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Die wilden und gezähmten Tiere

© Joachim Winsmann


Noch nie wurde mir derart deutlich vor Augen geführt, welch auswegloses Schicksal der Menschheit vorbestimmt ist, wie an diesem Tag im Dezember. Ich lief auf der Suche nach etwas Erkenntnis, Ruhe und Erbauung durch den kleinen Forst, der so herrlich nah an dem Haus liegt, in dem ich seit 3 Jahren lebe. Und gerade in dem Moment, da ich mir die Frage stellte: "Lebe ich noch oder sterbe ich schon?", befand ich mich an einer meiner Lieblingsstellen - am Weiher der Schluchter Heide. Mein Blick fiel auf die sattgelben Blätter, welche die Bänke und den Waldboden bedeckten. Der Teich schien spiegelglatt und rief mir zu: "Sieh mal den da!" Damit meinte er nicht mich, sondern einen alten Baumstumpf, der sich einsam an seinem Ufer ausruhte. Er war seiner Lebenszeit, des Stammes, der einst mit ihm gewachsen war, durch einen glatten Schnitt beraubt worden. Die Verletzung war kaum noch wahrnehmbar, denn die Flachheit, geschaffen durch eine verstand- und deshalb gnadenlose Säge, hatte mit der Zeit etwas Moos angesetzt, gerade so, als wolle sich der geschändete Baum seiner Umgebung weitestgehend anpassen und so wenig wie möglich auffallen. Er schaute mich nicht an, sondern blickte in das Wasser des Teiches, als würde er darin lesen, könnte dieser die Zeiten widerspiegeln, in denen er sich erst als junge und dann große, starke Kiefer, als auserlesenes Geschöpf der Heide empfand. Die Größe, die ihn einst derart auszeichnete, dass er gefällt werden musste, war geschwunden; dennoch strahlte der Stumpf eine Würde aus, die mich spontan zu einem Zweizeiler inspirierte:
"Wir halten fest am alten Jahr,
Denn was nicht wird - auch niemals war...".
Wieso kam ich jetzt darauf? Einen Moment später fiel mir ein, dass ich jedes Jahr um diese Zeit Sprüche ersinne, um sie als Neujahrsgruß an meine Freunde und Bekannten zu verschicken. Beim zweiten Gedanken fiel mir auf, dass sich die Heide mehr und mehr lichtet. Das liegt zum Teil an den Schäden, die durch die letzten zwei Stürme verursacht wurden, zum anderen auch daran, dass sich die Menschen in ihrem Drang nach eigenem Wohn- und Lebensraum immer stärker ausbreiten. Eine seltsame Schöpfung - dieser Mensch. Von Gott kann der nicht geschaffen worden sein. Wem fällt schon so etwas ein, das derart viele Widersprüche in sich selbst verkörpert! Das kann man nicht erfinden - so etwas wächst plötzlich wie Unkraut und macht alles kaputt. Erst vor kurzem sah ich einen Bericht über Menschen und Tiger in Sibirien. Es scheint dort so, als müssen sich die Herrscher der Taiga von den Almosen jener ernähren, die dort eher nichts zu suchen haben. Innerhalb eines Jahres wurde der gesamte Bestand der letzten Tiger auf die Hälfte dezimiert und ist nun dem Aussterben nahe. Eine Welt ohne Taigatiger! Ist dies das Ende oder der Anfang vom Ende? Diese Entwicklung macht mir Angst, diese Unfähigkeit des Menschen, sich mit der Natur gütig zu arrangieren. Das Wort "gütig" wird bei mir aus den Worten gut und behüten zusammengesetzt, fehlt nur noch der Buchstabe l, um es an zentraler Stelle auf Dauer zu bestärken. Deshalb kann man mit Güte allein noch nichts ausrichten.
Derart in Gedanken versunken, spann ich den Faden zu jenen Fähigkeiten des Menschen, welche ihn wohl auszeichnen. Ich war schon auf dem Heimweg. Dabei begegneten mir Menschen mit Hunden, die sich hell daran erfreuten, wenn ihr Tierkamerad stolz einen Stock als Beute im Fang trug. Die Augen von Mensch und Tier strahlten dabei auf eine ähnliche Weise. Emotional scheint hier Übereinstimmung vorzuherrschen. Das beruhigte mich. Aber was ist es dann, das den Menschen im Vergleich zum Tier so durcheinander bringt, dass er zerstört, was er liebt? Vielleicht ist es seine triebhafte Neugier, seine Lust, stets etwas zu erfinden und sich dann einzubilden, er wäre einzigartig. Wieder stiegen Bilder in mir hoch, die ich in den letzten Tagen aufgenommen und die mich erschreckt hatten. Da sprachen Menschen über Autos und Handys, als würde es sich dabei um die Entdeckung einer neuen Philosophie handeln - also um eine neue Art der Weisheitsliebe. Nach deren Version wäre ein Mensch ohne Auto und ohne Handy (überspitzt formuliert) gar nicht in der Lage, in irgendeiner Form zu philosophieren. Ihrer Meinung nach wäre ein Baumstumpf nie ein Baum gewesen, weil er im Moment nicht so aussieht, und all dies nur, da sich ihre Weisheiten an den Begriffen, bzw. Wertmomenten Auto und Handy festmachen, an Symbolen, die es erst seit relativ kurzer Zeit gibt. Wie zum Trotz holte ich meine Digitalkamera aus der Tasche, ging den Weg zurück und fotografierte den Baumstumpf, den Teich und die Bänke. Das beruhigte mich wieder. Gleichzeitig arbeitete es in meinem Kopf weiter.
Ich hatte eine Vision von wilden Pferden, die ungestüm über ein freies Feld preschen. So mögen sich diese "neuen" Philosphie-Erfinder fühlen, dachte ich mir: wie ungezähmte Fohlen, die halt ihre Sprünge aus lauter Lebenslust machen, ohne danach zu fragen, warum sie dies tun. Es ist einfach Ausdruck ihres Lebens. Die denken einfach nicht daran, darüber nachzudenken, weil sie bislang nichts anderes erfahren haben und nicht vergleichen können, welches Tun zu welchen Resultaten führt. So etwas ist jetzt gefragt (!), gibt Ton und Richtung an.
Genau! Das ist es, was mich die ganze Zeit so beunruhigt!
Die eigentliche Tragik liegt in den Generationsphasen des Menschen, darin, dass er bestimmte Lebensphasen und Situationen erst einmal durchschreiten, am eigenen Körper erfahren muß, um an Einsicht und Erkenntnis zu wachsen sowie in seiner Fähigkeit, Fakten und Umstände mühelos zu verdrängen, bzw. sich einzubilden, wenn sein Sinn danach strebt. Das hebt den Sinn des Menschen in sich gewissermaßen auf - weil er immer manipulierbar ist, sich selbst nach Gutdünken manipuliert, das beantwortet auch die Frage der göttlichen Schöpfung. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass nur wenige auserwählt sind, überhaupt eine göttliche Erfahrung machen zu können, das l im Gütigsein zu finden (denn die Leistung der Kirchenväter war nichts anderes). Die meisten Menschen hätte ein Gott, wenn es ihn gäbe, niemals erschaffen können oder wollen, weil sie in ihrem eingeschränkten (eingebildeten) Denken viel zu weit von ihm entfernt sind. Ihr Sinn und ihre Instinkte werden von Reflexen beherrscht, die ihnen aus den Erfahrungen des Überlebenskampfes zugewachsen sind. Mehr nicht! Dies gilt speziell für die Masse Mensch in ihrer Gesamtheit, nur im Einzelnen ist alles viel differenzierter und gibt es durchaus Anlass zu immer neuer Hoffnung. Ganz kurz gesagt: es gibt immer die einen und alle anderen.
Die einen hinterfragen den Sinn ihres Tuns und die anderen nicht. Tatsache! Das genau hatte ich auf dem letzten Parteitag der CDU bemerkt. Da gilt ein Norbert Blüm als Auslaufmuster, weil er den Sinn seines Tuns hinterfragt, diesen Vorgang durch Erinnerung filtert und nicht in der Lage ist, wie ein Fohlen ohne Zügel in eine ungewisse Zukunft zu preschen. Doch die anderen haben diese Erinnerung nicht, ihnen fehlen die Zügel und die Erfahrung des ruhigen Gangs unter einer wissenden Führung; und weil sie so ungestüm sind, erscheinen sie auf den ersten Blick dynamischer und äußerst stark. Einer Frau M. gelingt es dabei, dieser führungslosen Herde durch ein paar abgedroschene Phrasen zu imponieren, weil sie es ist, die am Abend das Futter verteilt, auf das alle angewiesen sind. Was für erbärmlich primitive Zustände in einem Parlament zu Beginn des 21. Jahrhunderts. All das nach den vielen Erfahrungen und vor allem: nach Erfindung der christlichen Lehre! Professoren und Fachleute halten flache Polemik an der Krippe schon für eine respektable Leistung, die den Anspruch auf einen selbstgezimmerten Thron unterstreicht. Ich glaube, meinen Augen und Ohren nicht trauen zu können und zucke bei jeder spitzfindigen Bemerkung zusammen, in der das Lob eines Plumpsacks in geschickten Reimen gesungen wird. All dies zusammen machte mich heute sicher so traurig, dass ich in den Wald lief, um dort nach etwas Rettung zu suchen. Was ich fand, war aber nur ein Baumstumpf - aber der konnte mir Sachen erzählen, darauf wäre ich nie gekommen. Die Einsicht, dass sich Mensch und Baum in gewisser Weise ähneln - zumindest ihr Schicksal, brachte mir die Fassung zurück, die gerade etwas verloren gegangen war. Als ich den Wald verließ und dabei die vielen kahlen Stellen bemerkte, dachte ich schon wieder an Klimaschirme, daran, dass neue Philosophien für neue Situationen sprechen, für eine nicht mehr unferne Welt ohne Wald, ohne Stümpfe und Tiger, in der die Dinge nur noch digital begriffen werden - und das machte mir schon wieder Angst, aber nicht mehr um mich.*
Zu Hause angekommen, fiel mein Blick auf den Kalender. Mein Gott! Es ist wieder soweit: Weihnacht...
* Nach dem neuesten Bericht des Amtes für Umweltschutz hat sich 2004 das Sterben des Waldes gegenüber 2003 um 3 %-Punkte erhöht. Ursache für den verstärkten Blattausfall in den Kronen sind die Trockenheit von 2003 und die Übersäuerung der Atmosphäre durch Schadstoffemissionen. Die Buche wehrt sich dagegen durch verstärkten Fruchtstand, als wolle sie sich der Angriffe des Menschen durch Vermehrung behaupten. Damit beweist sie, dass ein Baum auf die moderne Zeit gesünder reagiert als ein hochentwickelter Mensch, der aus Deutschland stammt, weil dessen Fruchtbarkeit mehr und mehr abnimmt - proportional zu dem Maß, in dem er Müll produziert.



Eingereicht am 08. Juli 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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