Weihnachten
© Heidi Feldmann
Es war wieder ein Abend vor Heiligabend. Ich lag in meinem Bett und lauschte. Ich konnte hören, dass meine Eltern unten im Wohnzimmer, wir nannten es in dieser Zeit das "Weihnachtszimmer" hin und her gingen. Papier raschelte, ich hörte ihre gedämpften Stimmen. Früher war das der aufregendste Abend im Jahr, voller Spannung und Vorfreude.
Ich wünschte, dass mein kleiner Bruder es auch jetzt noch so empfand. Bestimmt lag auch er wach in seinem Bett und horchte. Ich sah zum Bett meiner Schwester hinüber, sie war todmüde gewesen und schlief wie ein Murmeltier. Nur ihr wuscheliges braunes Haar sah unter ihrer grün-weiß gemusterten Bettdecke hervor. Ihr ging es schon länger so wie mir jetzt. Aber es war noch etwas anderes, das meine Vorfreude dämpfte, die Spannung zerstörte. Ich wollte jetzt nicht daran denken, schob es von mir und spürte wie mein
Herz sich verkrampfte, dann raste, wie nie zuvor. Ich zog die Decke über den Kopf.
Am kommenden Nachmittag saß ich im Zimmer unserer Großmutter. Es war so üblich, dass meine Geschwister und ich, gleich nachdem wir das "Weihnachtszimmer" betreten vor dem leuchtenden Tannenbaum stehend, ein Gedicht aufsagten.
Ich hatte in der Schule ein langes plattdeutsches Gedicht gelernt, meine Großmutter hörte es mich ab. Sie sah feierlich aus in ihrem schönsten grünen Kleid.
Als mein Bruder geboren wurde, hat sie sich eine Zeit lang fast ausschließlich um mich und meine Schwester gekümmert. Am liebsten aß ich den von ihr gekochten mit Zucker bestreuten "Schokoladenbrei". Oft saß ich in ihrem Zimmer und sie hat mir vorgelesen, bis es zu dunkel war, um die Buchstaben zu erkennen. Dann legte sie das Buch beiseite und, da sie meinte, dass es noch zu hell sei um das Licht einzuschalten, saßen wir friedlich zusammen in der, wie sie es nannte "Schuppstunde" und sahen
aus dem Fenster, bis es dunkel war.
Klingelingeling, klingelingeling, unser Weihnachtsglöckchen riss mich aus meinen Gedanken.
Inzwischen hatte auch mein Bruder unserer Großmutter noch einmal sein Gedicht aufgesagt.
Nun gingen wir alle ins Weihnachtszimmer. Der Tannenbaum leuchtete in seinem schönsten grünen Tannenkleid. Er war geschmückt, mit roten, blauen, grünen, silbernen und goldenen Zapfen und Kugeln, in denen die Kerzen erstrahlten, auch das Lametta in den Zweigen glänzte. In den Zweigen hingen Kringel. Es roch nach Schokolade und Fondant. Nach dem Aufsagen unserer Gedichte sang die ganze Familie Weihnachtslieder und dann durften wir unsere Geschenke ansehen.
Die meergrünen Augen meines Bruders leuchteten wie zwei Sterne. Er hatte tatsächlich die ersehnte elektrische Eisenbahn bekommen. Gestern noch hatte er versucht, durch das Schlüsselloch ins Weihnachtszimmer zu lugen, aber natürlich hatten meine Eltern dieses, wie jedes Jahr zugeklebt.
Ich hatte schön warm gefütterte grüne Winterstiefel bekommen auch eine passende grüne Mütze und einen grünen Schal dazu, auch Bücher, da ich gerne lese.
Auch einen bunten Teller gab es. Besonders süß sah das rosa Schweinchen mit dem braunen Schokoladenpopo aus.
Wir freuten uns über alles sehr und meine Schwester und ich tanzten nach der Bescherung in ihrem Zimmer umher. Sie sagte plötzlich: "Egal was kommt, lass uns jetzt fröhlich sein!" Wir genossen unsere ausgelassene Stimmung.
Dann gab es wie jedes Jahr Nudelsalat mit Würstchen, der im Weihnachtszimmer aufgetragen wurde. Zuerst stürzte ich mich heißhungrig darauf, dann merkte ich, dass er trotz des Hungers nicht rutschen wollte. Ich sah mich nach meinen Eltern um. Unser Vater saß vor einem leeren Punschglas, auch in der Punschkaraffe war kein Punsch mehr. Er starrte mit leerem Blick in die brennenden Kerzen des Tannenbaums. Seine Gesichtszüge wirkten erschlafft.
Unsere Mutter saß in einiger Entfernung von ihm, am anderen Ende des Sofas. Auch sie hatte heute das grüne Kleid mit dem festlichen weißen Kragen an, das ihr so gut stand. Aber heute passte der Kragen nicht zu ihrer leicht gerunzelten Stirn und ihrer angespannten Mundpartie. Sie sah trotzig aus.
Großmutter sah lieb aus, wie immer. Ich hatte einmal zu meiner Mutter gesagt, Großmutter sähe noch jung und schön für ihr Alter aus, sie stieß nur verächtlich "Dorfschönheit" aus und sagte nichts mehr. Mein Vater war in Eldena, einem Dorf in Mecklenburg geboren, er war das einzige Kind seiner Eltern. Als er nach der vierten Schulklasse auf das Gymnasium sollte, weil er ein so guter Schüler war, musste er das Dorf verlassen und zu fremden Leuten in die Stadt ziehen, da es im Dorf kein Gymnasium gab.
Er konnte nur noch in den Ferien zu Hause sein.
Ich versuchte es weiter mit dem Nudelsalat, aber es war so, als ob er mir im Halse stecken blieb, schlimmer noch, als ob eine eiserne Faust meinen Hals umschlang und zudrückte. Nun half nichts mehr, ich konnte den Gedanken nicht mehr zurückdrängen ein Schluchzer entrang sich meinem zusammengepressten Hals.
Wie ein Paukenschlag dröhnte es in meinem Kopf: "Großmutter soll nach Weihnachten ins Heim!"
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