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Weihnachten aus einer Muschel

© Patricia Koelle


Die Stadt türmte sich fremd und so hoch vor Sia auf, als gehöre der nächtliche Himmel den Wolkenkratzern allein. Und nicht nur er, denn die Lichter in den Fenstern spiegelten sich im Wasser der Bucht und füllten sie mit zitterndem Glanz, als sei auch am Boden kein Platz für die Menschen, die doch die Stadt erbaut hatten.
Vielleicht lag Sias Schaudern auch nur daran, dass sie nach dem Flug vom einen Kontinent zum anderen müde und ausgetrocknet war. Oder dass die Adventswochen die falsche Zeit zum Reisen in die Fremde waren, vor allem wenn man allein reiste.
"Trink einen Schluck", sagte Tante Lara, die ihr fast ebenso fremd war wie die Stadt. Bis jetzt hatte sie so gut wie nichts gesagt. Vielleicht weil es sie so verblüffte, dass Sia längst kein Kind mehr war, anders als bei ihrem letzten Treffen.
Sia trank aus der Wasserflasche, die ihr Tante Lara nach hinten reichte, während das Auto sich langsam aus dem Lichteraufmarsch in eine dunklere Gegend bewegte. Auch das Wasser schmeckte fremd. Die Stadt blieb hinter ihnen zurück.
Später lag sie in einem unbekannten Zimmer auf einer Matratze und konnte nicht schlafen, denn zuhause war Tag. Doch der Mond tröstete sie. Wenigstens er war derselbe, den sie von der anderen Seite der Erde kannte.
Die nächsten Tage waren ein Gestöber aus Bildern, Gerüchen, Stimmen. Zum Glück beherrschte sie immerhin die Sprache, als sei es ihre eigene. Das Land, das zur Weihnachtszeit so grün war wie der Frühling selbst, begann sie eigenartig tief zu berühren. Sie lieh sich ein Fahrrad und bahnte sich damit Wege durch das Gras, fand heimliche Bäche und wilde Dickichte, in denen nur ihr eigener Atem zu hören war, und stellte fest, dass der Himmel hier sehr wohl groß genug war für alle, trotz der nahen Stadt, die sie immer noch überwältigte.
Doch bei allem anderen begleitete sie der Gedanke an eine Begegnung vom ersten Abend. Eine Gestalt war hereingekommen, als Sia verloren mit ihrem Koffer im Zimmer stand und Tante Lara ihr zeigte, wie die Fensterriegel funktionierten.
"Guten Tag", sagte Sia höflich, obwohl sie erschrocken war. Die Gestalt hatte sie im Dämmerlicht und ihrer Müdigkeit im ersten Augenblick an einen Affen denken lassen. Der Mann war schmal und kaum größer als Sia, ging ein wenig vornüber gebeugt und hatte lange Arme und lange Haare. In dem gewohnten gebügelten Leben, in dem sie aufgewachsen war, kam so jemand nicht vor.
"Oh, das ist nur Terry, ein Freund von Tim", sagte Tante Lara, "er wohnt eine Weile hier. Er spielt Saxophon, also wundere Dich nicht über Lärm. Siehst du, hier musst du dagegen drücken, dann klemmt es nicht so."
Terry warf ihr einen flüchtigen Blick zu, murmelte "ich geh dann", und verschwand.
Sie sah ihn erst drei Tage später wieder, doch am Abend davor hörte sie, wie eine traurige Jazzmelodie aus Terrys Zimmer tröpfelte. Die Töne krochen unter ihrer gegenüberliegenden Tür hindurch und versammelten sich um ihre Matratze. Sie entsprachen genau ihrer Stimmung. Sia stellte sich vor, wie die Töne zu leuchten begannen, jeder in einer anderen Farbe, genau wie die vielen Lichter der Stadt, und dann schlief sie ein. Zum ersten Mal schlief sie gut.
Die Wochen vergingen. Tante Lara und Onkel Tim gingen arbeiten, und Sia, die mit dieser Reise die Zeit überbrückte, bis sie in der Heimat ihr Studium antreten konnte, hatte die Tage für sich. Das Haus war sehr leer. Bis auf Terry. Meist blieb er unsichtbar in seinem Zimmer, doch seine Musik machte ihn anwesend, als säße er mitten im Raum und sie müsse um ihn herum fegen.
Das Fegen machte ihr Spaß. Die Parkettfläche war groß und glänzend wie eine Eisbahn und sie jagte Grashalme und Staubflocken darauf und ließ sie in Wirbeln zu der seltsamen Musik tanzen. Dabei konnte sie gut nachdenken. Ihre Gedanken ordneten sich mit den Tönen und riefen einen ungekannten Frieden und erstaunliche Farben in ihr hervor.
Am späten Nachmittag kamen Tante Lara und Tim mit ihrem dreijährigen Sohn Roy, und das Haus füllte sich mit Lachen und Rascheln und Klappern und Schritten. Dann kam meist auch Terry hinter seiner Tür hervor, setzte sich in einen Winkel und spielte mit Roy oder polierte sein Saxophon. Sia beobachtete ihn, sah seinen Händen zu, wie sie Roy hielten oder mit der Nagelschere winzige Autos aus Papier für ihn schnitten. Noch nie hatte sie Hände gesehen, die so behutsam mit allem umgingen, was ihnen begegnete. In ihren Bewegungen war dieselbe tiefe Stille wie in der Musik, die sie schufen.
Oft drehten die Hände eine Zigarette. Nie jedoch rauchte Terry im Haus, wo Roy spielte. Er lehnte sich meist in der Dunkelheit auf das verwitterte Gartentor und sah auf die Straße und über die Wiesen. Sia konnte ihn kaum sehen. Die Nacht war hier schwärzer als die Nächte, die sie kannte. Aber der Geruch seines Tabaks verriet ihn, und sie wusste, er dachte Musik. Manchmal lehnte sie sich neben ihn an das Tor. Sie wechselten kaum ein Wort, doch das Schweigen zwischen ihnen war Begegnung.
Noch ein Vierteljahrhundert später würde sie diese Sorte Tabak überall wieder erkennen, würde Töne hören, die es nicht mehr gab, und eine Ruhe spüren, die ein Gesicht hatte. Manchmal kaufte sie sich den Tabak sogar, um dem Geruch nahe zu sein.
Terry komponierte seine Musik selbst. Sie war eigenartig. Immer wieder gab es Töne darunter, die sich offenbar aus der Melodie verlaufen hatten und ihren eigenen Weg suchten; auch Pausen wie Fragezeichen trieben sich an Stellen herum, die beim ersten Hören falsch schienen. Aber diese Musik griff nach Sia, und wenn sie nichts hörte, war es bald, als fehlte etwas, auf das sie sich zu stützen gewohnt war.
Terry träumte davon, entdeckt zu werden, machte sich aber keine Illusionen darüber. Er brauchte nicht viel zum Leben. Außer Zigaretten und dem stärksten Espresso, den Sia je gekostet hatte, schien er so gut wie nichts zu sich zu nehmen.
Wenn er doch einmal Geld brauchte, ging er mit dem Saxophon ins Dorf. "Willst Du mitkommen?" fragte er einmal Sia zu ihrer Überraschung.
Das war ein paar Tage, nachdem er ihr zum ersten Mal von seinem Espresso angeboten hatte, den er morgens in seiner Maschine braute. Wenn er gebeugt und in Dampfwolken und Zischen gehüllt an dem Kessel herumhantierte, wirkte er mit seinem Vollbart und den langen, zotteligen Haaren wie ein beschwörendes Wesen aus einer ganz anderen Zeit und Wirklichkeit.
Noch ein Vierteljahrhundert später würde auch der Geschmack von zu starkem Espresso Terry für sie gegenwärtig machen.
Sie ging mit ihm ins Dorf und es tat ihr weh, wie er unter einer grellen Weihnachtsdekoration vor dem Cafe auf dem Bürgersteig saß, versunken in seine Töne. Unbeachtet trieben sie den Leuten hinterher, für die wenigen kalten Münzen, die sie in seine Schale fallen ließen.
Noch ein Vierteljahrhundert später würde sie an keinem Straßenmusikant mehr achtlos vorübergehen, sondern ihm ins Gesicht sehen und ihm etwas geben, was ihn staunen ließ, nur weil er Terry für sie lebendig werden ließ.
Einen Tag vor Weihnachten fuhren sie alle in die Stadt. Tante Lara und Tim machten mit Roy Weihnachtseinkäufe. Terry hatte andere Pläne, und Sia durfte ihn begleiten. Tante Lara schien erstaunt, sagte aber nichts.
Das Saxophon hatte Terry nicht mitgenommen. "Heute ist ein besonderer Tag, und darum möchte ich dir ein besonderes Instrument vorstellen", sagte er. In der einen Hand trug er vorsichtig einen kleinen Koffer, mit der anderen schleppte er einen gewaltigen Verstärker.
Er führte Sia zum Hafen. Auf einem Holzsteg neben einem Cafe, dessen Besitzer er kannte, stellte er den Verstärker auf. Der Hafen war voll winziger Läden und Restaurants, eine Touristenattraktion. Hier würde sich das Spielen lohnen, dachte Sia, und suchte eine Schale für die Münzen. Doch Terry winkte ab. "Heute spielen wir nicht für Geld. Für Weihnachtslieder will ich nichts."
Er machte sich an seinem Köfferchen zu schaffen, und Sia betrachtete ihn verwundert von der Seite. Zum ersten Mal sah sie ihn in etwas anderem als in seinem ausgeleierten braunen Pullover. Heute trug er zu seinen alten Jeans ein weißes Hemd und ein Jackett aus dunkelblauem Samt. Er wirkte darin verletzlich und stolz zugleich. Gern hätte sie ihn umarmt. Einen Moment lang begegneten sich ihre Blicke, und sie fragte sich, ob er dasselbe gedacht hatte.
"Schau", sagte er nur. "Ich habe es selbst gebaut."
Das geheimnisvolle Instrument für besondere Tage verblüffte sie.

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Die vollständige Geschichte erscheint im Herbst 2007 in dem Buch

Patricia Koelle
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