Luka
© Christine Kühnel
Luka saß im Dunkeln in seinem Zimmer, nur ein kleines Licht in der hinteren Ecke des Zimmers brannte. Sein Vater war vor einer Woche gestorben. Darmkrebs. Schnell war dieser Krebs gewesen, hatte aus Lukas kerngesundem Vater erst einen hauchdünnen Schatten seiner selbst gemacht, um ihn dann schließlich ganz tot zu fressen.
Luka hatte irgendwann damit angefangen sich zu fragen, ob sein Vater auch erkrankt und schließlich so elendig gestorben wäre, wenn sein Sohn vor zwei Jahren nicht damit angefangen hätte, schwarz zu tragen und sich mit mystischen Symbolen zu behängen. Wenn er seine Haare nicht hätte wachsen lassen, nicht mit dem Kiffen angefangen hätte, wenn alles nicht passiert wäre, was in den letzten Jahren passiert ist, könnte sein Vater noch leben, wenn er nicht alle Hoffnungen in seinen Sohn verloren hätte?
Bist du schuld am Tod deines Vaters, Luka? Fragte ihn eine Stimme in seinem Inneren. Ich glaube schon! Nein, ich bin fast sicher! Hast du nicht mit jedem schwarzen Kleidungsstück, mit jedem Schwarzfärben deiner Haare, mit jeder schlechten Note, mit jedem Joint, den du geraucht hast, die Krebszellen in seinem Körper gefüttert? Dann hast du die Schule geschmissen, Luka, nur zu Hause herumschmarotzt, lang geschlafen und sonst nicht viel gemacht. Wenn du ein guter Luka gewesen wärest, so einer der sich
aufs Abitur freut, eine hübsche Freundin mit nach Hause bringt und nach der Schule noch mit einem Job im Supermarkt sein Taschengeld aufbessert, dann würdest du dann mit deinem Vater und deiner Mutter jetzt drüben im Wohnzimmer sitzen. Ihr würdet Weihnachten feiern; den schön geschmückten Weihnachtsbaum bewundern. Nein, du bist kein guter Luka gewesen. Kein Adventskranz, aber ein Grablicht hinten in der Ecke deines Zimmers, wer weiß, vielleicht hat dieses Grablicht deinen Vater mitgetötet. Welches Kind stellt
sich ein Grablicht ins Zimmer, nur der Grablicht-Luka. Du hast deinen Vater getötet, Krebszellen in seinem Darm kultiviert, hast ihn von innen her zum Auffressen preisgegeben, Vatermörder Luka!!!
Die Stimme verstummte. Sechs Schnitte mit der Rasierklinge hatte Luka gebraucht, um den Schmerz in seinem Inneren abzutöten, ihn zum Schweigen zu bringen. Sechs Schnitte die ihm wieder einen kleinen Vorsprung verschafften. Er ließ die Rasierklinge fallen und begann zu weinen, er versuchte es wenigstens, begann ein nach innen gekehrtes, sehr schmerzhaftes Weinen, das zuerst versuchte in ihm hoch zu kriechen, dann seine inneren Organe zusammen drückte, wie um sich Schwung zu verschaffen, um nach oben zu gelangen,
zu springen ... umsonst. Luka hatte ganz am Anfang geweint, als die Diagnose kam. Danach nicht mehr, er schluckte den Schmerz, da musste er ihn noch nicht wegritzen, denn er wollte seinen Vater nicht noch mehr enttäuschen, wollte ein guter Sohn sein, ein starker Sohn. Wollte ihn nicht mehr enttäuschen, nie mehr, war stark für ihn. Schluckte die Tränen, damit der Vater sie weinen konnte. Er weinte so oft, sein Vater. Weinte um das Leben, das man ihm einfach wegnehmen würde. Einfach so.
Luka erinnerte sich an seinen Vater, auf dem Krankenhausflur, klein und schmal in seinem großen Bett, auf dem Weg zu einer Untersuchung. Riesengroß die Augen, in einem so winzigen, ausgemergelten, seiner Lebenskraft beraubten Gesicht. Mit diesen großen Augen hatte er den Weihnachtsbaum bestaunt, den die Stationsschwestern aufgestellt hatten und sein Vater hatte gelächelt, glücklich gelächelt, das war einer der Momente gewesen, in denen er dachte, dass er es schaffen, den Krebs besiegen könnte. Luka rang nach
Luft, die Erinnerungen drohten ihn zu ersticken, doch es drehte sich mitleidslos weiter, das Karussell in seinem Kopf, drehte sich bis zu den vielen Diskussionen und Streitgesprächen zurück, als sie noch nicht wussten, von diesen Zellen, die seinen Vater bereits seit langen Jahren besetzt haben mussten. So schlimme Worte waren gefallen, er sah es jetzt noch vor sich, das gesunde, schöne Gesicht seines Vaters, entsetzt und fassungslos wegen all der Dinge, die ihm Luka an den Kopf geworfen hatte. Dann das kleine,
kranke Gesicht, welk und tot, lebendig darin nur die Augen, in denen sich die bunten Lichter spiegelten und sein Lächeln, das nicht wusste, dass dies der letzte Weihnachtsbaum war, für den es lächeln würde.
Luka richtete sich auf, beugte sich über den Bettrand und übergab sich.
Es klopfte an der Tür. Drei Mal. Ein kleines Erkennungszeichen aus seiner Kindheit. Drei Mal klopfen bedeutet: Komm raus, essen. Er reagierte nicht. Ließ seine Mutter auf der anderen Seite im Stich, ließ sie die Klinke loslassen und ins Wohnzimmer zurückgehen, gebeugt, um Jahre gealtert. Er hatte nicht mit ihr gesprochen, nicht einmal auf der Beerdigung.
Macht nichts Luka, macht überhaupt nichts. Bringst sie halt auch noch ins Grab. Wer weiß, was du jetzt gerade in ihr züchtest.
Luka schüttelte sich.
Weihnachten. Vor zwei Jahren, da hätten sie ein letztes, schönes Weihnachtsfest miteinander feiern können. Natürlich waren sie damals auch schon in seinem Vater drin, die Tumore, aber sie hielten still, hielten noch ein Weihnachten still.
Doch Luka wollte kein Weihnachten feiern, da fing sie an, die Zeit, in der er alles in Frage stellte, allem voran sich selbst und natürlich die Eltern. Schlimme Worte, verletzte Gefühle. Er war saufen gegangen, hatte den heiligen Abend betrunken im Keller eines Freundes verbracht und seine Eltern alleine gelassen, mit der geschmückten Wohnung, dem festlich gedeckten Tisch, den Geschenken, dem Baum. Dem letzten Baum, den sein Vater in seinem Leben jemals kaufen, nach Hause bringen und aufstellen sollte. Am Ende
hatte er noch nicht einmal mehr seine Schnabeltasse festhalten können, um alleine zu trinken. Luka hatte das oft für ihn getan. Und die Tränen geschluckt, wenn sein Vater wieder anfing zu weinen, weil er aus dem Leben gerissen wurde, obwohl er noch lange nicht bereit war.
Kann man jemals bereit für den Tod sein?
Luka wollte stark sein. Er weinte nicht. Streichelte ihn nur, seinen Vater, strich ihm durchs Haar und hielt die Schnabeltasse.
Hört dieser Schmerz jemals auf?
Er klappte sein Handy auf und sah auf die Uhr. Es wurde Zeit, er hatte etwas zu erledigen. Luka stand auf, zögerte. Draußen in der Garderobe hing sein langer, schwarzer Mantel, standen die schweren Stiefel.
Wie schön, hier kommt der Totengräber-Luka. Welches gesunde, gute Kind trägt so etwas? Er fand eine alte Winterjacke und Turnschuhe ganz hinten in seinem Kleiderschrank, fühlte sich ein erleichtert, als er hinein schlüpfte. Vor der Tür, die in den Flur hinaus führte, lauschte er kurz, dann ging er hinaus, schnell und bestimmt, zog die Tür hinter sich ins Schloss und rannte die Treppen hinab, hoffte, dass seine Mutter ihn nicht mehr erwischte. Er war schon draußen, als sie ihm nachkam, sah nicht, wie sie
dastand, seinen Mantel in den Armen, der doch so viel wärmer war, als die alte Jacke. Draußen empfing ihn eisige Kälte, aber es lag kein Schnee, weiß und unschuldig, mit vielen Erinnerungen an verschneite Weihnachten, Schneemänner und Schlittenfahrten darin. Sein Vater tot in der Erde und zudeckt mit Erinnerungen an gemeinsame Schneeballschlachten. Als er an den Parkplätzen vorbei kam, begann Luka zu laufen, rannte weg vor dem Bild des Vaters, der die vereiste Windschutzscheibe des alten Kombis frei kratzte.
Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln brauchte man fast zwei Stunden bis zum Klinikum. Als sein Vater noch lebte, hasste und liebte Luka die Strecke. Hasste sie, weil am Ende der todkranke Vater ihn erwartete. Liebte sie, weil ihn am Ende der todkranke Vater erwartete. Jetzt hasste er sie nur noch, es erwartete ihn niemand mehr am Ende, sie tat ihm weh, jedes noch so kleine, bekannte Detail, das er sah trug die Erinnerung der qualvollen Monate in sich, in denen er diese Strecke täglich gefahren war.
Als es zu Ende ging, hatten sie seinen Vater oft ins Klinikum bringen müssen, obwohl seine Mutter sich nach Kräften bemühten, ihn zu Hause zu pflegen. Es wurde immer schwerer, immer öfter kamen sie und auch Luka an ihre Grenzen, trotzdem war sein Vater bisher immer wieder nach Hause zurückgekommen, nur beim letzten Mal nicht, beim letzten Mal hatte ihn der Leichenwagen abgeholt und Luka musste daran denken, dass er niemals die Gelegenheit bekommen würde, seinen Vater irgendwo hin zu fahren.
Haltestelle, Ausstieg. Luka vermied es zu dem Gebäude hinüber zu schauen, in dem es passiert war, in dem die Organe seines Vaters versagt hatten, weil sie all die Medikamente und Schmerzen und die Qual nicht mehr auffangen konnten. Er überquerte mit schnellen Schritten das Gelände des Klinikums, hielt auf die Kapelle zu. Neben dem Ständer für die Teelichter lag dort ein großes Buch aus, Luka nannte es in Gedanken das kirchliche Poesie-Album. Er glaubte nicht an Gott, wollte gerne Atheist sein, hatte trotzdem
mit kleinen, unsicheren Buchstaben hinein geschrieben.
Bitte, wer auch immer du bist. Nimm mir nicht den Vater. Bitte, bitte nicht. L.
Eine Pastorin begrüßte ihn, die seine Hand lang und warm drückte. Luka mochte die Berührung nicht. Er setzte sich in die hinterste Reihe, hielt den Kopf gesenkt und wartete auf den Anfang der Messe, von der sein Vater gesprochen hatte, als könnte er sie noch erleben. Der Schmerz schien sich nicht in die Kapelle zu trauen, jedenfalls nicht der hasserfüllte, der ihn dazu bringen wollte zu sterben, um wieder gut zu machen, was er seinem Vater angetan hatte.
Siehst du mich, Papa? Schau, ich bin an deiner Stelle zur Messe gegangen. Du kannst sie jetzt durch meine Augen sehen, durch meine Ohren hören. Wenn ich doch nur wüsste, ob du mich trotzdem geliebt hast, Papa und ob du gewusst hast, wie sehr ich dich liebe. Ich habe soviel falsch gemacht, Papa und jetzt ist es zu spät, du bist tot und nichts bringt dich zurück, damit du noch erleben kannst, wie etwas Anständiges aus mir wird.
Orgelmusik riss ihn aus seinen Gedanken und Luka hob den Blick, faltete die zitternden Hände und lauschte so aufmerksam er konnte.
Als er gegen Mitternacht die Wohnungstüre aufschloss, war die Wohnung noch hell erleuchtet und seine Mutter wartete im Wohnzimmer auf ihn, sah auf, als er im Türrahmen erschien und verharrte, wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte.
"Ich hab Hunger, Mama." Sagte Luka und als er ‚Mama sagte', war es vorbei mit seiner Fassung und er begann zu weinen wie ein kleines Kind, weinte noch mehr, als er spürte wie seine Mutter ihn in den Arm nahm und stark war für ihn.
"Die Pastorin hat eine schöne Messe gehalten", sagte er nachdem sie gegessen hatten. "Sie hat über das Jesus-Kind gesprochen." Luka sah seiner Mutter in die Augen. "Es war einfach nur gerade auf die Welt gekommen und trotzdem haben so viele Menschen es schon geliebt und geachtet. Einfach um seiner Selbst willen. Es hat nichts beweisen müssen. Es war liebenswert so wie es war. Ich weiß jetzt, dass Papa mich geliebt hat. Auch wenn ich … wenn ich nicht so bin, wie ich vielleicht sein sollte,
er hat mich trotzdem geliebt ... oder?" Am Ende verlor sich seine Stimme ein wenig, die Bestimmtheit mit der Luka angefangen hatte zu sprechen, war zu ungeübt, um standzuhalten. Seine Mutter nickte, konnte nichts sagen in diesem Moment, wollte die Worte hören, die da aus dem Mund ihres Sohnes kamen, wollte nicht, dass sie in einem lange zurück gehaltenen Tränenstrom unter gingen, lächelte und nickte stolz.
Und Luka erwiderte ein wenig verlegen ihr Lächeln.
Frohe Weihnachten, Papa.
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