Dieses Jahr hatten sie keinen Weihnachtsbaum. Auf dem Tisch stand eine dicke, rote Kerze, aber sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, sie anzuzünden. Dunkelheit kroch durch die Fenster und erfüllte nach und nach den Raum. Sie saßen sich gegenüber und starrten vor sich hin.
"Möchtest du noch Wein?"
Miriam nickte.
Jo goss Rotwein nach.
Schweigend tranken sie.
"Du denkst auch wieder daran", stellte sie fest.
"Ich kann an nichts anderes mehr denken." "Unsere Entscheidung ist doch gefallen. Oder nicht?" Jo schwieg.
"Stille Nacht, heilige Nacht" klang es gedämpft aus der Nachbarwohnung zu ihnen herüber.
"Schneiders feiern", sagte Miriam bitter.
"Da machte sich auch auf Josef aus Galiläa mit Maria, seinem vertrauten Weibe. Die war schwanger", flüsterte Jo, als spräche er mit sich selbst.
"Warum sagst du das?"
"Es fiel mir gerade so ein. Schließlich haben wir Weihnachten." "Weihnachten!" Miriam spuckte das Wort geradezu aus.
"Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, da sie gebären sollte", fuhr Jo fort. "Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln ..." "Sie gebar ihren ersten Sohn", unterbrach ihn Miriam mit rauer Stimme. "Jeder darf Kinder bekommen. Nur wir nicht." Jo senkte den Kopf. "Ich muss mir immer vorstellen, wie es wäre", sagte er gepresst. "Ich sehe ein Kind, mein Kind, wie es lacht und spielt. So viel wollte ich mit ihm unternehmen ..." Er konnte nicht weitersprechen.
"Mir geht es genauso. Ich stelle mir vor, wie ich es im Arm halte, es an mich drücke ..." Zorn brach aus ihm heraus. "Niemand dürfte kurz vor Weihnachten eine solche Nachricht bekommen!" "Ausgerechnet jetzt!", stieß Miriam hervor. "Jahrelang haben wir gewartet, gehofft, gebangt. Immer und immer wieder wurden wir enttäuscht. Und als es dann endlich geklappt hat, passiert so was. Ich wünschte, ich wäre nie schwanger geworden!" Jos Mund wurde zu einem schmalen Strich. Miriam nahm einen großen Schluck Wein.
"Denn sie hatten keinen Raum in der Herberge." Seine Worte durchbrachen die Stille.
Sie hob den Blick.
"Sie hatten Schwierigkeiten, von Anfang an", fuhr er fort. "Schon bei der Geburt. Sie wussten auch nicht, wo sie unterkommen sollten. Und kurz danach mussten sie fliehen." Miriam schaute wieder in ihr Weinglas. "Du meinst, wenn Maria das gewusst und die Wahl gehabt hätte, hätte sie sich ebenfalls gegen das Kind entschieden?" "Vielleicht." Miriam richtete sich auf. "Das glaube ich nicht." Zum ersten Mal an diesem Tag sprach sie mit energischer Stimme. "Sie hatten eine Perspektive. Und Schwierigkeiten zu meistern, das ist schließlich die Aufgabe aller Eltern." Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Jo sie an.
Miriam stockte. Dann sank sie in sich zusammen. "Die Frage ist, ob wir eine Perspektive haben", flüsterte sie. "Können wir es verantworten, ein Kind in die Welt zu setzen? Wir haben Schulden, du bist arbeitslos, und nun liegt auch noch die Räumungsklage auf dem Tisch." "Wer weiß, was morgen ist. Jeder neue Tag ist eine Chance." Tränen stürzten aus ihren Augen. "Wir können unserem Kind nicht versprechen, dass es eine schöne, unbeschwerte Kindheit haben wird." "Kann das überhaupt jemand?" Auch seine Stimme klang auf einmal lebhafter.
"Ich habe Angst, Jo."
"Ich auch."
Ganz in Gedanken zündete er die dicke, rote Kerze auf dem Tisch an. Die Flamme flackerte erst ein wenig, dann warf sie ihr ruhiges, goldenes Licht in den dunklen Raum.
"Da machte sich auch auf Josef aus Galiläa mit Maria, seinem vertrauten Weibe", wiederholte er. "Die beiden hatten es wirklich nicht leicht, aber sie waren zusammen ..." "Genauso wie wir", unterbrach sie ihn.
Er nickte. "Auch das Kind ist nicht allein. Es hat uns. Ist das nicht eigentlich das Wichtigste?" Miriam sagte eine Weile nichts. Dann stand sie auf, ging zum Sofa hinüber und setzte sich neben ihn. Ihr halbvolles Weinglas ließ sie stehen. Sie lächelte schwach. "Kein Alkohol mehr in den nächsten Monaten." In seinen Augen leuchtete etwas auf, als er den Arm um sie legte.
***
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