Weihnachtswunder
© Katharina Britzen
In Reichweite seines Bettes hing der Abreißkalender. Jeden Morgen gleich nach dem Wachwerden entfernte der neunjährige Gregor ein Kalenderblatt. Auch an diesem zwanzigsten Dezember und flüsterte, während er in seine Jeans schlüpfte: "Noch vier Tage, Papa. Dann ist es wieder so weit."
Susanne, seine Mutter, die als Krankenschwester arbeitete, hatte dienstfrei und bereits liebevoll den Tisch für ein ausgiebiges Frühstück zu zweit gedeckt. Seit ihr Mann tödlich verunglückt war und Susanne aus finanziellen Gründen gezwungen war, ganztags zu arbeiten, frühstückte Gregor oft alleine. Meist nur Cornflakes mit Milch. Aber heute gab es wieder mal gekochte Eier, Marmelade, Käse und knusprige Brötchen. Dazu frischgepressten Orangensaft. Am Adventskranz brannten vier Kerzen, und draußen wollte es nicht
richtig hell werden. Ein Tiefdruckgebiet hatte das Land fest in der Hand und verhinderte, dass wärmende Sonnenstrahlen zu Mensch und Natur vordrangen.
"Guten morgen, mein Schatz. Ausgeschlafen?" umarmte Susanne ihren Sohn erst zärtlich, ehe sie sein Brötchen mit Butter bestrich. Gregor strahlte über beide Backen und biss genussvoll ins Brötchen, während Susanne fragte: "Was hältst du von Plätzchen backen und danach ins Schwimmbad?" Gregor war sofort Feuer und Flamme. Tolles Sonntagsprogramm. Wenig später - eine Schürze seiner Mutter um den Bauch gebunden - knetete und rührte er auf Teufel komm raus, ein rohes Ei landete anstatt in der
Schüssel auf dem Fußboden, von wo Susanne es zwar mühsam, aber gutgelaunt mit Küchenkrepp entfernen musste. Bis in die Haarspitzen weiß gepudert, verwandelte Gregor eifrig den Teig zu Herzen, Monden, Tannenbäumen. Beim Verzieren erwies er sich als kreativ und verabreichte mit Liebesperlen, Nüssen und buntem Zuckerguss dem Gebäck eine sehr individuelle Note. Susanne ließ ihn nach Lust und Laune gewähren. Ab und an kostete Gregor eines der selbstgestalteten Leckereien, wobei er mit verzückter Miene schwärmte: "Probier
auch, Mama, viel besser als die gekauften", und steckte Susanne eins in den Mund. Wie froh sie war, dass sie heute Zeit wieder mal Zeit für ihren Sohn hatte. Wenn doch Benedikt nicht ... Energisch verbot sie sich die traurigen Gedanken und zwang sich stattdessen zu einem Lächeln, dass ihr selber ziemlich verkrampft vorkam. Warum musste ihre Kollegin Kathrin diesen Bandscheibenvorfall so kurz vor Weihnachten erleiden? Sämtliche Dienstpläne mussten daraufhin geändert werden und Susanne die Nachtschicht an
Heilig Abend übernehmen.
"Es tut mir so leid, Gregor, dass ich gerade an Heilig Abend arbeiten muss. Willst du nicht doch lieber zu Oma und Opa fahren. Dort wärst du nicht so allein ..." Gregor tupfte noch grünen Zuckerguss auf den letzten Tannenbaum, derweil Susanne schon dem schmutzigen Geschirr zuleibe rückte: "Iwo, Mama. Mir ist schon nicht langweilig. Ich will lieber zu Hause bleiben. Wirklich, Mama." Als Gregor bemerkte, dass seine Mutter nicht so richtig von seinen Worten überzeugt war, schob er ein "Ganz
bestimmt, Mama" hinterher. An ihren Händen Latexhandschuhe tauchte sie mit gerunzelter Stirn schmutzige Rührlöffel und Schüsseln ins Spülwasser und stimmte nur zögernd seinem Wunsch zu. "Na gut. Bis um halb neun bin ich ja noch da."
Am zweiten Weihnachtstag würden sie sowieso zu Susannes Eltern fahren und dort mit der restlichen Familie feiern.
"Was bekommst du zu Weihnachten?", hatten ihn seine Klassenkameraden am letzten Schultag vor den Winterferien gefragt. Gregor hatte ohne Argwohn erwidert: "Von meiner Mama ein Zauberbuch, neue Schuhe und einen Abreißkalender." Jörn hatte daraufhin abfällig gelästert:
"Wie uncool, nur so ein blödes Buch, Schuhe und nen Abreißkalender. Doof. Da kann man sich ja gar nicht auf Weihnachten freuen."
"Ich bekomme ein Handy und einen MP3 Player", prahlte Jörn, dessen Eltern eine gut gehende Metzgerei in der Stadt besaßen. "Und ich eine neue Skiausrüstung", protzte Paul, der Sohn vom Lehrer. Ganz in Gedanken versunken stiefelte Gregor hinter ihnen drein. Seine Mutter verdiente nicht soviel und zudem musste sie noch Schulden, die sein Vater gemacht hatte, abbezahlen. Allzu gerne hätte er ihnen verraten, dass er dennoch das schönste und wertvollste Geschenk bekam. Viel, viel tollere Sachen
als so ein blödes Handy. Oder ein MP3 Player. Oder... Mit einem Tschüs rannte er so schnell er konnte nach Hause und verkroch sich unter seiner Bettdecke, wo er mit dem Bild seines Vaters ein Zwiegespräch hielt, das eindringlich endete. "Du hast es versprochen, Papa."
Manchmal war es ihm in der Vergangenheit wie ein Traum vorgekommen, und hie und da zweifelte Gregor daran, ob es tatsächlich passiert war.
Dann war es soweit. Der mager gewordene Kalender zeigte endlich den vierundzwanzigsten Dezember an. Schon in aller Herrgottsfrühe kasperte Gregor wie aufgedreht durch die Wohnung. "Freust du dich etwa so auf die Geschenke?" wollte Susanne misstrauisch wissen. "Oder warum bist du so aufgeregt? Du weißt, dass derzeit keine großen Geschenke drin sind, Schatz?" Gregor hatte für sein Alter viel zu verständnisvoll geantwortet. "Macht nichts, Mama. Ich freue mich auf den Weihnachtsbaum. Darf
ich ihn wieder schmücken?", was Susanne liebend gern gestattete und die Kiste mit der Weihnachtsdeko vom Schlafzimmerschrank herunterhievte. "Sei nur vorsichtig. Du weißt, wie schnell diese mundgeblasenen Kunstwerke in die Brüche gehen", ermahnte sie Gregor, der vorsichtig Kugel um Kugel wie rohe Eier an den Tannenbaum hängte und sogar auf den Stuhl stieg, um welche in den grünen Tannenzweige der Baumkrone zu befestigen. Dabei glitt ihm eine Kugel aus der Hand und wäre um ein Haar zu Boden gefallen,
doch zum Glück landete sie unversehrt auf einem unteren Tannenast. Welche würde es sein? Zur Bescherung nach Einbruch der Dämmerung hatten sie sich umgezogen; Susanne ihr langes Samtkleid und Gregor das ungewohnte Hemd mit passender Krawatte und feierlich die Kerzen am Baum entzündet. Genauso wie früher, als sein Vater noch lebte und stets zur Einstimmung auf das Fest die Weihnachtsgeschichte vorgelesen hatte, den Part, den Susanne jetzt notgedrungen übernommen hatte. Stockend las sie, um nach wenigen Sätzen
das aufgeschlagene Buch auf ihre Knie zulegen, laut schniefte und sich bemühte, nicht loszuheulen. Gregor spürte den Kummer seiner Mutter, sprang auf, zog sein Päckchen unterm Baum hervor. Tröstend schlang er seine Arme ganz fest um Susanne: "Frohe Weihnachten, Mama. Wein nicht. Papa ist bei uns. Ganz bestimmt", und schaute vertrauensvoll zum Weihnachtsbaum hin. Susanne schnäuzte sich, Tränen hingen in ihren Wimpern, als sie zu Gregor sagte: "Frohe Weihnachten, Großer. Wenn ich dich nicht hätte..."
und drückte ihrem Sohn die Weihnachtsgeschenke in den Arm, die er gleich öffnete. Wie erwartet das Zauberbuch, ein paar neue Sportschuhe und sogar noch eine CD seiner Lieblingsgruppe. Aber das fast Allerwichtigste. Ein neuer Abreißkalender.
Seiner Mutter, die Halbedelstein über alles liebte, hatte er von seinem mageren Taschengeld einen Rosenquarz gekauft, worüber diese sich aufrichtig freute. Zur Feier des Tages aßen sie selbstgemachte Pizza und spielten anschließend Monopoly, wobei Gregor in der Regel gewann, aber heute so unkonzentriert erschien, dass sich Susanne darüber wunderte. Als sie schließlich zur Arbeit musste, verabschiedete sie sich mit einem tiefen Seufzer: "Gregor, kann ich wirklich...?" "Mach dir keine Sorgen, Mami.
Es macht mir nichts aus, alleine zu bleiben. Ich übe schon mal ein paar Zaubertricks und führe sie dir morgen früh vor."
Susanne war längst im Krankenhaus, als Gregor aufgeregt um den Baum schlich, seine Augen auf eine der Kugeln richtete, leise "Papa" rief und sachte mit dem Zeigefinger über die Kugel strich. Mehr als fünfzehn Mal hatte er es bereits getan, ohne dass etwas passierte. Gregors "Papa" klang von mal zu mal leiser und hoffnungsloser. Wo blieb er bloß? Noch genau zwei Glaskugeln waren übrig. Sein kleines Herz flatterte, als er auf den Stuhl stieg, um sich in die Kugel nahe der Baumspitze zu vertiefen
und mit einer piepsigen Stimme "Papa" rief, als sich wie von Zauberhand die Kugel öffnete und sein Vater daraus hervortrat, größer und größer wurde, bis er so groß wie früher war, seine Arme ganz weit ausbreitete und Gregor vom Stuhl aus direkt hineinflog. Überglücklich schmiegte er sich an seinen Vater, der ihm liebevoll über das krause Haar strich. "Mein Kleiner, wie groß du geworden bist! Wohin diesmal?" "Zu den Eisbären und Pinguinen nach Grönland, Papa." Geborgen im Arm seines
Vaters schwebten sie durch den sternenübersäten Nachthimmel ins Eisland, wo Gregor lebendige Eisbären, Robben und Pinguinkolonien beobachten konnte. Im Morgengrauen waren sie von ihrer weiten Reise zurück.
"Warum darf niemand davon wissen, dass du mich an Heiligabend besuchst, Papa?", wollte Gregor völlig übermüdet, aber glücklich wissen. "Weil nur Kinder an Wunder glauben, Gregor, erleben auch nur Kinder Wunder. Erwachsenen fehlt der Glaube an Wunder, deswegen passieren ihnen keine." Gregor war längst in seinen Armen eingeschlafen war, als er ihn ins Bett trug, behutsam zudeckte und sich leise verabschiedete: "Bis zum nächsten Jahr, mein Sohn."
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