Ende der Leitung zu Mama erwidert hatte, sie müsse jetzt trotz allem mehr auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen und acht geben, das hatte Tim natürlich nicht mitbekommen.
Tims Mama war seit einem knappen Jahr Witwe und somit notgedrungen allein erziehend und mit der gesamten Situation irgendwo hoffnungslos überfordert. Seit ein paar Monaten ging sie wieder arbeiten, denn die Witwen- und Halbwaisenrente reichten hinten und vorne nicht. So war Tim jetzt häufiger auf sich allein gestellt.
Tim saß daher auch diesmal wieder allein im Kinderzimmer. Er vermisste seinen Vater, vor allem den Vater, den er vor dem Ausbruch dieser schrecklichen Krankheit, die man Krebs nennt, kannte. Wie er ausgelassen mit ihm getobt und herumgealbert hatte, denn das alles war in den letzten Monaten vor seinem Tod nicht mehr möglich gewesen. Sein Vater hatte seine ganze Kraft gebraucht, um nicht vor Schmerzen durchzudrehen. Aber das wiederum hatte Tim so deutlich gar nicht mitbekommen. Er wusste nur, dass er sich lange Zeit ganz still und unnatürlich ruhig für einen lebhaften neunjährigen Jungen hatte verhalten müssen, um Papa nicht noch mehr Kummer und Aufregung zu bereiten.
Tim vermisste in diesem Moment ganz intensiv seine Mutter, die ihn nur einfach in den Arm hätte nehmen sollen. Und er vermisste, Herrgott noch mal, seinen Hund, den Hund, den er sich in seiner Phantasie wieder und wieder ausgemalt hatte. Sicherlich, er hatte noch nie einen Hund besessen , aber er hatte in Fernsehsendungen gesehen, wie Hunde es fertig brachten, die tollsten Kunststücke zu vollführen, nur um ihre kleinen Herrchen und Frauchen wieder zum Lachen zu bringen. Tim meinte, so ein Hund bräuchte gar keine außergewöhnlichen Dinge zu vollbringen, er sollte einfach nur für ihn da sein, ihn mit seinen treuen Augen ansehen und ihm "zuhören". Und dann wollte er einfach nur seinen Kopf in seinem dichten Fell vergraben…
Tims Schmerz überwältigte ihn so sehr, dass er glaubte, es in der leeren Wohnung nicht mehr auszuhalten. "Mama denkt nur noch an Papa, bestimmt merkt sie lange Zeit erst gar nicht, dass ich nicht mehr da bin", überlegte Tim plötzlich laut. Und dann war sein Entschluss schnell gefasst: Er holte sich ein paar Salzbrezel und einen Apfel, schmierte sich ein Wurstbrot, entdeckte in seiner Hosentasche noch einige klebrige Gummibärchen und zog rasch Schuhe und Jacke an. Wohin er wollte, wusste er noch nicht. Nur weg, einfach weg. Im letzten Moment dachte er noch an seine Wollmütze und den Schal, denn draußen war es kalt. Seine Wegzehrung steckte er in seinen kleinen Rucksack, der an der Garderobe hing. Dazu packte er noch sein Piratenfernrohr und seinen Kompass. Kurz vor dem Hinausgehen lief er nochmals in sein Kinderzimmer und holte sein Sparschwein vom Regal. Mit einem kleinen Hammer zerschlug er es und sammelte die Ersparnisse auf - siebzehn Euro und neunundvierzig Cent, das restliche Geld, das noch nicht den Weg zur Sparkasse gefunden hatte.
Für einen klitzekleinen Moment drehte er sich an der Haustür noch einmal um und warf einen letzten Blick auf sein Zuhause. "Jetzt nur nicht schwach werden", dachte Tim, "ich muss jetzt gehen."
Tim lief in der ersten Zeit ziel- und planlos durch die Stadt, deren Weihnachtsbeleuchtung noch nicht abgebaut worden war. Ihm war ziemlich kalt trotz Winterjacke, und es begann zu schneien, zunächst ganz sachte und dann heftiger werdend. Nach ungefähr einer Stunde des Umherirrens bekam er Hunger, die Salzbrezel und den Apfel aß er zuerst, den Rest wollte er sich für später aufbewahren. Tims Schritte wurden immer langsamer, er wurde zunehmend müder. Leider hatte er vergessen, etwas zu trinken mitzunehmen, und so beschloss er, bei nächster Gelegenheit eine Limonade oder etwas Ähnliches zu kaufen. Er lief weiter und von weitem sah er die Reklametafel einer Tankstelle leuchten. Dorthin wollte er gehen. Tim steuerte geradewegs auf den Eingang der Tankstelle zu, als er plötzlich ein klägliches Wimmern hörte. Es kam von weiter hinten. Tim folgte dem Geräusch und blieb wie angewurzelt stehen: An einem Laternenpfahl angebunden saß ein kleines Bündel Hund mit struppigem Fell und einem Hundeblick zum Steinerweichen. Der Junge trat näher. Um den Hals trug der Hund ein kleines Schild." Ich heiße Charly, bin 13 Wochen alt und suche ein neues Zuhause."
Tim war überwältigt. Da wünschte er sich nichts sehnlicher als einen Hund, und jetzt saß eines der niedlichsten Hundebabies geradewegs vor ihm. Mittlerweile winselte der Wollknäuel wie verrückt und zerrte an der Leine. Er versuchte an Tim immer wieder hochzuspringen.
An den Weihnachtsmann glaubte Tim schon lange nicht mehr, aber für einen kurzen Augenblick dachte er tatsächlich an die Möglichkeit, dass es ihn am Ende doch gäbe. Aber, so schalt er sich, aus dem Alter, an Wunder zu glauben, sei er doch längst hinaus. Wäre Vater denn sonst gestorben?
Tim löste die Leine vom Laternenpfahl, an die der Hund festgebunden war. Der Welpe gebärdete sich jetzt noch wilder und versuchte, Tims Hände und sein Gesicht zu lecken. "Bestimmt hast du einen Bärenhunger, kleiner Charly. Komm mal her, ich denke, jetzt ist genau die richtige Zeit, um das Wurstbrot zu teilen..."
Sie teilten sich das Butterbrot redlich, aber richtig satt waren beide nicht, und Tim bekam plötzlich Angst. Bevor er den Hund gefunden hatte, hatte er einmal kurz daran gedacht, einfach wieder nach Hause zu laufen, wenn er den Heimweg denn nur gefunden hätte. Mittlerweile befand er sich aber in einem ihm völlig unbekannten Stadtteil, und er hatte nicht mehr die leiseste Ahnung, in welche Richtung er nun hätte gehen müssen. Auch sein Kompass war ihm nicht wirklich eine Hilfe. Dabei kam er sich noch so klug vor, dass er zu Hause daran gedacht hatte.
Tim überlegte: Jetzt, in Begleitung eines Hundes, war es ihm nun überhaupt nicht mehr möglich, wieder nach Hause zurückzukehren. Mutter hatte ihm ausdrücklich und unwiderruflich zu verstehen gegeben, dass sie keinen Hund im Haus duldete.
"Macht nichts", sagte er trotz seines beklemmenden Gefühls in der Magengegend, "dann gehen wir halt nicht zurück. Ich lasse dich nicht mehr alleine, hab keine Angst. Wir beide halten zusammen, mir fällt schon noch was ein."
Der kleine Hund schien sich inzwischen etwas beruhigt zu haben, auch war sein erster Hunger gestillt; ruhig lief er neben seinem neuen Freund einher, aber auch ihm schienen die Kräfte zu schwinden. Schließlich war er noch ein Hundebaby und nicht nur kleine Menschenkinder benötigten noch eine Menge Schlaf.
Tim traute sich jetzt nicht mehr, sich etwas zu trinken zu kaufen. Dazu hätte er Charly erneut draußen anleinen müssen, und er wollte es auf keinen Fall riskieren, ihn auch nur für einen kurzen Moment alleine zu lassen. Erstens wollte er Charly nicht unnötig ängstigen, und zweitens sollte keine andere Person ihn mitnehmen. Charly war jetzt s e i n Hund!
Es hatte begonnen noch heftiger zu schneien, und die beiden gelangten zu einem Park, den Tim nie zuvor betreten hatte. Vor lauter Müdigkeit konnte Tim sich kaum noch auf den Beinen halten. Die Aufregungen des Tages forderten zudem ihren Tribut. Mit letzter Kraft schleppte sich der Junge zu einer Parkbank, die natürlich zu dieser Jahres- und Tageszeit menschenleer war. Der Junge befreite die Bank vom Schnee und hob dann den kleinen Hund darauf. Er legte sich nun auch dazu, und wie selbstverständlich kuschelte sich der Vierbeiner an seinen neuen Mensch. Eng aneinandergeschmiegt und sich dabei so klein wie möglich machend, schliefen sie alsbald ein.
Mittlerweile war Tims Mutter von der Arbeit nach Hause gekommen und fand ihren Jungen nicht in der Wohnung vor. Sie entdeckte die Spuren der Butterbrotaktion in der Küche, das zerbrochene und geplünderte Sparschwein, stellte fest, dass Rucksack, Jacke, Mütze und Schal an der Garderobe fehlten und zählte eins und eins zusammen. Sie telefonierte mit allen infrage kommenden Freunden von Tim und zuletzt mit Tante Hedwig. Tante Hedwig konnte aus dem Gestammel und Weinen kaum etwas Zusammenhängendes heraushören, aber als sie begriff um was es ging, reagierte sie blitzschnell.
Sie versuchte Tims Mutter am Telefon zu beruhigen, versprach, sofort vorbeizukommen und informierte darauf hin die Polizei. Tims Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr in der Lage, dies selbst zu erledigen. Glücklicherweise hatte Tante Hedwig direkt einen sehr verständnisvollen Beamten am Apparat, der nicht gleich entgegnete: "Abgehauen? Aber gute Frau, diese Phase macht doch jeder Junge in diesem Alter einmal durch. Bestimmt ist er in der nächsten Stunde wieder zähneknirschend bei ihnen." Im Gegenteil, der Polizist hörte sich alles geduldig an, als Tante Hedwig mit knappen Sätzen auch die Vorgeschichte erzählte und er versprach, sofort bei Tims Mutter vorbeizufahren.
In der Zwischenzeit waren Tim und Charly vor lauter Erschöpfung so fest eingeschlafen, dass sie auch die zentimeterdicke Schneeschicht so schnell nicht aufwecken konnte, denn die Gesichter von Kind und Hund kamen durch ihre Lage nicht mit dem Schneefall in Berührung.
Ungefähr um diese Zeit lief Walter, ein alter Stadtstreicher, mit seinem Hund Friedemann noch Patrouille durch den Park, in der Hoffnung, in den Abfallbehältern etwas Essbares aufzutreiben. Beide waren auf dem Weg zur Heilsarmee, um noch einen warmen Platz für die Nacht zu ergattern. Walter machte sich keine wirklichen Illusionen mehr, doch noch heute in einem Feldbett schlafen zu können. Er überlegte, die Chancen würden steigen, wenn die nette Schwester Christina Dienst hätte, da sie immer beide Augen zudrückte, wenn Walter mit seinem verfilzten Hund vorbeikam. Für Hunde war dieses Etablissement leider strengstens verboten.
Doch Friedemann, der vorher ganz locker neben ihm herlief, witterte plötzlich etwas. Aufgeregt gab er Laut und versuchte, seinen Herrn dazu zu bewegen, die Richtung zu ändern. "Was ist denn los, Friedmann?", wetterte er, sie mussten sich doch beeilen. "Wenn du jetzt nicht mindestens ein halbes, halbwegs genießbares Grillhähnchen aufgestöbert hast, dann Gnade dir Gott", knurrte er.
Doch Friedemann ließ sich nicht beirren und lief in eine andere Richtung. Walter musste seinem Hund wohl oder übel folgen.
"Sapperlottchen", entfuhr es ihm, als er dieses kleine zusammengekauerte Bündel Mensch auf der Bank entdeckte. Den kleinen Hund sah er erst auf den zweiten Blick.
Der Polizist hatte inzwischen Tims Mama aufgesucht, und auch Tante Hedwig saß neben ihr auf der Couch. Sie schluchzte und weinte und rief immerzu:" Lieber Gott, mach, dass ihm nichts passiert ist!" Tante Hedwig war es, die sich darum kümmerte, dass die Polizei ein aktuelles Foto von Tim für die Fahndung bekam und eine genaue Beschreibung der aktuellen Bekleidung. Alle Streifenwagen waren nun informiert.
Walter versuchte indes vergeblich, den Jungen aufzuwecken. "Ja, gut gemacht, Friedemann", lobte er dabei seinen Hund, der ihn beifallheischend ansah. Er trug das noch bewusstlose Kind und den kleinen Hund mit schnellen Schritten aus dem Park heraus zur nächsten Häuserzeile. Er klingelte an der erstbesten Tür, schilderte über die Gegensprechanlage mit knappen Worten den Ernst der Lage. Ein junger Mann öffnete. "Da haben sie aber Glück im Unglück. Ich bin Arzt", stellte sich dieser vor. Gemeinsam legten sie das apathische Kind auf die Couch im Wohnzimmer, und der Arzt begann sofort mit der Ersten Hilfe. Parallel dazu kommandierte er:" Rufen sie das Krankenhaus an, Telefon 334-0, und fordern sie dringendst einen Krankenwagen in die Ludgeristrasse 24, Maiwald ist mein Name, Dr. Maiwald. Ich arbeite dort als Assistenzarzt." Der Doktor zeigte auf das Telefon, und Walter tat, wie ihm geheißen.
In diesem Moment schlug Tim erstmals kurz die Augen auf und blickte sich verwundert um.
"Wo ist mein Hund?", fragte er die Umstehenden. "Mach dir keine Sorgen, alles ist in bester Ordnung. Um deinen Hund kümmert sich schon d e r hier!" Herr Dr.Maiwald zeigte auf einen riesigen Zottelhund, der rührend den Welpen ableckte. Tim verzog den Mund zu einem zaghaften Lächeln und schlief augenblicklich wieder ein. "Rufen sie die Polizei, Mann", befahl Dr. Maiwald, "vielleicht liegt schon eine Vermisstenanzeige vor. Melden sie ihnen, dass hier ein kleiner blonder, etwa 8-10 jähriger Junge mit einem kleinen Hund ist. Die Familie ist bestimmt schon ganz krank vor Sorge."
"Dass ich das noch erleben werde, selbst derjenige zu sein, der die Polizei ruft ", dachte Walter, der sonst immer einen großen Bogen um Polizisten machte.
Etwas später meldete sich bei ihnen telefonisch eine resolut klingende ältere Dame, um die Identität des Jungen zweifelsfrei feststellen zu können. Beinahe hätte Tante Hedwig schon gar nicht mehr weiter gefragt; die Tatsache, dass dieser Junge von einem kleinen Hund begleitet wurde, irritierte sie zunächst sehr. Woher kam nur dieser Hund her? Fragen über Fragen, doch das Wichtigste war doch: Der Junge ist gefunden worden! Blieb nur zu hoffen, dass die Unterkühlung keine wirklichen Folgeschäden nach sich zog.
Der Krankenwagen kam, und der Junge, der inzwischen wieder erwacht war, wurde abgeholt. Es wurde vereinbart, dass sich die Angehörigen direkt zum Krankenhaus begeben sollten.
"So, das war's dann wohl. Nochmals vielen Dank, ich geh dann jetzt mal!"
Dr. Maiwald kam erst jetzt dazu, sich diesen Mann einmal genauer anzusehen.
"Nun", dachte er, " er sieht nicht aus wie einer, dem man im Ritz die Tür aufhält."
Walter bemerkte den Blick und schaute verlegen an sich herunter. Doch viel mehr als sein Aussehen bekümmerte ihn der Gedanke, wo er um diese Zeit noch eine halbwegs anständige Bleibe für die Nacht finden sollte.
Als hätte Herr Maiwald seine Gedanken erraten, entschied er ohne lange zu überlegen:" Sie können heute hier übernachten mit ihrem Hund. Dann kann er sich auch weiter um diesen kleinen Racker hier kümmern."
Walter traute seinen Ohren nicht. Da bot ihm ein Wildfremder mir nichts dir nichts eine Bleibe an, ihm, einen hergelaufenen Penner.
"Danke", murmelte er verlegen.
"Da drüben ist das Bad. Handtücher sind im kleinen Schränkchen rechts vom Waschbecken. Ich lege ihnen gleich noch einen Schlafanzug von mir raus, der müsste ihnen passen."
Walter sah sich suchend um. Und wo sollte er jetzt schlafen? Groß schien die Wohnung nicht gerade zu sein. Herr Maiwald klappte indes einen unscheinbaren Sessel mit geübtem Griff zu einer Schlafstatt auseinander. Es sah richtiggehend gemütlich und bequem aus. Wann hatte Walter zuletzt so komfortabel genächtigt?
Herr Maiwald reichte Walter die Hand. "Georg ist mein Name."
"Walter", erwiderte Walter nur. Er war tief bewegt. Das schien wirklich ein feiner Kerl zu sein, dieser Georg Maiwald, und Standesdünkel schienen ihm ebenfalls fremd zu sein.
"Ach, und für den Hund empfiehlt sich wohl auch eine Wäsche", schob Herr Maiwald noch nach. Das Wörtchen "auch" war ihm nur so herausgerutscht und jetzt im Nachhinein ein wenig peinlich.
"Geht schon klar", meinte Walter trocken.
Als Walter aus dem Bad kam, fühlte er sich so wohl, wie lange nicht mehr. Er roch so frisch und sauber und hatte das gute Gefühl, heute etwas Wichtiges geleistet zu haben. Aus reinem Übermut hatte er sich sogar mit Maiwalds Rasier den Stoppelbart rasiert und etwas von seinem Rasierwasser benutzt.
Friedmann dagegen war nur schwer zum Baden zu bewegen, darüber hinaus ließ er sich nur ungern von seinem kleinen Schützling wegreißen. Aber was sein musste, musste halt sein.
Ein appetitlicher Duft empfing Walter, als auch Friedemann schließlich gebadet war. Es roch herrlich nach Apfelpfannkuchen aus der Küche.
"Das einzige, was ich noch so an Zutaten zu Hause auftreiben konnte", entschuldigte sich Georg.
"Aber die ess ich zudem für mein Leben gern, und es ging ja auch recht schnell."
Walter und Georg setzten sich an den kleinen Tisch im Wohnzimmer und ließen es sich schmecken. Walter hatte die Welt im Döschen, und auch die Hunde kamen zu ihrem Recht: Georg erwarb von seiner Nachbarin über ihm eine große Dose Hundefutter. Natürlich musste er ihr einiges erklären, schließlich hatte auch sie den Krankenwagen gesehen. Für sie jedoch war das Schicksal des kleinen Jungen anscheinend zweitrangig. Ausführlich interessierte sie sich dagegen für den kleinen geretteten Hund.
Georg lag schon eine passende Bemerkung auf der Zunge, aber er hielt wohlweislich den Mund. Solche Leute konnte man nicht belehren und Hauptsache war doch, dass jetzt auch die Tiere etwas Vernünftiges zum Fressen hatten.
Im Krankenhaus waren die Untersuchungen weitestgehend abgeschlossen. Tim hatte wohl noch Glück im Unglück gehabt. Keine Gliedmaßen waren erfroren oder abgestorben, er trug lediglich eine leichte Lungenentzündung davon, die jedoch grundsätzlich zu Hause medikamentös behandelt werden konnte. Dennoch wollte der behandelnde Arzt Tim für ein bis zwei Nächte zur Beobachtung im Krankenhaus behalten, und Tims Mutter bekam auf dem Krankenzimmer direkt ein Zusatzbett hingestellt. Sie weinte immer noch, aber diesmal vor Erleichterung. Tim und seine Mama hatten sich nach ihrem Wiedersehen so feste gedrückt und umarmt, als wollten sie sich nie mehr loslassen. Dann aber holte Tim die Erschöpfung wieder ein und er schlief augenblicklich ein.
In der Nacht schlief er dennoch sehr unruhig und rief immer wieder nach einem gewissen Charly. Zuerst konnte sich Tims Mutter keinen Reim darauf machen, aber dann musste sie an die Worte des Polizisten denken, dass sich bei ihm ein kleiner Hund befanden hätte.
Am nächsten Morgen schließlich konnte Tim ihr die ganze Geschichte erzählen und trotzig schloss er mit den Worten:" Und wenn ich Charly nicht behalten darf, dann reiße ich wieder aus und suche ihn. Ich werde ihn schon finden und dann komme ich nie, nie mehr zurück..."
Tims Mutter musste insgeheim lächeln. Wie hartnäckig ihr Junge sein konnte, und wie sehr er dieses Tier schon lieb gewonnen hatte.
Natürlich durfte er das Tier behalten, das hatte sie ihm versprochen. Irgendwie würde es schon gehen.
Georg und Walter hatten noch bis tief in die Nacht geredet. Walter hatte ihm seine Geschichte erzählt, denn niemand ist von Hause aus Stadtstreicher. Walters Geschichte berührte Georg sehr, und in den letzten verbleibenden Stunden dieser Nacht grübelte er noch lange, wie und ob man einem Typen wie Walter wirklich noch helfen konnte. Konnte und wollte ein solcher Vagabund überhaupt sesshaft werden? Nach all den Jahren des Herumstreunens? Georg wusste darauf keine Antwort, jedenfalls nicht auf die Schnelle.
Die Nacht über verbrachten der große und der kleine Hund im Übrigen eng aneinandergekuschelt auf einem dicken, flauschigen Saunatuch. Auch diese beiden Stromer genossen somit einen gewissen Luxus.
In der Frühe rief Tims Mutter aus dem Krankenhaus an. Sie berichtete, dass es Tim den Umständen entsprechend sogar sehr gut gehe, und sie bedankte sich nochmals herzlich für die Hilfe und das Engagement. Sie würde sich noch erkenntlich zeigen. Ob denn wohl der kleine Hund noch so lange bei Herrn Maiwald bleiben könnte, bis Tim entlassen würde?
"No problem", meinte Georg und damit zeigte er sich indirekt auch mit einem weiteren Aufenthalt Walters bei ihm einverstanden, denn was sollte er allein mit dem kleinen Hund anfangen? Charly brauchte solange Friedemann, bis der kleine Junge zurück war, soviel stand fest!
Walter protestierte nur halbherzig, als er zum Bleiben aufgefordert wurde, denn das Winterwetter sollte sich in den nächsten Tagen von seiner kältesten Seite zeigen.
Tim blieb noch eine weitere Nacht mit seiner Mutter im Krankenhaus. Die Ärzte wollten auf Nummer sicher gehen. Tim blieb nur ungern noch länger dort, doch die Tatsache, dass er auf der Kinderstation wie ein kleiner Held betrachtet wurde, versüßte ihm den Aufenthalt. Schließlich war er der Retter von Charly. Und so berichtete er jedem auf der Station ausführlich von seinem Abenteuer und genoss die allgemeine Aufmerksamkeit. Vor allen Dingen der Gedanke an seinen Vater machte ihn traurig und glücklich zugleich. Sein Vater hatte ihm immer zu verstehen gegeben, wie wichtig es war, sich für jemanden oder eine gute Sache einzusetzen, und Papa war jetzt sicherlich ganz stolz auf seinen Sohn, wo immer er sich auch befand. Doch was hätte er andererseits darum gegeben, ihm auf seinem Schoß sitzend, von Mann zu Mann sozusagen, sein Abenteuer zu berichten.
Dann endlich gaben die Ärzte grünes Licht, und Tante Hedwig holte die beiden vom Krankenhaus ab. Sie fuhr mit ihnen direkt zu Dr. Maiwald. Die Begrüßung der beiden Hunde mit Tim fiel ausgesprochen stürmisch aus. Dr. Maiwald war mehr als erleichtert, als er hörte, wie glimpflich der Junge davon gekommen war. Er fand Gefallen an dem aufgeweckten kleinen Kerl und auch, wie er insgeheim zugeben musste, an Tims Mutter. Wie glücklich ihre Augen strahlten!
Tante Hedwig hingegen musterte und beobachtete Walter. Sie prüfte ihn auf seine "Feste-Bleibe-Tauglichkeit". Sie hatte da so eine Idee…
Tim nahm gegen Ende des Besuches Charly mit und einen glücklicheren kleinen Jungen als ihn hätte man sich wirklich nicht vorstellen können.
Dr. Maiwald und Tims Familie blieben in Kontakt. Anfangs fühlte sich Georg mit der Familie aus einer unbegründeten Verantwortung heraus verbunden, aber das war hinterher nur vorgeschoben. Der wirkliche Grund war, er fühlte sich im Kreise von Tim, Tims Mutter und auch der resoluten Tante Hedwig einfach nur wohl.
Der fünfte im Bunde blieb Walter, wenn man von Friedemann und Charly einmal absah.
Tante Hedwig hatte herausgefunden, dass Walter ganz früher einmal Blindenhunde ausgebildet hatte. Sie selbst war eine pensionierte Sozialarbeiterin gewesen und hatte immer noch Kontakt zu ihrer ehemaligen Dienststelle und auch zu Mitarbeitern anderer Behörden.
Und so kam Walter auf seine alten Tage, genauer gesagt mit dreiundfünfzig, zwar nicht mehr taufrisch, aber noch lange nicht zum alten Eisen gehörend, doch noch ans Arbeiten.
Er bildete wieder Blindenhunde aus, nachdem er sich weiter geschult hatte. Auf diese Weise konnte er sich eine kleine Wohnung leisten, und wenn ihn sein Freiheitsdrang überkam, dann versuchte er, irgendwie bis zu seinem ihm zustehenden Urlaub auszuhalten, um dann mit einer Igluzeltausstattung ans Rheinufer zu ziehen. Meistens lag er dann aber nicht im Zelt in seinem Schlafsack, sondern draußen mit dem unverstellten Blick auf das Sternenzelt, und manchmal lag noch eine weitere kleine Person neben ihm - Tim.
Mit Tim, Tims Familie und Georg verband Walter eine lebenslange Freundschaft, und der kleine Tim lernte durch ihn eine ganze Menge - über Hunde, über das Zelten und über das Leben schlechthin.
Wer hatte aber - unmittelbar nach Weihnachten - alle Zügel augenscheinlich in der Hand gehabt und alles zu einem guten Ende geführt? War es nun doch der Weihnachtsmann, der sich im Nachhinein schämte, dass er dem Jungen den Weihnachtswunsch nach einem Hund nicht direkt erfüllte? War es das Schicksal? War es Gott selbst?
Wer weiß das schon, aber ist es nicht einfach nur tröstlich zu wissen, dass sich der Gedanke der Weihnacht auch in der heutigen Zeit fortzupflanzen vermag?



Eingereicht am 14. April 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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