Frohes Fest!
© Rüdiger Wolf
Es wurde immer schlimmer. Von Jahr zu Jahr nahm die Zahl der Briefe ab, die er zu Weihnachten erhielt. So war das mit alleinstehenden älteren Männern gemeinhin. In seinem Fall jedoch, war es ein echtes Problem. Ein existenzielles Problem. Er war der Weihnachtsmann. Wenn niemand ihm schrieb, wenn kein Kind ihm eine Wunschliste schrieb, was blieb ihm denn dann noch?
Sein ganzes Leben, seine gesamte Existenzberechtigung waren doch darauf ausgerichtet, Wunschzettel von Kindern zu erhalten und dann dafür zu sorgen, dass diese Wünsche in Erfüllung gingen. Was ihn an dieser Tätigkeit mit ganz besonderem Stolz erfüllte, war die Tatsache, dass er selbst immer im Hintergrund blieb. Die Kinder schrieben Briefe an den Weihnachtsmann. Die Eltern, bereits jeglichen Glaubens beraubt, lasen die Briefe und erfüllten die Wünsche, so gut sie eben konnten. Er musste nur existieren, die Kinder
nur an ihn glauben und Weihnachten war eine Zeit, in der Kinderwünsche in Erfüllung gingen.
Es hatte vor etwa dreißig Jahren angefangen bergab zu gehen. Er hatte es zuerst nicht wahr haben wollen, aber es war nicht zu leugnen. Die Zahl der Briefe nahm ab. Briefe, die Eltern zum Briefkasten oder zur Post brachten, nur um sie dann selber zu lesen. Aber natürlich waren alle Briefe doch immer bei ihm angekommen. Er war morgens zur Haustür gegangen und hatte die Briefe aus seinem Briefkasten geholt. Viel mehr als dort normalerweise hinein gepasst hätten. Doch was hatte das Wort normal denn schon für eine
Bedeutung für ihn. Er war der Weihnachtsmann!
Er las alle Briefe. Er las sie und denn entschied er ganz spontan, welche der genannten Wünsche erfüllt werden sollten. Und die Eltern der Kinder kamen dann ganz spontan zur selben Überzeugung. Aber jedes Jahr kamen weniger Briefe. Die Kinder glaubten nicht mehr an ihn. Oder eben immer weniger. Bis zum dramatischen Höhepunkt in diesem Jahr. Es war der 22. Dezember und er hatte noch nicht einen Brief erhalten. Es war der 23. Dezember und noch immer hatte kein Brief. Es war der 24. Dezember und kein Brief war angekommen.
Der Weihnachtsmann zog sich ganz warm an. Er verließ das Haus und ging durch den tiefen Schnee den kurzen Weg über den Hof zum Stall. Als er die Stalltür hinter sich schloss, empfing ihn die vertraute Wärme und der Geruch seiner geliebten Rentiere. Er atmete Tief ein, ging langsam an den Boxen vorbei, streichelte eine Nase hier und klopfte dort eine Schulter und aus jeder Box sahen ihn zwei erwartungsvolle braune Augen an.
Als er am anderen Ende des Stalls angekommen war, nahm er sich einen Hocker, setzte sich darauf und sagte: "Sie brauchen uns nicht mehr." Er kämmte den langen, weißen Bart mit den Fingern seiner linken Hand. "Kein Brief, nicht einer! Sie glauben nicht mehr an uns. Was machen wir denn jetzt?" Aber die Rentiere gaben keine Antwort.
Der Weihnachtsmann war betrunken. Seit zwei Wochen. Er wusste nicht, was er mit sich anfangen sollte. Sollte er jetzt etwa in alle Ewigkeit nichts tun? Eines Tages, er wusste natürlich nicht wann, hatten die Menschen angefangen, seine Geschichte zu erzählen, und die Kinder hatten angefangen an ihn zu glauben. Er war einfach dagewesen, mit seinem Haus und dem scheinbar bodenlosen Briefkasten. Mit den Rentieren und dem Schlitten. Mit seiner Fähigkeit, Wünsche zu erfüllen. Er hatte selbstverständlich schon seit
Jahrhunderten existiert, genau so wie die Menschen es sich erzählten und die Kinder es glaubten.
Und jetzt glaubten sie es nicht mehr. Und er war immer noch da. Warum? Er wusste es nicht. Niemand glaubte mehr an ihn. Aber er war noch da. Scheinbar war der feste Glaube einer gewissen Anzahl von Menschen ausreichend, um eine Idee wahr werden zu lassen. Und auch wenn niemand mehr an die Idee glaubte, sie war noch immer da. Ein sinnentleertes Gespenst vergangener Tage. Eine Erinnerung an Menschen, die eine ehemalige Überzeugung aufgegeben hatten. Der Weihnachtsmann stöhnte. Das waren ja alles interessante philosophische
Überlegungen. Aber sie halfen nicht wirklich weiter. Philosophen. Alte Griechen. Lange tot und vergessen. Nur noch Erinnerungen an eine vergangene Welt, so wie er selbst. Der Weihnachtsmann trank noch mehr. Er trank bis er aufhörte zu denken. Er trank bis er aufhörte sich an die Welt und die vielen Kinder zu erinnern, die er glücklich gemacht hatte. Was war aus diesen Kindern geworden? Wie hatten sie die Freude und das Glück vergessen können, das der Weihnachtsmann ihnen gebracht hatte. Warum hatten sie dieses
Glück nicht an ihre Kinder weitergegeben? Was stimmte nicht mit diesen Leuten? Der Weihnachtsmann trank noch mehr, bis er sich selbst vergaß.
Der Weihnachtsmann kam zu sich. Er war. Noch immer. Wochen waren vergangen, und er hörte nicht auf zu sein. Er wusste nicht was er mit sich tun sollte. Trinken half auch nicht mehr, also ließ er es sein. Da er jetzt wieder denken konnte, fing er wieder an zu grübeln, zu philosophieren. Was machte man denn, wenn niemand mehr an einen glaubte und man nicht mehr gebraucht wurde. Er wusste es nicht. Er war der Weihnachtsmann. Er hatte keine ehemaligen Kollegen, die er um Rat fragen konnte, und es gab keine Selbsthilfegruppen.
Es gab überhaupt niemanden. Er hatte keine Familie. Er hatte natürlich seine Rentiere, aber die antworteten ja einfach nicht. Ziellos lief der Weihnachtsmann umher. Er konnte es nicht fassen. Nichts geschah. Nichts. Er hatte keine Aufgabe mehr zu erfüllen, aber er hatte nicht aufgehört zu existieren. Was, was, was? Was tun?
Die Rentiere waren auch nicht glücklich. Er hatte sich in den letzten Wochen nicht ausreichend um sie gekümmert. Als er jetzt den Stall betrat, sahen sie ihn strafend aus zweifelnden Augen an. "Ihr nicht auch noch", sagte der Weihnachtsmann. "Ich fühle mich schon schlecht genug. Ihr müsst mich jetzt nicht auch noch bestrafen." Die Rentiere waren ungerührt von seinen Klagen. Sie hatten nicht ausreichend Bewegung gehabt in den letzten Wochen. Sie hatten sich nicht auslaufen können und sie waren
ebenso schlecht gelaunt wie der Weihnachtsmann. Was war der Sinn des Lebens, wenn man sich nicht frei bewegen konnte?
Der Weihnachtsmann sah sie an und sagte: "Ist ja gut. Ich hole den Schlitten und dann können wir uns ein wenig bewegen. Wird uns gut tun. Gibt ja sonst nichts." Der Weihnachtsmann verließ den Stall und ging über den verschneiten Hof, um den Schlitten zu holen. Er fluchte leise vor sich hin. Es war ja nun wirklich nicht mehr notwendig, auf sein benehmen zu achten. Was tat ein Weihnachtsmann, der Weihnachtsmann, wenn man nicht mehr an ihn glaubte. Wenn er nur jemanden wüsste, den er um Rat fragen könnte.
"Und dann fiel es mir ein." Der Weihnachtsmann war so außer sich, dass er mehr oder weniger schrie. Zum ersten Mal seit Monaten war er glücklich. Er hatte ein Ziel. Wenn auch kein bestimmtes.
"Könnt ihr euch erinnern, als ich sagte, ich sei ja ganz alleine und so etwas wie mich habe es noch nie gegeben? Ach ich habe euch das gar nicht erzählt? Tut mir leid, ich kann mich wirklich nicht erinnern, was genau in letzter Zeit so passiert ist. Oder was ich gesagt habe. Oder was ich einfach nur gedacht habe. Also, ich bin hier, richtig? Ich bin hier, weil die Menschen an mich geglaubt haben. Jetzt bin ich immer noch hier, obwohl sie nicht mehr an mich glauben. Also bin ich der erste, dem so was passiert
ist? Nein. Bin ich nicht, versteht ihr? Da sind noch mehr. All die alten Götter. Wisst ihr, die ganzen Alten an die keiner mehr glaubt. Die müssen doch auch noch da sein. Und wisst ihr was wir jetzt machen? Wir gehen sie jetzt besuchen. Wart ihr schon einmal in Griechenland im Sommer? Ich nicht. Mal sehen, wie es so ist. Mal sehen was Zeus und deine Kollegen so treiben." Und so weiter. Der Weihnachtsmann war sehr aufgeregt und er redete auf die Rentiere ein, und die Rentiere waren aufgeregt, weil sie endlich
ihren Auslauf bekämen.
Und so machten sie sich auf den Weg. Die Rentiere und der Weihnachtsmann außer Dienst, der immer der Weihnachtsmann bleiben würde, auch wenn sie ihn nicht mehr wollten, die Menschen. Er war immer noch er selbst. Und jetzt, da er ein neues Ziel hatte, ging es ihm wieder gut. Auch wenn er nicht wusste wo er seine Suche anfangen sollte. Er hatte ja Zeit.
Der Weihnachtsmann saß auf seinem Schlitten und fuhr davon. Er lachte. Sollten sie ihr Weihnachtsfest doch ohne ihn feiern. Sollten sie doch. Vielleicht würde es ihnen ja besser gefallen ohne ihn. Er hatte jedenfalls immer sein Bestes gegeben. Und wenn sie jetzt etwas anderes wollten, dann war es Zeit für ihn sich um sich selbst zu kümmern. "Frohes Fest!", rief der Weihnachtsmann und fuhr davon.
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