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Weihnachtsgeschichten Weihnachten Kurzgeschichte Advent Weihnachtsmann weihnachtliche Geschichten

Mirjam und Wanda

© Birge Laudi


Die Welt rüstete sich, das Weihnachtsfest zu begehen. Die Menschen wollten die Geburt Christi feiern, was immer sie darunter verstanden oder sich davon ersehnten. Auch Mirjam und Wanda liebten Weihnachten. Ihr ganz spezielles Weihnachten und sie verstanden darunter ein besseres Leben für wenige Tage.
Mirjam und Wanda, was waren das zwei kesse Gören gewesen! Freundinnen von Kindheit an, Freundinnen während der nur mühsam bewältigten Schulzeit. Aus den Freundinnen wurden noch vor dem Ende der Schuljahre Schicksalsgenossinnen. Sie waren allem aufgeschlossen gewesen, was wider das Establishment gerichtet war. Sie hatten sich Glatzen rasiert, den Busen tätowiert und schwarze Klamotten getragen. Nächtelang waren sie mit arbeits- und perspektivlosen Jungens durch die Kneipen gezogen, lungerten mit ihnen auf den Stufen vor dem Bahnhof herum und kifften im Park hinter dem Gebüsch, wenn die Finanzlage es zuließ. Sie konsumierten alles, um das Feeling kennen zu lernen, wie sie sagten. Pills, Koks oder Angeldust.
Sie trieben es wild und sie trieben es so lange, bis sie in bewusstlosem Zustand in der Notaufnahme des Klinikums gelandet waren. Dem folgte die bittere Zeit der Entgiftung, des Entzugs von all dem tollen Feeling und von ihrem wilden Leben. Danach meinte Mirjam, nun alles im Griff zu haben und ging wieder auf die Straße, zurück zu den alten Freunden. Wanda aber entschloss sich zu einer Langzeittherapie in einer Suchtklinik.
Mirjam und Wanda verloren sich aus den Augen. Für einige Zeit zumindest.
Wanda führte sich gut, war beseelt von der Vorstellung eines normalen Lebens, eines Lebens mit einem bescheidenen Beruf und dann vielleicht mit Mann und Kind. Doch so gnädig verfuhr das Schicksal nicht mit ihr.
Als es nach ihrer Entlassung aus der Suchtklinik mit einer Arbeitsstelle nicht klappte, sie keine Arbeit bekam, weil sie keine Wohnung hatte und sie keine Wohnung bekam, weil sie keine Arbeit hatte, da ging Wanda auf den Straßenstrich. Mit einem Quicki im Auto, hinter der Kirchenmauer oder auf der Bahnhofstoilette schaffte sie sich in einer Nacht das Geld fürs Überleben des nächsten Tages an und um die Widerwärtigkeiten des Anschaffens in manchen Nächten ertragen zu können, dichtete sie ihre Seele mit Tabletten ab. Zunächst auf Rezept, doch als sie mehr und mehr brauchte, musste sie ihr mühsam zusammengeschafftes Geld für illegale Traumpillen ausgeben.
In manch hellen Momenten wusste Wanda, dass es wieder so kommen würde, wie schon einmal. Doch wie es dann kam, das hatte sie weder gewusst noch bedacht. In bewusstlosem Zustand in die Klinik eingeliefert, unterernährt und schmutzig, fand sich bei der Blutuntersuchung, dass Wanda einem bösen Schicksal entgegen gehen würde. Sie hatte sich nicht nur mit Hepatits C sondern auch mit dem HI-Virus angesteckt.
Den Weg zurück in ein neues Leben mit wenig erfreulichen Aussichten schaffte Wanda mit Hilfe engagierter Therapeuten. Unter der ständigen bedrohlichen Vision vor dem Ausbruch von AIDS unterzog sich Wanda willig Therapien und Wiedereingliederung ins bürgerliche Leben. Soweit es auf diesem Scherbenhaufen noch möglich war. Wanda lebte kärglich. Sie lebte mehr schlecht als recht von dem, was der Staat ihr zugestand.
Träge schlichen die grauen Tage dahin, Wanda hätte längst neue Kleidung gebraucht, hätte sich auch gerne einmal hübsch gemacht wie zu Zeiten ihrer fröhlichen Freundschaft mit Mirjam. Doch das Geld reichte nicht. Sie sparte und sie sparte da, wo sie glaubte, es am leichtesten tun zu können und es war da, wo es wohl am schädlichsten für ihre Gesundheit war. Sie sparte am Essen.
Wenn der Hunger sie dann auf die Straße trieb, angelte sie sich, zunächst noch unter Schamröte, später bereits wie selbstverständlich, ein angebissenes Brot oder ein Stück Pizza aus dem Abfalleimer. Und das, was in den Abfalleimern landete, war der Grund, weshalb sie die Weihnachtszeit liebte.
Nicht nur die häuslichen Weihnachtsfeiern, sondern vor allem die Weihnachtsmärkte boten eine Überfülle von Essen, von dem nur ein Teil in den Mägen, eine erkleckliche Menge aber im Müll landete. Die Abfallkübel und Papierkörbe auf den Weihnachtsmärkten waren voll und sie lieferten das tägliche Brot für viele der Ärmsten in der Stadt. Eine Bratwurst, die einem ungeschickten Esser zu Boden gefallen war, ein angebissener glasierter Apfel, der dem kleinen Jungen nicht geschmeckt hatte, ein Lebkuchen, auf den vom nebenstehenden Wurstesser Senf getropft war. Der Tisch war reich gedeckt und Wanda zog Tag für Tag und auch des Nachts, wenn sie die Angst vor der Zukunft nicht schlafen ließ, über den Weihnachtsmarkt und wurde satt.
Sie war nicht die Einzige, die sich aus dem Abfall der Stadt ernährte. Von einem Tag zum nächsten wurden es mehr und mehr. Wanda hatte den Eindruck, dass die eine Hälfte der Bevölkerung so viel zu essen hatte, dass sie es wegwarf und mit diesem Abfall die andere Hälfte wider Willen ernährte. Man musste sich beeilen, wollte man nicht leer ausgehen. Manches Mal kam es gar zu Schlägereien unter den Hungernden, mal um Essensreste, mal um leere Flaschen, für die man einige Cent einlösen konnte.
An einem windigen, ungemütlichen Abend, nachdem der Weihnachtsmarkt seine Pforten geschlossen und die Müllabfuhr noch nicht eingetroffen war, zog Wanda wieder von einem Abfalleimer zum nächsten und wühlte nach Essbarem. Sie war so vertieft in ihre Suche, dass sie nicht bemerkte, wie neben ihrer Hand eine weitere in den Unrat tauchte. Jäh traf sie ein Schlag gegen die Schulter und sie strauchelte und fiel und im Fallen klammerte sie sich an den Mantel des Schlägers und riss ihn mit zu Boden und als sie nebeneinander lagen, da sahen sich Mirjam und Wanda ins Gesicht.
Sie lagen da und starrten sich an. Nur mit Mühe erkannten sie einander wieder nach all den unter Hunger und Drogen verlebten Jahren und sie fielen sich in die Arme und weinten, während über ihren Köpfen bereits andere hungrige Finger nach den trockenen Brotresten griffen, den verschmähten Bananen und dem Rest Cola in der Dose.
'Mirjam - Du!', schluchzte Wanda und sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihre alte Freundin und Mirjam keuchte: 'Wanda, ach Wanda'.
Die beiden jungen Frauen hielten sich umschlungen, saßen auf dem eisigen Straßenpflaster an den Abfallkorb gelehnt und mal lachten und mal weinten sie. Die letzten Besucher des Weihnachtsmarktes, vertrieben aus ihrem glitzernden Budenparadies, zogen lärmend an ihnen vorbei, den Duft nach Bratwurst und Glühwein im Schlepptau. Manch einer empörte sich über die beiden, hielt die zwei Frauen für betrunken. Andere wieder schauten peinlich berührt hinüber zur anderen Straßenseite. Ihre Gespräche stockten kurz, dann steckten sie sich eine letzte gebrannte Mandel in den Mund und zerbissen sie krachend. Rissen ein letztes Stück vom Lebkuchenherz mit dem Wunsch für ein merry X-mas aus Zuckerguss und warfen den Rest in den Abfall.
'Pfui Teufel, ist das süß!'
Mirjam und Wanda aber saßen beieinander, hatten die Welt um sich herum vergessen und erzählten. Gestanden sich gegenseitig all den Müll, zu dem ihr Leben geworden war und sie konnten gar nicht genug davon bekommen, ihren Jammer loszuwerden.
'Weißt du noch', sagte Mirjam, 'ich war damals der Meinung, ich schaffe das alles schon. Ich glaubte an meine Stärke und hatte die Vorstellung, auch die anderen aus unserer Gruppe vom Gift losreden zu können. Was für eine blöde Gans ich doch war. Es hat keine zwei Tage gedauert, da hatte mich die Gier nach den Drogen wieder fest im Griff. Es ging raus der Entgiftung und wieder rein in die Entgiftung, wie in einer Drehtür. Immer raus und wieder rein. Ich weiß nicht, wie oft ich in der Klinik gewesen bin. Beim letzten Mal, da war ich schwanger. Von wem weiß ich nicht. Da haben mich die in der Klinik ins Methadon-Programm aufgenommen und mir ist es ganz gut gegangen. Aber ich hab schon vor der Entbindung wieder begonnen, zusätzlich alles Mögliche zu schlucken und da wurde ich aus dem Programm geworfen. Das Kind kam zu früh und als es da war, hat man es mir gleich weggenommen. Es hätte einen fürchterlichen Entzug, das arme Wurm, haben sie gesagt und haben mich mein Kind gar nicht sehen lassen. Ich weiß nicht einmal ob es ein Junge oder ein Mädchen war.'
Wanda streichelte ihre Freundin, die verloren in die Nacht starrte. Allmählich erlosch in den Schaufenstern die bunte Weihnachtsbeleuchtung. Es wurde dunkler in der Stadt. Zwei Polizisten kamen auf ihrer Nachtstreife die Straße herauf. Sie blieben bei den beiden Frauen stehen.
'Hier können Sie nicht bleiben!' Ein wenig barsch ging der jüngere der beiden Mirjam und Wanda an.
'Seid wohl wieder dicht?'
'Lass man.' Der ältere legte seinem Kollegen begütigend die Hand auf den Arm. Dann wandte er sich an die beiden Frauen.
'Er hat Recht', sagte er. 'Hier können Sie nicht sitzen bleiben. Dazu ist es zu kalt. Kommen Sie mit. Ich bringe Sie zur Wärmestube.'
'Ist schon gut', sagte Mirjam versöhnlich, die zunächst wieder wie in alten Zeiten giftig hochgefahren war und höhnisch auf die 'Bullen' zurückgeifern wollte. Die muss man nur runterlaufen lassen, dann hauen sie ab. Sagten sie früher. Heute nahm sie sich zusammen. Sie wollte nicht wieder in den Knast, auch wenn es nur für eine Nacht war.
'Dort ist man sofort wieder drauf', hatte sie Wanda erzählt. 'Und ich war oft da. Wegen Taschendiebstahl und so was halt.'
Mirjam wollte auch nicht, dass der junge Wachtmeister sie nach ihrem Ausweis fragte. Dann hätte er sie mit einem 'Ah, eine alte Kundin' gleich mit zur Wache genommen.
'Ist schon gut, wir kennen die Wärmestube. Gute Idee.'
Die Frauen rappelten sich hoch und gingen die Straße hinunter in Richtung Bahnhof. Dort wussten sie die von der Diakonie betriebene Wärmestube. Die beiden Polizisten blickten ihnen nach.
'Zwei alte Kundinnen', sagte der ältere. 'Ich kenne sie schon lange. Sie bemühen sich, aber sie schaffen es noch immer nicht. Lassen wir sie heute. Sozusagen als Weihnachtsgratifikation.'
Der jüngere der beiden zuckte mit den Achseln.
'Wenn du meinst. Ich hätte sie mir schon gerne genauer angesehen. Aber wie du willst.'
Dann gingen sie weiter, machten ihre Runden durch den geschlossenen Weihnachtsmarkt, sahen am Bahnhof nach dem Rechten und als sie wieder an dem Abfallkorb vorbeikamen, wo sie die beiden Frauen aufgelesen hatten, da stand wieder einer von denen, deren Geld nicht mehr reichte und wühlte im immer wieder durchwühlten Müll.
'Sag, findest du nicht auch, dass es immer mehr werden?' fragte der Junge den Alten und das fanden auch Mirjam und Wanda, als sie die bereits überfüllte Wärmestube betraten. Sie waren schon lange nicht mehr da gewesen. Mochten nicht die Atmosphäre, das Spiegelbild ihres eigenen Lebens in der sogenannten Unterschicht. Schmutzige und hustende Gestalten, verraucht. Männer, aus deren Kleidung in der Wärme der Stube der Geruch nach dem Leben auf der Straße herausdampfte, nach Alkohol und nach Armut.
Aber es roch auch ein ganz klein wenig nach Weihnachten. Die Helfer der Diakonie hatten Kaffee gekocht, eine Kerze und Teller mit Plätzchen auf den Tisch gestellt. Gutmütig rückten die Männer, deren Leben auf der Platte auch den beiden Frauen nicht fremd war, zusammen. Sie schoben ihnen einen der Teller hin und Mirjam brach in Tränen aus.
'Na na, junge Frau', tröstete ein Bärtiger sie. 'So schlimm wird's schon nicht sein. 'S wird schon wieder werden. Ist doch bald Weihnachten', und erklopfte ihr beruhigend auf den Arm.
Wanda wischte sich mit ihrer schmutzigen Hand übers Gesicht. Dann sagte sie trostlos und abwesend in all den Rauch und all den Schmutz und die Armut hinein:
'Wo soll ich denn hingehen? Ich bin wieder schwanger. Die werden mir das Kind wieder wegnehmen.'
Mit einem Schwall kalter Luft kam ein neuer Gast herein und schrie ein 'Frohe Weihnachten allerseits' in die Runde. Müde Gesichter, trübe Blicke, kaum ein Lächeln dankten ihm den frommen Wunsch.
'Für uns doch nicht', murmelte einer und der eine sagte es für alle und er sah dabei Mirjam und Wanda an.



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