Himmlische Seifenblasen
© Birge Laudi
Hannah langweilte sich. Sie geisterte durchs Haus, wanderte von Zimmer zu Zimmer, störte den Bruder beim Lesen, ging der Mutter auf die Nerven, die den Teig für Weihnachtsplätzchen knetete. Sie fasste hier ein Buch an und legte es wieder weg, gab dort einem Schuh ihres Bruders einen Tritt, dass er unter den Tisch flog. Sie trank ein Glas Wasser, sie spielte ein paar Takte auf dem Klavier und es war ihr immer noch langweilig.
'Ich weiß nicht, was ich tun soll', jammerte die Achtjährige.
Es gibt einfach solche Tage. Nichts reizt zum Spielen, nichts lenkt ab vom trüben Wetter draußen vor der Tür. So trüb wie es draußen war, so trüb war es drinnen und so trüb war es ganz drinnen in Hannah selbst.
'Mach doch ein paar Strohsterne für den Christbaum', schlug ihr die Mutter vor. 'Ich brauche heuer mehr Schmuck als im vergangenen Jahr. Der Baum ist diesmal viel größer'.
Nein, der Vorschlag ihrer Mutter fand keinen Gefallen bei Hannah.
'Strohsterne sind blöd. Sie sind doch nur was für Babys oder alte Frauen. Aber doch nicht für mich!', maulte sie.
Missmutig warf sie sich im Wohnzimmer auf den Boden und sah sich die Welt aus einer anderen Perspektive an. Sie ließ ihre Blicke umherwandern, um die Tisch- und Stuhlbeine herum, unters Klavier und hinter das Sofa. Außer ein paar Staubflusen, einem Kronkorken und ihrem seit langem vermissten linken Ballettschuh in der hintersten Ecke sah sie nichts Weltbewegendes. Doch halt, dort unter dem Sofa lag etwas blaues, röhrenförmiges. Was mochte das sein? Smarties vielleicht? Hannah machte sich lang und angelte das
unbekannte Objekt hervor und dann hielt sie verwundert einen der bunt bemalten Behälter für Seifenblasen in der Hand. Wie lange mochte das alte Spielzeug schon dort liegen? Kaum konnte sie sich noch erinnern, wann sie zum letzten Mal Seifenblasen gemacht hatte.
Auf dem Rücken mitten im Wohnzimmer liegend begann sie Seifenblasen in die Luft zu pusten. Als ihre Mutter sie so sah, rief sie nur kopfschüttelnd:
'Was machst du denn da? Sag bloß mein Baby-Mädchen spielt jetzt Seifenblasen-Machen!'
Hannah sah ihre Mutter schief an. Pampig entgegnete sie:
'Nein, ich mach keine Seifenblasen. Ich mach Christbaumkugeln. Du hast doch gesagt, du brauchst noch Christbaumschmuck.'
Resigniert ob der schlechten Laune ihrer Tochter schloss die Mutter die Wohnzimmertüre und nach geraumer Zeit roch Hannah den verführerischen Duft von frischgebackenen Weihnachtsplätzchen. Während sie traumverloren die durchsichtigen, in allen Regenbogenfarben schillernden Seifenblasen ins Zimmer entließ, während sie versuchte große und kleine Seifenblasen zu erzeugen, Zwillingsblasen und ganze Ketten von Seifenblasen, begann es draußen leise zu schneien. Locker und leicht tanzten die Flocken am Fenster vorbei
und aus dem Zimmer ihres Bruders tönten Weihnachtslieder. Jakob übte auf der Blockflöte für die Weihnachtsfeier in der Schule. Sachte fiel die Langeweile von Hannah ab und eine erwartungsvolle Weihnachtsstimmung erfüllte sie. Seifenblase um Seifenblase schwebte von ihrem Mund weg, verschwand im Raum hinter ihr.
Ach liebes Christkind, dachte sie, auch wenn es dich vielleicht gar nicht gibt, wäre es nicht schön, einen ganzen Christbaum voller Seifenblasen zu haben?
Immer dichter wirbelte inzwischen der Schnee vor dem Fenster. Packte die Welt in eine friedliche, watteweiche Stille, eine Stille, die sich auf alles legte, die bis ins Wohnzimmer zu Hannah auf dem Fußboden drang. Langsam wurde es dämmrig und im Zimmer breitete sich ein silbernes Licht aus. Hannah blies, eingehüllt in feierlicher Stimmung, ihre Seifenblasen in den stillen Raum. Aus Jakobs Zimmer ertönte 'Oh Tannenbaum' und Hannah hörte, wie der Vater nachhause kam. Er brachte von draußen den großen Tannenbaum
mit ins Haus. Morgen früh würden sie ihn schmücken. Morgen war Heiligabend.
Plötzlich flog die Wohnzimmertüre auf. Jakob platzte herein und schrie:
'Hannah....!'
Unvermittelt brach er ab und riss verblüfft den Mund auf, vergaß worüber er sich bei seiner Schwester beschweren wollte.
'Wow! Ist das schön', flüsterte er.
Er machte kehrt, rannte in die Küche und rief:
'Mama, komm schnell! Schau, was Hannah gemacht hat!'
In der Annahme, die Tochter habe in ihrer miesen Laune wieder einmal etwas angestellt, unterbrach die Mutter das Plätzchenbacken, wischte sich rasch die mehligen Hände ab und rannte zusammen mit Jakob zum Wohnzimmer. Staunend blieben sie in der Türe stehen, starrten ungläubig auf das, was sie da sahen.
'Das darf doch nicht wahr sein! Gott, ist das schön. Ein richtiges Wunder ist das.'
'Ja', ergänzte Jakob, 'ein richtiges Seifenblasenweihnachtswunder.'
Hannah wusste nicht, was die beiden meinten. Ein wenig verunsichert stand sie auf und sah sich um. Und da war auch sie sprachlos.
Der gesamte Raum hinter ihr war angefüllt mit Seifenblasen, die zu gläsernen durchsichtigen Christbaumkugeln erstarrt waren. Sie stapelten sich auf dem Sofa bis hinauf zur Decke, hingen in den Fächern des Bücherschrankes, hatten sich auf Mutters Blattpflanzen gesetzt, waren in den Gardinen hängen geblieben und hatten das Klavier unter sich begraben. Schon rollten sie über den Fußboden auf die Türe zu. Leise klirrten sie aneinander, als Hannah vorsichtig mit dem Fuß eine Kugel anstupste. Die Mutter zündete eine
Kerze auf dem Tisch an und da schillerte und glitzerte es, als sich das Licht hundertfach in den Glaskugeln spiegelte.
Das war die zu Glas erstarrte himmlische Antwort auf Hannahs Wunsch an das Christkind, das es vielleicht gar nicht gab.
Hannah fasste sich als erste wieder.
'Siehst du, Mama, du hast doch verlangt, ich soll Christbaumschmuck machen. Und das habe ich eben getan', sagte sie großspurig mit einer Miene, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, ein Zimmer voller Glaskugeln herzustellen. Sie genoss die uneingeschränkte Bewunderung ihres Bruders.
Aus Angst, die Kugeln könnten zerbrechen, beschlossen sie gemeinsam, den Baum gleich zu schmücken, auch wenn erst am nächsten Tag Heiligabend war. Der Vater holte den Tannenbaum herein und stellte ihn mitten im Zimmer auf.
Vorsichtig nahmen sie Kugel um Kugel vom Boden auf und hängten sie an durchsichtigen Fäden an den Baum. Keine der Seifenblasenkugeln ging dabei zu Bruch. Sie klingelten und klirrten leise und ein überirdisches Licht ging von ihnen aus, ein geradezu himmlischer Glanz. Alle Farben des Regenbogens waren darin vereinigt. Ein gläsernes Kunstwerk und der schönste Weihnachtsbaum, den sie je gehabt hatten.
Am Morgen nach dem Weihnachtsfest aber stand der Christbaum plötzlich nackt und grün da, ein einfacher Waldbaum. Keine einzige Seifenblasenkugel hing mehr am Baum. Nur die durchsichtigen Fäden, an denen die Kugeln gehangen hatten, ringelten sich wie Engelshaar an den Zweigen und der Engel oben auf der Spitze des Baumes breitete seine zarten Flügel ungerührt aus wie am Heiligen Abend.
Leise duftete der Baum nach Wald.
Die Weihnachtsgeschichte "Es ist ein Ros entsprungen" von Birge Laudi
finden Sie in diesem Buch
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 3-9809336-9-5
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