Weihnachtseinkäufe
© Uwe Patzwahl
"Markt und Straßen sind verlassen ...", so beginnt ein altes Weihnachtsgedicht, von dem ich kaum mehr als den Anfang in Erinnerung hatte. "Gerade jetzt muss mir das einfallen", dachte ich hämisch, als wir uns in dem allgemeinen Gedränge auf ein weiteren Kaufhaus zu bewegten. Meine Frau hatte darauf bestanden, dass ich sie in diesem Jahr bei den Weihnachtseinkäufen begleite. In den letzten Jahren war es mir fast immer gelungen, die vielen Termine in der Firma als Ausrede zu verwenden, doch
natürlich hatte sie dies durchschaut und bei unserem eigentlich gemütlichen Samstagsfrühstück an meine Fairness appelliert. Ich hatte mich seufzend geschlagen gegeben, und nun waren wir bereits seit Stunden unterwegs.
In diesem Moment eskalierte der im Vorfeld des Festes der Liebe gnadenloser denn je ausgetragene Kampf um die Parkplätze zu einem ungeduldigen Hupkonzert, als ein offensichtlich zu friedlich gesinnter Autofahrer sich beim Abbiegen nicht rücksichtslos genug durch die nicht abreißende Menschenmenge gedrängelt hatte und dadurch die wartende Autoschlange kaum vorankam. Zu dem Verkehrschaos war auch noch ein von starken Winden getriebener Schneeregen gekommen, der die Straßen in wenigen Augenblicken in glitschige
Rutschbahnen verwandelte. Über all dem wachten zahlreiche Weihnachtsmänner auf ihren hochbepackten Schlitten, die, von vielen Glocken und Sternen umrandet, strahlend an Lichterketten hingen, welche die Einkaufsstraße in regelmäßigen Abständen überspannten.
"Gnadenbringende Weihnachtszeit", zitierte ich, als wir uns durch den überfüllten Eingang in das stickige Kaufhaus drängelten. Von meiner Frau erntete ich dafür aber nur einen vernichtenden Blick, der mir deutlich machte, dass auch ihre Nerven angespannt waren, und daher konzentrierte ich mich nun wortlos darauf, Bing Crosbys "White Christmas" zu überhören, das auch hier, wie in den vielen Einkaufspalästen zuvor, die Kauflaune anheizen sollte. Ich lächelte, als mir plötzlich ein Satz einfiel,
den meine Frau mir vor wenigen Tagen aus dem Aufsatz einer ihrer jüngeren Schüler vorgelesen hatte. Der Zwölfjährige hatte zum Thema Weihnachten die kluge Bemerkung gemacht: " Wenn Jesus sehen könnte, was die Menschen aus seinem Geburtstag gemacht haben..." Ich hatte zwar vergessen, was Jesus nach Meinung des Jungen gemacht hätte, wenn er dieses Chaos sehen könnte, fand es aber tröstlich, dass ich offensichtlich nicht der einzige war, dem diese Diskrepanz zwischen der viel beschriebenen Ruhe und Besinnlichkeit
und dem ungebremsten Kommerz unangenehm auffiel.
Inzwischen hatte sich eine weitere Einkaufstüte zu den anderen gesellt und meine Frau eröffnete mir, dass wir fast fertig seien, lediglich eine Kleinigkeit, die allerdings nur in einem anderen Geschäft zu haben sei, fehle noch. Mein Einwand, dies doch zu einem anderen Zeitpunkt zu besorgen, war denn auch der Auslöser zu unserem Streit. Realistisch betrachtet hatte sie natürlich Recht. Es wäre unsinnig gewesen, sich wegen dieser Kleinigkeit noch einmal in das Einkaufsgetümmel zu stürzen, aber zu diesem Zeitpunkt
konnte und wollte ich das einfach nicht zugeben. Letztlich brachte ihr Argument, dass ich ja gern in der nächsten Woche das letzte Geschenk besorgen könne, da sie absolut keine Zeit habe, den Ausschlag, und ich trottete wortlos hinter ihr her. Unsere Stimmung befand sich daher auf dem Nullpunkt, als wir endlich das letzte Teil erstanden hatten und uns durch den Schneeregen auf den Weg nach Hause machten. Anfänglich hatte ich meinen Vorschlag, der Parkplatzschlacht durch die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel
aus den Wege zu gehen, toll gefunden, aber als wir nun mit vielen anderen Kaufwütigen im Schneeregen auf den Bus warteten, dämpfte dies unsere Stimmung noch mehr. Ihre Bemerkung: "Es war deine Idee, mit dem Bus zu fahren", hat sie sicherlich auch bald wieder bereut, aber zu diesem Zeitpunkt sorgte sie damit endgültig dafür, dass unsere Heimfahrt schweigend, in frostiger Atmosphäre stattfand.
Schwerbepackt bogen wir eine Weile später in unsere kleine Straße, die rechts und links von wenig repräsentativen, älteren Einfamilienhäusern gesäumt wird. Im schummerigen Licht der Gaslaternen erkannte ich an der Gartentür vor einem kleinen, etwas heruntergekommen wirkenden Haus einen alten Mann, der trotz des feuchten Schnees nur mit Hemd und Hose bekleidet war. Im Vorübergehen wünschte ich, so freundlich, wie es mein vorweihnachtliches Stimmungstief zuließ, einen schönen Abend. Er antwortete mit einer Frage,
die uns zum Anhalten zwang: "Sie waren wohl einkaufen, nicht wahr?" "Das stimmt", entgegnete ich, um irgendetwas zu antworten, "und das bei diesem Wetter". "Ja", sagte er nur mit leiser Stimme. Ich sah ihn mir genauer an. Er trug eine ungebügelte graue Hose, die zahlreiche Flecken aufwies, und dazu ein ehemals weißes Hemd, das auch den Eindruck erweckte, als könne es dringend wieder einmal gewaschen werden.
Ich wollte nach Hause, wünschte dem Alten ein schönes Weihnachtsfest und zog meine Frau am Ärmel, um sie zum Weitergehen zu bewegen. Sie rührte sich jedoch nicht und sagte besorgt zu dem Alten: "So ohne Mantel können sie hier doch nicht herumstehen. Es ist viel zu kalt, und sie werden nass." Er blickte auf und entgegnete nur: " Das macht nichts." Der Schneefall wurde nun intensiver, während wir unschlüssig an der Gartenpforte standen.
Der alte Mann schwieg zunächst, betrachtete aber meine Frau mit aufmerksamem Blick. Nach einer Weile sagte er zusammenhanglos: "Das habe ich früher auch getan." Wir sahen uns erstaunt und etwas hilflos an, bevor ich zurückfragte: "Was haben sie früher getan?" "Weihnachtseinkäufe machen. Jedes Jahr um diese Zeit bin ich mit meiner Frau losgegangen." Er lachte kurz freudlos auf, als er fortfuhr: "Ich wollte nie, sie musste mich immer überreden." Dann bekam sein altes, faltiges
Gesicht einen unendlich traurigen Ausdruck, und er setzte stockend hinzu: "Heute brauche ich nichts mehr." Als ich ihn nun fragend ansah, sagte er sehr leise: "Sie ist gestorben. Vor drei Monaten."
Ich weiß bis heute nicht, ob es Tränen waren oder geschmolzene Schneeflocken, die in den tiefen Falten seines Gesichts nach unten tropften. Eine Weile standen wir wortlos da, bis meine Frau mitfühlend fragte:"Und nun haben Sie niemanden mehr, der sich um Sie kümmert?" "Doch, doch, keine Sorge, das habe ich", antwortete er und versuchte dabei vergeblich ein Lächeln auf sein Gesicht zu bringen. Ich wusste sofort, dass er log. "Dennoch dürfen Sie hier nicht ohne Mantel in dieser feuchten
Kälte stehen. Sie müssen hineingehen, sonst werden Sie noch krank über Weihnachten." sagte meine Frau nun etwas energischer. "Ja, ja", entgegnete er, zuckte gleichgültig mit der Schulter und ich merkte dem Alten an, dass ihm dies völlig unwichtig war. Er sah sie lange mit ausdruckslosem Blick an, dann aber lächelte er, beugte sich zu ihr herüber und legte vorsichtig, ganz kurz nur, seine alte, schwielige Hand auf ihr Haar. Ohne mich überhaupt zu beachten sagte er leise, beinahe zärtlich: "Ich
wünsche Ihnen ein schönes Weihnachtsfest, junge Frau." Mir nickte der Alte nur kurz zu, bevor er sich umdrehte und langsam mit schweren Schritten auf seine Haustür zuging und dahinter verschwand.
"Frohe Weihnachten", sagte ich leise, als ich ihm hinterher blickte. Wir standen eine Weile betroffen und wortlos da Dann legte ich meine Hand vorsichtig auf ihr Haar, dorthin, wo noch vor wenigen Sekunden die Hand des Alten gelegen hatte. Sie sah mich lange an, streichelte sanft über meine Wange und wischte lächelnd mit dem Daumen die Feuchtigkeit aus meinen Augenwinkeln. "Der Schnee", murmelte ich verlegen.
Unser Streit war vergessen, und auf dem Nachhauseweg beschloss ich, auch in nächsten Jahren mit meiner Frau die Weihnachtseinkäufe gemeinsam zu machen.
In den folgenden Wochen habe ich jedes Mal vergeblich nach dem Alten geschaut, wenn ich an dem Haus vorbeikam. Gestern nun endlich entdeckte ich etwas auf dem Grundstück. Ein junges Ehepaar sprach mit einem Handwerker über den Umbau des Hauses.
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