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So weit kommt's noch

© Jolanda Fäh-Weilenmann


"He, Sie."
Der meint wohl mich. Hockt vor dem Coop auf einer Kiste. Bearbeitet ohne Sinn und Verstand eine Handorgel. Das Instrument jammert und heult.
Vor Weihnachten tauchen sie auf. Kriechen wie Ungeziefer aus ihren Löchern. Rumänen oder Zigeuner oder rumänische Zigeuner. Bettelndes Gesindel. Jedenfalls muss mir keiner von denen mit "He, Sie" kommen. So weit kommt's noch, dass mich einer mit "He, Sie" anspricht. Ich greife verärgert nach einem Wägelchen.
Mit einem vollen Einkaufswagen verlasse ich eine halbe Stunde später das Kaufhaus. Rollschinken habe ich gekauft, für Weihnachten. Für Robert und mich.
"He Sie, so warten Sie doch."
Jetzt reicht es!
"Was willst du, hä?"
Der Kerl grinst verlegen.
"Ich nur will etwas fragen."
Jetzt kommt es gleich. Geld wird er wollen. Da soll er sich einen anderen Blödmann suchen. Ich gebe keinen Fünfer für dieses jämmerliche Handorgelgequitsche. So weit kommt's noch. Der soll mich nur fragen, soll nur fragen, was ich von seiner Musik halte.
"Na", sag ich, "dann frag halt, wenn du die Antwort nicht scheust."
"Bitte?"
"Du sollst jetzt deine Frage stellen. Ich hab nicht ewig Zeit."
Er stellt sein Instrument auf den Boden, steht auf und lächelt.
"Was machen Sie an Weihnachten?"
"Was?"
"Ich wollen nur wissen, wie Sie Weihnachten feiern. Das alles."
"Das geht dich ja wohl einen feuchten Dreck an", gebe ich ihm zur Antwort, drehe mich um und knalle das Wägelchen zurück in die Reihe. Der freche Kerl geht mir nach.
"Ich wollen nur wissen, wie Sie Weihnachten feiern", wiederholt er.
"Dann komm halt vorbei und sieh selber", antworte ich patzig und lasse ihn stehen.
Heiligabend. Wer zum Teufel hat bloß Heiligabend erfunden? Wahrscheinlich Luzifer höchstpersönlich - und ich muss sagen, er hat ganze Arbeit geleistet. Robert, mein bester Freund, geht heute zu seiner Tochter, und das obwohl Montag ist. Montag ist Schachabend! Was geht es mich an, dass heute der 24. Dezember ist, habe ich gesagt. Ein Montag wie jeder andere auch. Aber Robert hat abgewinkt. Er muss, hat er gesagt, sonst hängt der Haussegen schief. Dabei wollte ich für uns beide den Rollschinken machen. Wegen des Rezepts habe ich extra die Nachbarin gefragt.
Simon und Rita, meine Kinder, werden auch nicht kommen. Sie hätten jetzt eigene Kinder, wollen ein eigenes Bäumchen, ein eigenes Fest. Ich sei herzlich eingeladen, bla bla bla. So weit kommt's noch!
Ja, wenn Martha noch da wäre, die hätte denen schön den Marsch geblasen. Sie hätte vom Schinken im Teig geredet und vom Kartoffelsalat und keiner hätte widersprochen.
Nur wegen Martha habe ich den Baum gekauft. Einen Baum zu kaufen - was für eine blöde Idee. Eine sentimentale Anwandlung halt. Hätte ich mir sparen können. Martha ist tot. Tote brauchen keine Christbäume. Und ich eigentlich auch nicht. Je nun, den Baum hab ich jetzt. Aber schmücken tu ich den nicht auch noch. So weit kommt's noch.
Es klingelt an der Türe. Vielleicht Robert. Bestimmt hat er es sich anders überlegt …
"Guten Abend mein Herr. Da bin ich."
Ich spinn wohl. Das ist doch der Zigeuner mit der Quetschkommode, der da vor mit steht und eine tiefe Verbeugung macht. Jetzt lacht er mir einfach ins Gesicht.
"Was willst du?"
"Sie haben gesagt ‚komm' - jetzt ich bin da."
Er breitet die Arme weit aus.
""Ich stellen mich vor: mein Name ist Damian."
Ich bin sprachlos. Wie zum Kuckuck hat mich der Kerl gefunden? Und vor allem, was mach ich jetzt? Martha! Was würde Martha tun? Solange Martha da war, lag an Heiligabend immer ein zusätzliches Gedeck auf dem Tisch. Aber solange sie da war, kam auch nie ein Zigeuner an die Türe, Himmelherrgott noch mal! Damian unterbricht meine Gedankengänge.
"Mein Herr, ich haben Überraschung für Sie. Ich haben Freunde mitgebracht. Darf ich vorstellen: Nicola und Igor."
Aus dem Dunkeln tauchen zwei Gestalten auf. Herrgott, noch zwei Zigeuner! Die verbeugen sich artig, setzen, bevor ich etwas sagen kann, schwungvoll eine Fidel ans Kinn und beginnen zu spielen. Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht … Und eh ich mich versehe, habe ich die Haustüre weit geöffnet und die drei ins Haus gebeten.
Da stehen sie nun vor meinem Tannenbaum, reiben sich die Hände und schauen ganz und gar vergnügt um sich. "Schönes Haus, schönes Baum, danke schön für Einladung", wiederholen sie eins ums andere Mal. Ich deute auf das Bäumchen und höre mich sagen, dass ich mit den Vorbereitungen noch nicht so weit sei: der Baum sei auch noch nicht geschmückt. "Wir machen das", sagt Damian. Die anderen klatschen in die Hände. Was bleibt mir anderes übrig, als die Schachtel mit den Kugeln und dem Lametta hervorzukramen.
Ich decke den Tisch für vier, krame im Schrank nach Kerzen, Servietten, schäle noch ein paar Kartoffeln für den Salat. Ein Glück, dass ich welche auf Vorrat weich gekocht habe. So weit kommt's noch, dass an meinem Tisch einer nicht satt wird.
Unterdessen haben meine Gäste den Baum geschmückt. Ich finde, er sieht prachtvoll aus; die Zigeuner stolzieren wie Pfaue drum herum, zupfen Lametta, Kerzen und Kugeln zurecht. Es ist zum Totlachen. Als jetzt Damian zu seiner Handorgel greift, geht ein Geschrei los, ein Palaver sondergleichen. Die Geiger halten sich die Ohren zu und ich verstehe: Katzenmusik ist heute unerwünscht. Doch Damian lässt sich nicht aufhalten. Und tatsächlich. Er hat wohl heimlich geübt, spielt ganz ordentlich eine kleine Melodie. Die anderen klopfen ihm auf die Schultern. Ich gehe zu ihm hin, reiche ihm die Hand und sage:
"Ich bin der Hans."
Dann habe ich die drei in den Keller hinuntergeführt. Damian, Nicola und Igor habe ich gebeten, je eine Flasche Wein hinaufzutragen. Ich selber habe die Schachtel mit der Krippe aus dem Gestell geholt. Die haben wir anschließend gemeinsam unter den Baum gestellt: Damian hat im Schnee draußen nach Moos, Laub und Steinen für die Krippenlandschaft gegraben. Nicola hat in einer Reihe die drei Könige und das Kamel aufgestellt, den Mohren zuvorderst, weil der, so hat er behauptet, ein Zigeunerkönig gewesen sei. Ich habe mich mit den Hirten und Schafen beschäftigt. Igor hat lange das Krippchen mit der Jesusfigur in den Händen gehalten und ihm etwas in seiner Sprache erzählt. Ich habe ihn gefragt, ob er das Kind behalten möchte. Da hat er es schnell zu Maria und Josef gelegt. Ich habe den Wein geöffnet und das Essen auf den Tisch gestellt.
Nächstes Jahr wollen sie wieder kommen. Ich mach mir keine Sorgen, dass sie mich nicht finden könnten. Sind schließlich Zigeuner. "Zigeuner orientieren sich an den Sternen - und über deinem Haus stehen großer Stern", hat Damian beim Abschiednehmen gesagt und hat laut gelacht. Ich werde daran denken müssen, dass der Stern im nächsten Jahr noch ein paar weitere von Damians Freunden anziehen könnte. Robert meint, er feiert nächstes Jahr auch bei mir. Er sagt, er kommt wegen des Schinkens, seine Tochter könne den einfach nicht richtig zubereiten. Aber ich glaube, er ist ein bisschen eifersüchtig auf meine Rumänen.
Meine Kinder sind entsetzt. Ob ich jetzt völlig übergeschnappt sei, haben sie geschrieen. So ein Lumpenpack dürfe man nicht ins Haus lassen.
Ich lass mir doch nicht vorschreiben, wie ich Weihnachten feiere. So weit kommt's noch.



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