Die glückliche Trauerweide
© Yvonne Weber
Wie jeden Morgen stand Karla um 7.00 Uhr auf. Sie hatte zwar frei, doch es war ihre gewohnte Zeit um aufzustehen. Außerdem war heute der Tag vor Heiligabend und sie wollte noch einige Vorbereitungen treffen. Die Umgebung wirkte auf sie immer noch etwas befremdlich. Erst vor einiger Zeit war sie in dieses Haus, welches ihrer Tante gehört hatte, eingezogen und konnte sich noch nicht richtig daran gewöhnen, dass dies jetzt ihr neues Zuhause war. Ihre Tante Karla, die Schwester ihrer Mutter, hatte Karla in den ganzen
29 Jahren, die sie alt war, nie kennengelernt. Sie war schon nach Italien gezogen, bevor Karla geboren wurde. Karlas Mutter und Tante Karla pflegten keinen Kontakt. Warum, das wusste Karla auch nicht. Aus irgendeinem Grund war das Verhältnis zwischen beiden zerrüttet. Sie mussten sich jedoch früher einmal gut verstanden haben. Warum wäre sie wohl sonst dem Namen nach ihrer Tante benannt worden? Karlas Mutter aber hatte nie ein Wort über die einzig lebende Verwandte verlauten lassen. Dann kam eines Tages dieser
alles verändernde Brief, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass sie mit Leistung ihrer Unterschrift das Haus von Tante Karla und ein beträchtliches Vermögen übereignet bekam. Sie empfand unendliche Freude und Dankbarkeit. Gleichzeitig beschlich sie aber auch ein schwer zu beschreibendes Gefühl in Anbetracht dieser Umstände. War dieser unverhoffte Reichtum einfach nur ein glücklicher Zufall, eine Laune des Schicksals?
Mit gemischten Gefühlen dachte Karla über ihr Leben nach. In den letzten Monaten fühlte sie sich oftmals ziemlich einsam. Ihre Eltern starben im vergangenen Jahr bei einem Zugunglück, und obwohl sie ihre Tante gar nicht gekannt hatte, war sie traurig darüber, nun gar keine nahen Verwandten mehr zu haben. Und da Karla auch keinen Partner hatte, entschied sie sich kurzerhand, Berlin zu verlassen und in dem Haus ihrer Tante zu leben. Der Wechsel zur Airline nach Italien ging zum Glück ohne Mühe vonstatten. Sie arbeitete
am Flughafen und trug die Verantwortung für die ordnungsgemäße Flugeinteilung der Piloten. Die italienische Sprache beherrschte sie fließend, und ihre Kollegen nahmen sie in das neue Team auf, als gehöre sie schon immer dazu.
Ganz besonders gut gefiel ihr Patrick, ein Pilot. Ihr Herz schlug höher, wenn sie an ihn dachte. Ob er wohl auch etwas für sie empfand?
Karla mochte dieses Haus in der Toskana. Es lag außerhalb der Stadt, umrahmt von einer ländlichen Idylle. Der Garten wirkte zwar ziemlich verwildert, aber Karla fand, dass genau darin der Reiz lag. Es ging etwas Geheimnisvolles von ihm aus, als wäre er einem Märchen entsprungen. Und jetzt, da es geschneit hatte, wirkte er wie verzaubert, fast so, als befände man sich direkt im Himmel. Wie herrlich würde es hier erst im Frühjahr sein, wenn alles blühte!
Ganz besonders faszinierte Karla die große Trauerweide, die unter der schweren Last des Schnees fast einzustürzen drohte. Sollte sie es wagen hindurchzugehen?
Karla nahm sich vor, sie bei nächster Gelegenheit etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, aber da ihr kalt war, ging sie erst einmal wieder ins Haus zurück.
Die Einrichtung des Hauses entsprach nicht ganz ihrem Geschmack. Deshalb hatte sie einige ihrer Möbel aus Berlin gegen die ihrer Tante ausgetauscht. Nur eine alte Kommode beließ sie auf ihrem Platz, die mit ihren vielen kleinen abschließbaren Schubläden ganz entzückend aussah. Einen Schlüssel dazu gab es nicht, wahrscheinlich war er irgendwann einmal verloren gegangen. In einer der Schubladen lagen wunderschöne alte Märchenbücher. Klara konnte einen Freudenschrei nicht unterdrücken. Ihre eigenen Märchenbücher
hatte Klara wie einen Schatz aufbewahrt - die Weihnachtsmärchen mochte sie besonders gern - und in der Adventszeit las sie auch heute noch darin. Es schien, als hätte sie die Vorliebe für Märchen von ihrer Tante geerbt.
Eine Schublade der Kommode klemmte oder war verschlossen, doch da alle anderen Schubläden unverschlossen und leer waren, entschied Karla sich dafür, das antike Möbelstück trotzdem zu nutzen.
Irgendwie jedoch war alles merkwürdig. Als der Brief kam, trug er ein Datum, das schon einige Monate zurücklag. Und als sie in Erfahrung bringen wollte, wo sich das Grab ihrer Tante befand, wusste niemand Bescheid darüber. Wer regelte die Formalitäten des Begräbnisses und wo lag die Ruhestätte ihrer Tante? Sie wollte sich doch wenigstens um das Grab kümmern und Blumen niederlegen! Karla verstand das alles nicht. Sie ging wieder in den Garten hinaus und genoss die friedliche Stille, die hier herrschte. Sie schlenderte
den schmalen, verschneiten Weg entlang und blieb wie magisch angezogen vor der Trauerweide stehen. "Na, Trauerweide, bist du auch so unglücklich wie ich?", fragte sie. Neugierig suchte Karla nach einem Eingang, bis sie schließlich ein Loch fand, das nicht ganz so dicht bewachsen und mit Schnee bedeckt war. Mit Mühe zwängte sie sich hindurch und blickte überrascht auf einen alten Brunnen. Interessiert beugte sie sich über dessen Rand. "Hallo? Ist da jemand?", fragte sie in die tiefe Leere nach
unten und musste gleichzeitig über sich lachen. Erwartete sie vielleicht eine Antwort zu bekommen? Um nicht hineinzufallen, hielt sie sich an der Mauerung fest und erschrak, als sich plötzlich ein Stein, an den sie sich angelehnt hatte, aus der Einfassung löste und zu Boden fiel. Erstaunt blickte Karla auf die in mehrere Teile zerbröckelten Steinreste. Etwas Blinkendes befand sich darin. Karla hob es auf und hielt eine goldene Kette in den Fingern. Eine goldene Kette mit einem Anhänger in Form eines kleinen Schlüssels.
Der Schlüssel passte! Aufgeregt drehte Karla ihn im Schloss herum und zog die Schublade der Kommode auf. Sie entdeckte mehrere Papiere und verschiedene Fotos.
Auf einem schwarzweißen Foto blickte ihr eine junge Frau lächelnd entgegen. Diese Frau sah aus wie sie selbst! Auf der Rückseite des Fotos konnte sie schwach einen Schriftzug erkennen: Karla, 1922. Das konnte doch nicht ihre Tante sein! Sie wäre heute über achtzig Jahre alt! Wer war diese Frau? Zitternd vor Aufregung öffnete Karla einen Brief nach dem anderen.
Den ganzen Tag und die halbe Nacht hindurch las Karla. Sie versank regelrecht in den Schriftstücken und fand es unglaublich, welche Entdeckung sie gemacht hatte. Diese Frau war gar nicht ihre Tante Klara. In Wirklichkeit war sie ihre Großmutter! Aber ihre Mutter hatte ihr doch gesagt, dass sie schon lange vor Karlas Geburt verstorben war!? Karla lief ein Schauer über den Rücken. Sie fand Liebesbriefe ihrer Großmutter und ihres Großvaters, die mittlerweile schon mehr als fünfzig Jahre alt waren. Ein Schriftstück
erweckte ihr besonderes Interesse. Es war an ihre Großmutter gerichtet und trug den Absender eines Pflegeheimes in Lucca. In dem Schreiben bestätigte eine Pflegeleitung ihr die baldige Aufnahme. Der Zeitpunkt war der gleiche wie der des Briefes, den sie erhalten hatte! Was hatte das zu bedeuten? Lebte ihre Großmutter vielleicht noch, und sie war aus einem anderen Grund zu diesem Vermögen gekommen? Karla schüttelte ungläubig den Kopf. Aus einem anderen Brief ging hervor, dass ihr Großvater tatsächlich tot war.
Aber warum hatte ihre Mutter ihr in all den Jahren verschwiegen, dass Großmutter noch lebte? Karla fand das unvorstellbar. Wie konnte man mit der eigenen Mutter jahrelang kein Wort sprechen? Es gab doch nichts Wichtigeres als die Familie! Sollte man für dieses Glück nicht alles versuchen und es festhalten? Fest entschlossen über ihr Vorhaben löschte sie das Licht und versank in einen unruhigen Schlaf.
Karla schloss das Buch und blickte ihre Großmutter zärtlich an. Der alten Dame fielen vor Müdigkeit schon die Augen zu und Karla fand, dass es Zeit war, das Licht zu löschen. Um den Mund ihrer Großmutter lag ein sanftes Lächeln. Sie liebte es Märchen zu hören, und heute Abend hatte Klara ihr "Die Weihnachtsgeschichte" vorgelesen. Großmutters Körper versagte ihr zwar den Dienst, aber ihr Geist war hellwach und sie verstand jedes Wort, so dass sie es sofort merken würde, hätte Karla auch nur die geringste
Kleinigkeit ausgelassen. Es war drei Jahre her, seit sie ihre Großmutter gefunden und aus dem Pflegeheim geholt hatte, und seitdem kümmerte sich Karla um sie. Notwendigerweise musste sie ihren Beruf dafür aufgeben. Doch Karla hatte es gern getan, und finanzielle Probleme gab es auch keine. Ihr Mann Patrick verdiente gut, und selbst wenn Großmutter mittellos wäre, hätten sie genug zum Leben.
Seit dem Schlaganfall konnte ihre Großmutter nicht mehr sprechen und war bettlägerig, aber Karla wusste, was sie wollte, wenn sie kläglich versuchte einen Laut hervorzubringen und nur ein krächzender Ton zu hören war. Sie tippte dabei jedes Mal mit dem Finger auf ein Buch und blickte Karla sehnsüchtig an. Karla erfüllte ihr gern diesen Wunsch, unerheblich, wie lange es noch dauern sollte. Sie fühlte sich hier, umgeben von ihren Lieben, geborgen und geliebt und spürte nun von ganzem Herzen, in einem neuen Zuhause
angekommen zu sein.
Karla wischte ihrer Großmutter mit einem Taschentuch den Speichel vom Mund und streichelte ihr über den Kopf. Dankbarkeit und Liebe zeigten sich in Großmutters Zügen. Eine Woge des Glücks überkam Karla, als sie das Gesicht der alten Dame betrachtete. Sie war für jeden Tag froh, den sie mit ihrer Großmutter noch verbringen durfte und würde für sie sorgen bis zu ihrem letzten Atemzug. Karla fand zwar nie heraus, aus welchem Grund sich ihre Mutter und ihre Großmutter zerstritten hatten, und Großmutter konnte ihr
diese Frage nicht mehr beantworten. Doch es spielte für Karla auch keine Rolle mehr. Auf eine andere Frage jedoch erhielt sie eine Antwort. Heute gab er wieder Wasser, aber damals hatte sie in den ausgetrockneten Brunnen gerufen: "Ist da jemand?" und darüber gelacht. Doch er hatte ihr tatsächlich geantwortet. Es war jemand da: Ihre Großmutter Karla. Das schönste Weihnachtsgeschenk, das sie jemals bekommen hatte! Karla sah zur Trauerweide, die wie jedes Jahr schneebedeckt und stolz im Garten stand, und
fand, dass sie eigentlich gar nicht traurig aussah.
Dann glättete sie noch einmal die Bettdecke und vergewisserte sich, dass Großmutter nicht fror. "Gute Nacht, Großmutter, schlafe gut. Morgen ist Heiligabend, und ich wecke dich, wie du es wünschst, morgen früh um 7.00 Uhr", sagte Karla. Und als sie ihr liebevoll einen Kuss auf die Stirn gab, schien es, als lächelte die Großmutter mit der Trauerweide um die Wette.
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