Eine moderne Weihnachtsgeschichte
© Enrico Andreas Brodbeck
"Pah", stieß Karl lauthals hervor, "ich und Weihnachten feiern da müsste ich ja bekloppt sein."
Karl hatte seine Hände in die Hosentaschen vergraben und sich vor seinen Kollegen gestellt.
"Dieses Jahr kann Weihnachten feiern wer will, aber ohne mich. Was ist denn schon vom traditionellen Weihnachtsfest übrig geblieben? In den Wochen zuvor werden die Weihnachtslieder in allen Variationen vorwärts und rückwärts abgedudelt, die Geschäftsleute versuchen an den Adventswochenenden mit ihren Verkaufszahlen ins Guinnessbuch der Rekorde zu gelangen und die Kidys sind dermaßen durch den Wind, weil sie gar nicht mehr wissen, was sie sich vor lauter Überfluss noch wünschen sollen."
Karl holte erst einmal tief Luft, nachdem er mit seiner überschwänglichen Rede am Ende war. Nachdenklich senkte er den Kopf und wartete auf eine Reaktion.
"Tja, Alter, so wie früher wird es nie wieder werden. Den Weihnachtszauber, den du als Kind erlebt hast, schmierst du dir am besten von der Backe. Die Zeiten sind allemal vorbei." Rudi legte seine Füße auf den Schreibtisch und wippte mit seinem Drehstuhl.
"Früher war eben alles anders", fügte eine Kollegin hinzu, "früher war alles besinnlicher und es gab noch weiße Weihnachten. Heute ist doch alle nur noch grau in grau. So wie das Wetter, so ist auch die allgemeine Stimmung."
Die Herren der Schöpfung stimmten der Äußerung ihrer Kollegin zu, die anschließend aber betonte, auf Weihnachten nicht verzichten zu wollen. Tradition sei schließlich Tradition und die solle man tunlichst pflegen, egal wie verworren das Drumherum auch sei.
"Kommst du am Heiligabend wieder zu uns herüber?", fragte Rudi und schaute zu Karl herüber. Seine Frau hatte ihn gebeten nachzufragen, damit sie eine Ahnung hatte, für wie viele sie kochen musste.
Karl richtete sich auf und strahlte über das ganze Gesicht.
"Nein Rudi, dieses Jahr weigere ich mich, Weihnachten in alter Manie mitzufeiern. Dieses Jahr mache ich etwas ganz anderes. Über die Feiertage fahre ich zum ersten Mal in die Schweiz. Eine Woche vor Weihnachten besteige ich in Essen den Zug und fahre nach Chur. Von da aus fahre ich einen Tag später auf einer der schönsten Bahnstrecken der Welt, nämlich mit dem "Bernina Express" von Chur über Albula, Bernina bis nach Tirano in Italien. Von da geht es dann wieder zurück in die Schweiz ins Oberengadin
nach Suvretta bei Sankt Moritz. Dort wohne ich für zwei Wochen im Hotel "Suvretta" und zudem habe ich mich zu einem Snowboardkurs angemeldet. Tja, unterm Strich gesehen bin ich über die Feiertage und Silvester nicht Zuhause und komme Ende der 1. Kalenderwoche im neuen Jahr wieder."
Karl setzte sich zufrieden auf seinen Drehstuhl, weil er sich der Bewunderung seiner Kollegen und Kolleginnen sicher war.
"Respekt, Alter", raunte Rudi anerkennend, "da kann unsereins nur von träumen."
Rudi war verheiratet, hatte zwei Kinder und war vor ein paar Monaten in sein neues Haus eingezogen. Den Großteil des Neubaues hatten sie provisorisch hergerichtet, damit sie Weihnachten schon im neuen Haus feiern konnten. Seine Finanzplanung war eng geschnürt und ließ in der nächsten Zeit nur wenig Spielraum für außergewöhnliche Wünsche. Für ihn lag so eine Urlaubsplanung in weiter Ferne. Aber er hatte eine Familie. Eine nette Frau und wohlgeratene Kinder.
Karl wiederum beneidete Rudi insgeheim um sein Familienglück. Er lebte alleine in einem Apartment, das recht modern eingerichtet war, aber einen kalten und sterilen Eindruck vermittelte. Deshalb hatte er auch die Patenschaft von Rudis Kindern übernommen, um gelegentlich an dessen Familienidylle teilzunehmen.
"Die Kinder werden enttäuscht sein, wenn du Weihnachten nicht mit uns feierst!"
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Eingereicht am 28. Mai 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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