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Übermut kommt vor dem Fall

© Rudolf Jagusch


"Was sind das denn für Typen, die einfach nachts daher schleichen und die Tannebäume klauen!"
Der Mann, der vor Hauptkommissar Bohleber stand, fuchtelte wild mit der Hand in der Luft herum. Seine Gesichtfarbe ging ins Violette und glich einer reifen Aubergine.
Bohleber seufzte innerlich. Er hatte zwar Verständnis für den erregten Zustand von Herrn Krupke, doch in Bohlebers Augen übertrieb der Mann maßlos. Es ging doch nur um eine Tanne. Normalerweise wäre dies ein Fall für seine Kollegen von der Schutzpolizei gewesen, doch da ungewöhnlicherweise im Moment überhaupt nichts anderes anlag, hatte ihn sein Chef für diese Sache abgestellt.
"Es grassiert zur Zeit", versuchte Bohleber den Mann zu beruhigen, "Sie sind bereits der fünfzehnte Fall, alle in der letzten Woche."
"Ja darf denn das wahr sein?", brauste Krupke auf wie ein überkochender Milchtopf, "Was macht denn die Polizei den ganzen Tag? Schon eine Woche und der Typ läuft immer noch herum? Früher, ja da …"
Bohleber unterbrach ihn.
"Haben Sie denn irgendetwas bemerkt, ich meine Sägegeräusche oder irgendetwas anderes?"
Krupke schüttelte heftig den Kopf.
"Nein, nichts!"
Bohleber beugte sich leicht zur Seite, spähte um Krupke herum und blickte die verschüchterte Frau an, die sich hinter dessen Rücken versteckte.
"Und Sie, Frau Krupke?"
Die schmächtige Frau knetete ihre Kittelschürze und antwortete: "Wissen Sie, Herr Kommissar, mein Mann schnarcht so laut, da bekommt man nichts anderes mit. Sägegeräusche könnte ich gar nicht von seinem Krach unterscheiden."
"Was faselst du für einen Kram zusammen?", fuhr ihr Mann sie an.
Die Frau zuckte zusammen und schaute stumm zu Boden.
"Hatte ihr Baum irgendwelche Besonderheiten?"
"Was denn für Besonderheiten? War halt ein Baum, etwa zwei Meter groß. Die Lichterkette hat der Typ auch mitgenommen!"
Krupke redete sich wieder in Rage.
"War eine echt teure Kette, muss ja für draußen geeignet sein. Und jetzt ist sie weg, so was habe ich noch nicht erlebt!"
Bohleber steckte sein Notizbuch ein. Er hatte genug von diesem Mann. Er verabschiedete sich knapp, nickte Frau Krupke nochmals mit einem freundlichen Lächeln zu und stieg dann in seinen Dienstwagen.
Als er im Präsidium ankam, erwartete ihn die Nachricht, dass er bei seinem Chef vorbei kommen sollte. Bohleber sah auf die Uhr. Er hatte seiner Frau versprochen, früh nach Hause zu kommen, um noch zum Weihnachtsmarkt nach Bonn zu fahren. Das würde jetzt knapp werden. Er fluchte leise, als er den Flur hinunter ging. Er klopfte an die offen stehende Türe seines Chefs, der vorne über gebeugt an seinem Schreibtisch saß und mit großen Bögen einen Vermerk in einer Akte anbrachte.
"Ah, komm rein", er legte seinen Stift zur Seite und lehnte sich in seinen Sessel zurück.
Bohleber nahm ihm gegenüber Platz.
"Ich möchte mal hören, wie der Stand der Dinge in deinem Fall ist. Ich bekomme alle Nas' lang Anrufe von aufgebrachten Bürgern. Ist echt nervend."
"Viel kann ich dir nicht berichten. Die Fakten kennst du ja. Nirgendwo gab es eine verwertbare Spur, keiner hat etwas gesehen."
"Du tappst also im Dunkeln?"
Bohleber zuckte als Antwort mit den Schultern. Sein Chef hob die Hände über den Kopf und faltete sie am Hinterkopf.
"Hast du mal eine Anfrage gestartet? Gibt oder gab es irgendwo anders schon einmal eine solche Häufung an geklauten Bäumen?"
"Konnte nichts finden."
"Mögliches Motiv?"
"Nachbarschaftsstreitigkeiten, Mutprobe unter Halbstarken, ein Spaßvogel", gab Bohleber seine Überlegungen preis.
Sein Chef nickte. "Ja, alles möglich. Was willst du unternehmen?"
"Heute nichts mehr. Morgen werde ich nochmals in der Gegend rum fahren und Nachbarn befragen, die ich bisher nicht angetroffen habe. Vielleicht hat ja einer von denen etwas bemerkt."
"Mach das, und wenn das auch nicht fruchtet, dann warten wir halt ab. In zwei Tagen ist Heiligabend, dann wird der Spaß ja wohl sein Ende finden."
Trotz der vorgerückten Stunde war der Bonner Weihnachtsmarkt gut besucht. Die Holzbuden drängten sich eng zusammen und es roch nach Glühwein, Zimt und gerillten Würstchen. Nachdem sich Bohleber und seine Frau jeder eine Krakauer gegönnt hatten, kauften sie wie jedes Jahr ein weihnachtliches Windlicht, diesmal einen feisten Weihnachtsmann mit dicken roten Wangen und einer langen Liste in der Hand. Wenn man genau hinschaute konnte man sogar Namen der Kinder auf der Liste entziffern.
Nachdem das Windlicht gut verpackt den Besitzer gewechselt hatte, hakte Bohlebers Frau sich zufrieden bei ihm unter und lehnte den Kopf an seine Schulter. So schlenderten sie zufrieden an den Buden vorbei. Weihnachtsmusik quakte aus mittelmäßigen Lautsprechern, trotzdem schaltete Bohleber ab und gab sich ganz dem Augenblick hin. Er verdrängte seinen Fall in die hinterste Stube seines Gedächtnisses und konzentrierte sich auf die angenehme Wärme, die seine Frau an seiner Seite ausstrahlte.
Plötzlich blieb er wie vom Schlag getroffen stehen.
"Was hast du?", fragte seine Frau erstaunt, folgte dann seinem Blick. "Da ist doch nichts Ungewöhnliches. Willst du dort etwa kaufen? Doch nicht heute, die Schlepperei! Komm, gehen wir weiter."
Sie zog an seinem Ärmel und Bohleber folgte widerwillig.
"Was ist denn?", nörgelte seine Frau nun etwas ungehalten, "Ich möchte noch bei der Bude mit der erzgebirgischen Handwerkskunst vorbei!"
Sie wies in die Richtung, in die Bohleber immer noch schaute.
"Das findest du doch überall, was ist denn daran Besonderes?"
Bohleber fand seine Worte wieder.
"Nichts, Schatz", sagte er heiter, "Du hast Recht. Lass uns weiter gehen."
Bohleber folgte ihr nun bereitwillig, federte fröhlich über das Kopfstein.
Er war nun überzeugt davon, seinen Fall morgen zum Abschluss zu bringen.
Am nächsten Vormittag ermittelte er an drei neuen Tatorten, alle in der gleichen Ortschaft, nicht weit von einander entfernt.
Diesmal hatte eines der Opfer einen weißen Lieferwagen bemerkt, der einige Male nach 21 Uhr langsam durch die Straße gerollt war und etwas zu suchen schien.
Der Täter wurde übermütig und unvorsichtiger. Bohleber grinste, als er in seinen Privatwagen stieg, den er heute dem Dienstwagen wegen dessen Unauffälligkeit vorgezogen hatte, und den letzten Tatort verließ.
Die nächsten Stunden fuhr er von Dorf zu Dorf, gab sich als Familienvater im Weihnachtsstress aus und ließ sich einen Weihnachtsbaum nach dem anderen vorführen. Er wunderte sich darüber, wie viele Verkaufsstellen es in einer solch kleinen Stadt gab. Als er nach drei Stunden am Straßenrand parkte, ausstieg und die Türe hinter sich schloss, bemerkte er sofort den weißen Ford Transit, der auf der anderen Straßenseite parkte.
"Bingo!", murmelte er.
Der Verkäufer, ein stämmiger gut gelaunter, dunkelhaariger Mann, bediente gerade eine vierköpfige Familie. Obwohl er unzählige Bäume auspacken und vorführen musste, verlor er nicht seine heitere Stimmung. Bohleber wartete ab und schaute sich um. Die Bäume lehnten an einem gut zwei Meter hohen Metallzaun, der das Gelände quadratisch einschloss. Es roch nach Tannengrün und Holz. Bohleber inspizierte gerade einen Baum, dessen Holz dort wo er abgesägt worden war, hell schimmerte, als er angesprochen wurde: "Wie kann ich Ihnen helfen, guter Mann?"
Bohleber erhob sich und drehte sich um. Der Verkäufer strahlte ihn wie eine aufgehende Sonne an. Sein wattiertes Holzfällerhemd wies grüne Flecken auf und in der Brusttasche steckte ein Beutel Tabak.
"Ich bin auf der Suche nach einem Baum."
"Das sind alle meine Kunden", amüsierte sich der Verkäufer, kam dann etwas näher zu Bohleber heran und flüsterte: "Ich verrat Ihnen ein Geheimnis. Ich verkaufe welche."
Der Mann lachte herzhaft und auf einer Art, dass man seinen Humor nicht krumm nehmen konnte.
"Ja, ja, schon klar", Bohleber lächelte und ließ sich auf den lockeren Ton des Mannes ein, "Ich meine aber so einen richtig frisch geschlagenen. Wissen Sie, letztes Jahr zu Weihnachten glich unser Baum schon einer Stripteasetänzerin, vollkommen nackt! Das möchte ich dieses Jahr unbedingt vermeiden."
Der Mann lachte wieder. "Da sind sie bei mir genau richtig. Letzte Woche noch im Sauerland, heute schon aus meiner Hand, sag ich immer."
Bohleber verzog unwillig das Gesicht.
"Gestern noch verwurzelt, heute schon in mein Auto gepurzelt, würde mir besser gefallen."
"Ha, ha, der ist gut", lachte der Verkäufer, räusperte sich dann und fragte: "Und Sie wären bereit, dafür ein wenig tiefer in die Tasche zu greifen?"
"Selbstverständlich", äußerte sich Bohleber, "Gute Ware gegen gutes Geld!"
Der Verkäufer sah sich um, sagte dann: "Kommen Sie mal mit darüber."
Bohleber folgte ihm um die Weihnachtsbaumeinpackröhre herum in eine Ecke des Geländes. Dort zog der Mann eine zwei Meter große, schön gewachsene Tanne aus einem Stapel anderer hervor und präsentierte ihn Bohleber.
"Mein bestes Stück! Schauen Sie sich dieses Prachtexemplar an. Habe ich selbst ausgesucht!"
Er wies auf die Schnittfläche. "Holz noch ganz hell, harzt sogar noch. Einen frischeren können Sie nicht mehr bekommen, es sei denn, Sie fahren los und schlagen sich irgendwo einen."
"Ne, mag ich nicht, da durch den Matsch zu stampfen. Was soll der denn hier kosten?"
"Weil Sie es sind, sagen wir mal", der Verkäufer schürzte die Lippen und tat, als ob er angestrengt überlegen müsste, dann hatte er sich festgelegt, "Achtzig Euronen, dann gehört er Ihnen. Und wissen Sie was?"
Bohleber musste sich ein Feixen verkneifen und schüttelte den Kopf. Der Verkäufer strahlte nun wieder angesichts des erwartenden hohen Verkaufserlöses über das ganze Gesicht und trompetete: "Ich gebe Ihnen noch kostenlos eine Lichterkette dazu. Die können Sie sogar außen anbringen, wenn sie wollen."
Bohleber hatte genug gehört.
Er zog seine Dienstmarke aus der Innentasche seiner Jacke und sagte: "Ein interessantes Angebot. Darüber sollten wir uns mal näher unterhalten."



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