Du bist nicht allein
© Stefanie Kasper
Corinne schob sich ihr blondes Haar hinter die Ohren, vergrub das Gesicht bis zur Nase in ihrem flauschigen, roten Schal und steckte die Hände tief in die Taschen ihres neuen Wollmantels. Dann stiefelte sie los, hinaus in die kalte Winterlandschaft. Es war der Abend des 24. Dezembers, die Heilige Nacht.
Sie wusste selbst nicht, was sie da tat. Die Straße war verlassen, in den meisten Häusern brannte kein Licht mehr. Der Wind wirbelte den Schnee um sie herum auf, fuhr unter ihre Kleider und ließ sie frösteln. Robert schlief längst, Claudine und Paul dicht an ihn gekuschelt. Weil heute Weihnachten war, hatte ihr Mann den beiden erlaubt, im Ehebett zu übernachten, was sonst die Ausnahme blieb. Erschöpft vom Auspacken der Geschenke, von Weihnachtsliedern und Lichterketten, waren die Kinder mit einem glücklichen
Ausdruck auf den runden Gesichtern selig eingeschlummert.
Die Kälte brannte auf Corinnes Wangen. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte hoch zum Himmel. Er war düster und verhangen, kein einziger Stern war am Firmament zu sehen. Enttäuscht beschleunigte sie ihren Schritt. Vielleicht war es töricht von ihr, dieser Nacht besondere Bedeutung beizumessen. Dennoch hatte sie auf sanftes Mondlicht gehofft, das ihren Weg bescheinen würde.
Die Gleise der verlassenen Bahnstrecke waren schneebedeckt und darunter nur noch zu erahnen. Corinne hob die Beine, so dass sie nicht versehentlich stolperte. Sie kannte den Weg gut, war ihn unzählige Male gegangen. Das Quietschen des Eisentors jagte ihr Schauer über den Rücken. Sie durchschritt das Türchen und schloss es leise hinter sich, um den Frieden des Ortes nicht zu stören. Ganz still begannen silbrige Flocken vom Himmel zu fallen. Vor Corinne breitete sich ein Lichtermeer aus. Auf den meisten der Gräber
brannten Kerzen. Irgendwo in der Ferne jaulte ein Fuchs. Sie schlang die Arme fest um ihren Körper, um ein Zittern zu unterdrücken.
Ihr Weg führte sie am neu erbauten Leichenhaus vorbei. Der Schnee knirschte unter ihren Füssen, als Corinne vorbeieilte. Schon als kleines Kind hatte sie sich vor dem Ort gefürchtet, an dem die Toten darauf warteten, zur letzten Ruhe gebettet zu werden. Mit einem Mal wünschte sie sich zurück in ihr warmes Heim, wo der Arm ihres Mannes sich um sie schlingen, und der warme Atem ihrer Kinder ihre Wangen streifen würde.
Sie zögerte, wollte umkehren, doch sie konnte nicht.
"Marianna", formten ihre Lippen tonlos den Namen ihrer Schwester. Ihrer Zwillingsschwester, die vor genau fünfzehn Jahren gestorben war. Um drei Minuten nach zwölf hatten die Ärzte ihren Tod festgestellt. Diese Nacht hatte sich Corinne unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Sie sah noch die grünen Ziffern der Leuchtuhr vor sich, die sie an ihrem Handgelenk getragen hatte. 12.03 Uhr.
Sie trat ans Grab, als die Kirchturmglocke im Dorf Mitternacht schlug. Unter dem Schnee lugte ein üppiger Strauß weißer Nelken hervor. Mariannas Lieblingsblumen. Ihre Eltern waren da gewesen, und hatten ihrem toten Kinde gedacht. Corinne wurde ein wenig wärmer ums Herz.
"Ich bin hier, Mieke", flüsterte sie um 12.03 Uhr. "Ich hab` dich nicht vergessen."
Stille um sie herum. Sie bebte. Ihre Schwester war wie ein Schatten, der sie nicht losließ. Vor dem schrecklichen Unfall waren sie nie getrennt gewesen. Ihr war seitdem, als wäre sie nur noch zur Hälfte lebendig. Marianna - ihre Mieke - fehlte ihr so.
"Warum bist du gestorben und hast mich allein gelassen?", wisperte sie, während ihre heißen Tränen in den kalten Schnee tropften. Corinne stellte diese Frage jedes Jahr in völliger Einsamkeit, allein mit sich und ihrer Schuld. Finsternis umhüllte sie, beinahe schien es, als wäre der Himmel noch düsterer geworden.
"Mieke", sie kniete sich hin. Feuchtigkeit durchnässte ihre Hose und ließ ihre Haut darunter klamm werden. Sie kümmerte sich nicht darum. In Wahrheit hatte sie sich all die Jahre über vorgeworfen, dass sie, und nicht Marianna, noch am Leben war. Nicht ihre Schwester hätte sterben sollen, nicht die fröhliche, lachende Mieke, sie wusste es. Das Schicksal hatte mit Mariannas Tod einen schlimmen Irrtum begangen. Corinne dachte manchmal darüber nach, ob sie dieses Unrecht wiedergutmachen sollte. Dreimal
bereits hatte sie die Klinge an ihr Handgelenk gesetzt, und es am Ende nicht fertiggebracht. Das war kurz nach dem Begräbnis gewesen.
Seit sie Robert kannte, waren der Schmerz und die Trauer leiser geworden, verhaltener. Doch als Corinne an diesem Weihnachtsabend das helle Lachen ihrer Kinder gehört hatte, waren Mieke und ihr schrecklicher Tod mit der vollen Wucht des Unfassbaren zurückgekehrt. Niemals würde Marianna eine Familie haben, niemals würde sie das Glück empfinden dürfen, das sie, Corinne, beim Anblick ihrer Lieben verspürte.
"Ich wollte, ich wäre an deiner Stelle gegangen." In dem Moment meinte sie es genauso, wie sie es sagte. Kälte umfing ihren Körper, aber sie wollte nicht aufstehen, wollte nicht gehen.
"Keine Angst, Mieke, ich bleibe bei dir", wisperte sie dem dunklen Grab zu. Ihre Augen richteten sich auf die schneeweiße Kerze, die in dem kleinen Windschutz brannte. Die Flamme bewegte sich hin und her, so als wollte sie tanzen.
"Ich bleibe bei dir", wiederholte Corinne und kniete weiter im Schnee. Sie wollte, sie musste bei ihrer Schwester sein. Das Flackern der Kerze wirkte hypnotisch. In ihrem schwachen Schein konnte sie die Worte auf dem sandfarbenen Grabstein erkennen. `Hier ruht Marianna Konrad, unsere Mieke. Geliebte Tochter, geliebte Schwester, geliebtes Enkelkind`. Corinne kannte die Inschrift auswendig. Sie schloss die Augen. Ihre Arme und Beine waren längst steifgefroren.
"Wie sehr ich wünschte, du wärst hier." Selbst die Tränen, die über ihre Wangen rannen, schienen eisig.
"Ich bin hier, Rieke", hallte es da in Corinnes Kopf, "ich bin immer bei dir, spürst du es nicht?" Der Wind, der sie eben noch hatte zittern lassen, schien schlagartig aufzuhören. Eine warme Hand schob sich in ihre, und vertrieb die Kälte aus ihren Fingern.
"Marianna?", formte sie tonlos. Sie wagte nicht die Augen zu öffnen, aus Furcht, die kostbare Verbindung zu verlieren.
"Dumme Rieke", hörte sie Miekes Stimme, "du solltest meinetwegen nicht traurig sein. Ich will dich lachen sehen. Du weißt doch, wir haben immer soviel miteinander gelacht."
Im Geist sah Corinne das stupsnasige Gesicht ihrer Schwester vor sich. Die hellen Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken schienen lustig zu hüpfen.
"Ich bin schuld", gestand sie ein, was ihr auf der Seele brannte. "Ich bin gefahren."
"Nein", berichtigte die unsichtbare Mieke sanft, "der andere Fahrer war schuld. Nicht du. Ich hab dich lieb, Schwesterchen, für immer."
"Bleib bei mir", hauchte Corinne. "Bitte bleib bei mir."
Sie riss die Augen auf, wollte Marianna festhalten, aber niemand war da. Stille herrschte auf dem einsamen Friedhof. Ihre Hand, in der sie die ihrer Schwester zu fühlen geglaubt hatte, war kalt und klamm. Corinne schlang fröstelnd ihren Schal um sich und stand auf. Für eine Weile hatte sie die eisige Winternacht nicht mehr bewusst wahrgenommen.
"Corinne!" Sie fuhr erschrocken zusammen, als die Stimme, laut und durch und durch lebendig, an ihr Ohr drang. "Corinne!"
In der Dunkelheit zeichnete sich schemenhaft die Gestalt eines Mannes ab, der mit schnellen Schritten auf sie zukam.
"Dummer Liebling." Robert zog sie an sich. Sofort wurde ihr wärmer. Weiße Schneeflocken hatten sich in seinem schwarzen Haar verfangen. "Du bist ja vollkommen durchnässt. Was hast du dir nur dabei gedacht?", schimpfte er leise mit ihr. "Ich habe wirklich geglaubt, du würdest in diesem Jahr nicht fortgehen, sondern bei mir und den Kindern bleiben."
"Marianna …"
"Ich weiß, Schatz, aber es macht wirklich keinen Sinn, ihr Grab ausgerechnet um Mitternacht zu besuchen. Es bringt sie nicht zurück, wenn du dir in der Kälte den Tod holst."
"Es war das letzte Mal", erklärte Corinne ihrem Mann da bestimmt, schob ihre linke Hand in die Tasche seines Mantels, und verschlang ihre Finger mit den seinen.
"Das behauptest du jedes Jahr …"
"Nein", sie schüttelte den Kopf. Ihre Stupsnase, identisch mit der ihrer Schwester, war rotgefroren. "Ich konnte mich endlich verabschieden. Mieke ist mir nicht böse, das weiß ich jetzt."
Robert sah seine Frau an und überlegte, ob sie vielleicht einen Kälteschock davongetragen hatte.
"Schau nicht so." Sie hakte sich bei ihm unter. "Ich spinne nicht, keine Angst. Lass uns gehen, bevor die Kinder noch aufwachen."
Erst als sie die alten Schienen hinter sich gelassen hatten, bemerkte Corinne den klaren Nachthimmel, erleuchtet von funkelnden Sternen. Eine einzelne Sternschnuppe zog strahlend hell über das Firmament und verkündete das Wunder der Weihnacht. Ihr wurde warm ums Herz. Wärmer, als ihr fünfzehn Jahre lang gewesen war.
"Frohe Weihnachten, liebe Rieke", hallte es in ihrem Kopf. Corinne begriff in dieser Heiligen Nacht, dass ihre Schwester sie niemals verlassen hatte.
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