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Heiligabend

© Tommy Lachmann


Es war eine andere Welt, das Zimmer, heute, die gute Stube, den ganzen Tag. Heiligabend. Das Zimmer war verzaubert. Verboten für mich, für das artige Kind. Nur die Oma, der Opa und die Mutter durften hinein. Die Mutter betrat es nicht, meinetwegen. Ich durfte ja nicht, denn jeden Moment konnte der Weihnachtsmann kommen. Der Weihnachtsmann und ich, wir durften einander nicht sehen. Warum wusste ich nicht, denn ich war ja ein braves Kind und musste die Rute nicht fürchten. Der Weihnachtsmann kam in die Stube wegen der Geschenke, die er brachte. Ich schenkte nichts. Das unterschied uns. Ich freute mich auf die Geschenke vom Weihnachtsmann, nicht auf ihn. Auf ihn freute ich mich schon im Sommer, aber nicht am heiligen Abend. Ich durfte ihn ja doch nicht sehen.
Ich wusste, der Weihnachtsmann beschenkte alle Kinder auf der ganzen Welt. Dass sein Sack viel zu klein war, alle Kinder auf der Welt daraus zu beschenken, zumal er ja auch Kinder in diesen Sack hineinsteckte, wenn sie nicht artig gewesen waren, war mir eigentlich nie in den Sinn gekommen. Man konnte mir viel erzählen ... ich war gehorsam und gutgläubig.
Der Opa war ständig im Zimmer, die Oma manchmal, die Mutter nie und der Vater? Der Vater war im Krieg und niemand wusste wo er war - der Vater - der Krieg schon, der war fast überall. Der war auf der ganzen Welt, deswegen hieß er Weltkrieg. Das leuchtete mir schon als fünfjähriges Kind ein. Weshalb der Krieg aber nicht in Amerika war, die Amerikaner aber bei uns waren, das leuchtete mir nicht ein. "Wenn du mal groß bist", hatte mir die Mutter geantwortet, als ich sie danach gefragt hatte. Nach mehreren Versuchen hatte ich diese Frage aufgegeben. Streng genommen leuchtet es mir ja auch heute, nach sechzig Jahren, noch nicht ein, warum die Amerikaner überall in der Welt kämpfen, wo sie gar nicht hingehören.
Es war eine andere Welt, das Zimmer, heute, die gute Stube. Heiligabend. Die Mutter wartete mit mir im Zimmer von Onkel Brandt nebenan. Der war unser Untermieter. Onkel Brandt war nicht da, er war bei seinen Eltern, weil Weihnachten war. Wir durften hier in seinem Zimmer warten, bis der Weihnachtsmann wieder weg war. Mein Kinderherz schlug mir wild zum Hals heraus, meine zarten Nerven wollten zerreißen und meine Hände und der Kopf brannten heiß.
"Wann geht denn der Weihnachtsmann endlich, Mutti?" - "Psst", sagte die Mutter ganz leise, damit uns der Weihnachtsmann nicht hören konnte, "ich glaube, er ist noch gar nicht da." - "Aber was rumpelt denn dann so laut drüben im Zimmer?" - "Das ist sicher der Nikolaus und Knecht Ruprecht, sie beide hat der Weihnachtsmann vorausgeschickt." Die Mutter lächelte. "Aber was machen die denn dort so laut?" - "Sie bauen sicher die Geschenke für dich auf", lächelte Mutter noch immer. - "Bekomme ich denn viel?" - "Das weiß ich nicht", sagte die Mutter, "ich bin doch auch nicht im Zimmer und kann es nicht sehen." Das war lieb von ihr. Mutter hat mich nicht allein gelassen und darauf verzichtet, den Weihnachtsmann zu sehen, weil ich ihn auch nicht sehen durfte. So, wie er mich nicht. So lieb war Mutter. Sie hatte mich belogen - damals. Aber das wusste ich nicht - damals.
Es war eine andere Welt, das Zimmer, heute, die gute Stube. Heiligabend. Plötzlich klopfte es laut an der Tür. Kam heute etwa doch der Weihnachtsmann? Nein! Es war der Opa. "Der Weihnachtsmann ist gerade weg", sagte er, "Ihr könnt jetzt reinkommen."
Eine schöne Bescherung! Es war ein anderes Zimmer, heute, die gute Stube. Der Baum, das flackernde Licht der brennenden Kerzen, der Glanz und die weihnachtliche Musik im Volksempfänger. Das Zimmer, es war das Himmelreich, heute, die gute Stube. Heiligabend. Der Geruch nach Tannenwald, die bunten Kugeln im Baum, der Lichterglanz. Das ganze Zimmer war nur strahlender Baum und - - - die Geschenke darunter. Das Militärauto mit vier Soldaten darin und einer Kanone dahinter, daneben ein herrlicher Panzer mit einem Panzersoldaten, der oben aus der Luke sah. Äpfel und Nüsse, der Duft nach Tannen und brennenden Kerzen. Weiter hinten acht Infanteristen mit Gewehr und ein General mit rotem Revers ohne Gewehr. Vorn links die Straßenbahn mit den vielen kleinen bunten Püppchen - - - alles viel zu groß für die Soldaten. "Mehr habe ich nicht bekommen", flüsterte die Oma. - "Gut, dass uns Onkel Brandt noch das Auto gebracht hat", sagte der Opa leise. "Ich glaube, die Straßenbahn gefällt ihm am besten", sagte die Mutter. Aber das stimmte nicht, ich liebte die Helden im Auto mit der Kanone, weil Vater ja auch ein Held war. Am liebsten hätte ich vom Weihnachtsmann ein Sanitätsauto gehabt für die verwundeten Helden. Jeder Soldat war ein Held. Ich wollte auch ein Held sein und zu den Soldaten. Aber das ging ja nicht, weil ich viel zu klein war, noch. "Wenn du groß bist", sagte Mutter, "kannst du auch zu den Soldaten." - "Wenn er groß ist, ist der Krieg vorbei", sagte der Opa. "Hoffentlich", sagte die Oma und Mutter nickte. "Nein", rief ich, "das soll er nicht", und begann zu weinen, weil ich dann vielleicht kein Held mehr werden konnte. Mutter tröstete mich: "Sieh mal die schönen Spielsachen". - "Essen", rief die Oma. Der Tisch war festlich gedeckt. Und es roch nach Bratäpfeln.
XXX
Es war eine andere Welt das Zimmer, heute, die gute Stube. Heiligabend. Nein! ... Es war gar nicht Heiligabend, heute - es war ein Jahr später, aber ein paar Tage vor Heiligabend. Vater war auf Urlaub aus dem Krieg. Heiligabend war erst in vier Tagen. Aber da musste Vater schon wieder an der Front sein.
Es war eine andere Welt, das Zimmer, heute, die gute Stube, vier Tage vor Heiligabend. Der Weihnachtsmann kam zu uns ganz allein. Ich durfte ihn trotzdem nicht sehen. Die Kinder in aller Welt warteten noch nicht auf ihn, heute, ein paar Tage vor Heiligabend. Aber das wusste ich nicht.
Mutter, Vater und ich warteten heute im Zimmer von Onkel Brandt. Alle jungen Männer waren Soldat, nur ich war noch immer zu klein für die Soldaten. Onkel Brandt war auch kein Soldat. Warum wusste ich nicht. Er war bei seinen Eltern, obwohl noch nicht Weihnachten war.
Das Zimmer, der Baum, der Glanz der Kerzen, aber noch keine Weihnachtslieder im Volksempfänger. Der Geruch nach Tannen und --- da waren die Weihnachtsgeschenke neben dem Baum. Eine alte Ritterburg, ein Kaspertheater und eine Stand-Schiefertafel. Auf der Ritterburg, die ein Nachbar gestiftet hatte, standen alle meine Soldaten und der General mit rotem Revers ohne Gewehr. Es war noch ein Hauptmann dazugekommen mit einem langen Säbel aber auch ohne Gewehr. Ich blieb heute bei meinen neuen Freunden, dem Kasper und dem Räuber. Den ganzen Heiligabend. Ich verkroch mich hinter den Kulissen meines Theaters und ließ alle Puppen hintereinander über den Rand der Bühne sehen. Vater malte ein Bild auf die Standtafel. Fast den ganzen Heiligabend. Eine afrikanische gelbe Negerhütte und zwei große grüne Palmen links und rechts. Vater konnte nicht malen, aber das Bild war trotzdem hübsch.
Vater ging am nächsten Tag an die Front zurück. Er tat es ungern. Wir waren traurig und weinten. Vater glich beim Abschied den Soldaten auf meiner neuen alten Burg. Nicht dem General. Er hatte auch ein Gewehr. Als er weg war, der Vater, blieben nur die Negerhütte und die zwei Palmen von ihm auf der Tafel zurück. Dann kam Weihnachten für die anderen Kinder, die ich auslachte, weil sie Heiligabend verpasst hatten und nun alle lange auf den Weihnachtsmann warten konnten.
Anfang Januar kam der Feind mit seinen Bomben und tötete viele der kleinen Kinder, die der Weihnachtsmann nicht in den Sack gesteckt hatte, weil sie alle so brav und artig gewesen waren. Viele Mütter, Omas und Opas tötete er dazu.
Die gute Stube, der Baum, meine schönen Spielsachen und das Bild auf der Schiefertafel, das ich nicht gelöscht hatte, weil Vater ja in den Krieg gehen musste, - - - alles war weg. Der Feind hatte alles zerstört. Auch meinen kleinen Freund Lothar, mit dem ich gestern noch unter dem Weihnachtsbaum gespielt hatte. Er lebte heute nicht mehr. Ein Bombensplitter hatte ihn getötet, als er seine kleine Schwester retten wollte, die versehentlich auf die Strasse und nicht in den Luftschutzkeller gelaufen war, weil die Sirenen wieder so laut zu heulen begonnen hatten. Der kleine Lothar wollte auch ein Held sein und zu den Soldatet. Wir hatten täglich draußen auf der Strasse gespielt. Er hatte vor mir stramm gestanden, seine Hände an die Hosennaht gepresst, seine Hacken zusammen genommen und zu mir "zu Befehl, Herr Major" gesagt, weil ich zwei Monate älter war. Ich hatte deshalb zu ihm "rühren, Herr Hauptmann" gesagt, und auch deshalb, weil wir uns nicht mit kleinen Gefreiten abgaben. Natürlich nicht. Nun war der kleine Junge mit seinen fünf Jahren heldenhaft gefallen, vom Feind kaltblütig ermordet, ohne bei den Soldaten gewesen zu sein.
Nicht einmal das große Wohnhaus Nr. 11 mit dem verzauberten Weihnachtszimmer, der guten Stube, gab es mehr. Das Haus mit dem Wartezimmer von Onkel Brandt. Es gab nur noch Trümmer, Schutt und Asche. Es roch nicht mehr nach Tannen und Bratäpfeln. Es roch nach Pulverrauch und verbranntem Fleisch. Menschenfleisch. Wir hatten überlebt, aber waren obdachlos. Der Feind hatte uns alles genommen, zerstört und vernichtet. Rücksichtslos ...
XXX
Es war eine andere Welt, ein anderer Baum, ein anderer Ort, heute. Heiligabend. Es war auf einem kleinen abgelegenen Dorf, auf dem wir später Unterschlupf gefunden hatten. Die Oma, der Opa, die Mutter und ich. Vater war nicht wiedergekommen aus dem Krieg. Jahre waren vergangen. Groß war ich längst, aber kein Held geworden. Das hatte ich nicht mehr geschafft.
Der Krieg war viel früher vorbei gewesen als ich damals befürchtet hatte. Er war schon entschieden, lange bevor die Bomben der fliegenden Killer die vielen Mütter und kleinen artigen Kinder getötet hatten. Der Mord wäre nicht nötig gewesen.
Der Feind hatte uns besiegt und erzählt, er habe uns befreit. Ich war gutgläubig. Man konnte mir ja viel erzählen. Aber der Feind als Sieger, der täglich kleine brave Kinder und deren Mütter heimtückisch und feige getötet, der tausendfach Bomben auf hilflose Menschen geworfen und ihnen den qualvollsten Tod und größtes Leid gebracht hatte? Ausgerechnet dieser Feind sollte jetzt die Wahrheit sagen und unser Befreier sein? Ha. Das konnte mir niemand erzählen. Sogar Mutter hatte ja gelogen und sie war immer nur lieb. Der Feind also hatte uns besiegt und befreit. Richtig - von allem, was uns lieb und teuer gewesen war ... auch von meinem kleinen Freund Lothar. Genau diesem Feind sollte ich nun plötzlich vertrauen! Sollte ihm glauben! Glauben? Warum? Glaube ich denn noch immer an den Weihnachtsmann? ...
XXX
Es ist eine andere Welt, ein anderes Zimmer, die gute Stube, eine andere Stadt, heute. Heiligabend. Unser Sohn mochte plötzlich keinen Weihnachtsbaum mehr. "Aus diesem Alter bin ich längst raus" sagt er selbstsicher. Also keinen Glanz und Flitter, keinen Geruch nach Tanne und Bratapfel. Keine Sentimentalitäten! Heiligabend, ein Tag wie jeder andere ... ?
Wenn ich heute, Heiligabend, unseren Baum schmücke, sehne ich mich nach der Kindheit, nach dem Zimmer von Onkel Brandt. Nach dem Opa, der mich in die verzauberte Stube ruft, nachdem der Weihnachtsmann gegangen ist. Nach der Oma mit ihrem guten Essen und der Mutter mit ihrer Liebe und Geduld. Es gibt sie alle nicht mehr. Ich finde ihn nicht mehr, diesen Heiligabend, obwohl es genau so nach Äpfeln und Nüssen duftet und der Kerzenglanz den Baum bald strahlend erhellen wird, heute. Heiligabend.
Wenn ich heute, Heiligabend, unseren Baum allein schmücke, jede Kugel liebevoll in die Tannenzweige hänge, ist manchmal unser Sohn bei uns. Nicht, weil Heiligabend ist, sondern weil ich ihn gebeten hatte, rasch noch den Computer zu reparieren. Wenn er wieder nach Hause geht, lange bevor die Kerzen brennen, spüre ich deutlich sein Mitleid: "Papa ... wie sentimental ... wie infantil." Wenn er gegangen ist weiß ich, er hat den wunderschönen Weihnachtsbaum nicht einmal angesehen.
Es war eine andere Welt, das Zimmer, damals, die gute Stube. Heiligabend.
XXX
Heute kann jeder den Weihnachtsmann sehen. Er kommt nicht mehr heimlich, er ist überall. In jeder Straße. Da sind sie, die Studenten oder Arbeitslosen dutzendweise, hundertfach in roten Mänteln, Kaputzen und langen weißen Bärten, nicht nur Heiligabend. Selbst an vielen Häusern hängen heute die Weihnachtsmänner weithin sichtbar an den Dachrinnen und machen verzweifelte Versuche, irgendwo hinzuklettern. Rauf oder runter. Man weiß es nicht genau. Geschenke bringt der Weihnachtsmann nicht mehr. Er animiert heute zum Kauf der Weihnachtsgeschenke in den Kaufhäusern und Supermärkten. Nicht jeder kann sie kaufen, nur, wer noch etwas Geld übrig hat. Man muss sie rasch kaufen, die Weihnachtsgeschenke, schon im Sommer, weil sie rasch teurer werden und möglicherweise bald gar nicht mehr bezahlbar sind.
Wir sind befreit! - Von der romantischen weihnachtlichen Stille, vom guten alten Weihnachtsmann auf seinem Schlitten und vom weißen Schnee und den leise rieselnden großen Flocken, die zu Weihnachten heute nur noch selten fallen, um die weihnachtlichen Wälder, Wiesen und Straßen in Zuckerguß zu verwandeln. Stille Nacht, heilige Nacht. Stille Nacht?
Es war eine andere Welt, das Zimmer, damals, die gute Stube. Heiligabend.
Es ist eine andere Welt, das Zimmer, heute, die gute Stube. Heiligabend ...



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