Michas Weihnachtsgeschenk
© Rita Kullmann
Er spürte, wie etwas Winziges in seinem Bauch herum kroch und ihn kitzelte. Er liebte dieses Gefühl, denn es erinnerte ihn an die lustigen Zeiten mit seinem Vater. Aber dieses Kitzeln war anders. Es wurde plötzlich schmerzhaft, sein Bauch immer größer. "Aufhören!" schrie er, "Hilfe! Hilfe!" Während diese Rufe Frau Wenger aus ihrem Liebesfilm rissen, setzte sich der elfjährige Micha im Bett ruckartig auf. Eben noch hatte er gesehen, wie Würmer sich in seinem Magen tummelten, vor sich
hin fraßen und sich schließlich als dicke Monster in seinen Eingeweiden wanden. Nun starrte er auf seinen flachen Bauch und hörte Mutters sanfte Stimme neben sich: "Was ist denn los, Schatz? Hast du geträumt?" Micha nickte. "Willst du mir deinen Traum erzählen?" Sie hoffte auf ein 'Nein'. "Ist schon gut, Mami. Hab's schon wieder vergessen." Erleichtert hastete Frau Wenger Richtung Fernseher. Micha blieb aufrecht sitzen. Von wegen vergessen! Aber er hatte den Traum nicht erzählen
dürfen. Damit hätte er gegen Regel Eins verstoßen. Er empfand eine Art Hass-Liebe für dieses Spiel, welches er vor vier Wochen erfunden hatte, um sein Taschengeld aufzubessern. In Gedanken in seinen heimlichen Plan versunken, fiel er in einen tiefen Schlaf und vergaß den heutigen Tag, der ihm diesen Traum beschert hatte:
Micha hatte sich nach der Schule zuhause umgezogen: ältere Kleider; man konnte nie wissen, was denen in den Sinn kam. Dann hatte er sich zum alten Bahnhof aufgemacht, wo ihn seine Mitspieler Bernd, Janicek und Peter schon erwarteten. Sie waren alle aus seiner Klasse. Bernd war der Sohn eines Bankdirektors und immer zu haben, wenn es ums Geld ging. Janicek hatte viel Zeit; niemand schien ihn je zu fragen, wo er sich herumtrieb. Das war bei Peter anders. Seine Eltern wollten immer genau wissen, wo er war. Weil
er Micha gut leiden mochte, hatte ihn nichts in der Welt davon abhalten können, bei diesem Spiel dabei zu sein. Regel Eins lautete: "Es wird niemandem etwas verraten." Sie hatten sich noch auf weitere Regeln geeinigt und vor allem auf den Spieleinsatz: Drei Euros sollte jeder pro Auftrag geben. Micha hatte ausgerechnet, dass er so pro Nachmittag neun Euros verdienen könnte. Dazu musste er allerdings alle seine Aufträge erledigen. Natürlich würde es auch Verluste geben, die andern waren ja nicht feige.
Aber mit vierzig bis fünfzig Euros konnte er rechnen bis Weihnachten. Nun war es Anfang November.
Während Micha, Peter und Janicek für Bernd eine Aufgabe austüftelten, verdrückte dieser zwei Tüten Chips und eine Flasche Cola. "20 Liegestützen!" lautete ihr Befehl fünf Minuten später. Nach der dreizehnten sackte der dickliche Junge zusammen. Dann sah er mürrisch zu, wie die andern drei die Sechzig schafften und ihr Geld wieder einsteckten. Nun war die Reihe an Janicek. Die drei deutschen Jungs forderten ihn zu einem Mundart Gedicht heraus. Er laberte zu ihrem Erstaunen eine sich reimende Pop Mundart
Strophe runter und forderte grinsend die neun Euros. Als sie als nächstes von Peter verlangten, dass er am Kiosk eine Packung Zigaretten klauen solle, protestierte dieser lauthals: "Das verstößt gegen Regel Zwei!" "Wieso, das schadet doch niemandem, oder?" konterte Bernd. Micha spielte sich kurzerhand als Schiedsrichter auf: "Stehlen ist schädlich, Schluss, basta!" Bernd gab sich geschlagen, schwor aber heimlich auf Rache. Diese lag näher als erwartet. Als sie an der Reihe waren,
für Micha etwas auszuhecken, bückte Bernd sich unauffällig, las etwas vom Boden auf und eilte zu Janicek und Peter. Micha hörte sie kurze Zeit später grölen: "Das machen wir!" Siegesbewusst traten sie vor ihn hin: "Hier, iss diese drei Äpfel!" forderten sie Micha auf. Dieser ergriff die erste wurmstichige Frucht. Er hatte sich eine Strategie zurechtgelegt: Kräftig biss er dort rein, wo das Wurmloch zu sehen war. Wie geplant, hatte er den Eindringling mit dem ersten Bissen verschluckt. Der
Rest war ein Kinderspiel. Michas Technik bewährte sich. Als er den dritten Apfel nach dem Wurmloch absuchte, stellte er fest, dass diese Stelle völlig verfault war. "Das heb' ich mir zum Nachtisch auf", dachte er angewidert, wich von seiner Strategie ab und nagte zuerst die festen Teile ab. Seine Hand wurde immer schlüpfriger. Zur Sicherheit hielt er den Apfel mit beiden Händen fest. Mit einem kräftigen Biss verschlang Micha ein weiteres Viertel. Wie er so vor sich hin kaute, sah er etwas Weißes hochschnellen,
zucken und dann reglos am Fruchtfleisch hängenbleiben. Hatte er da eine Made geköpft? Der Apfelbrei war schon zum Schlucken fertig, doch der Gedanke an den Wurmkopf, der in seinem Mund badete, würgte ihn. Die Jungs brüllten los und hielten sich die Bäuche vor Lachen. Trotzig schaute Micha zu Boden. "Haha, hoho." Das Lachen der andern steckte ihn an. Nicht mehr lange und er würde losprusten. Der Brei befand sich noch immer in seinem Mund, unmittelbar hinter den Zähnen. Irgendwann gelang es Micha, an
seine Mutter zu denken. Er sah sie vor sich, traurig wie immer, seit Papa ausgezogen war. Und dann dachte er an seinen Weihnachtsplan und das benötigte Geld. Das half. Die proteinhaltige Fruchtmasse verschwand in seiner Speiseröhre und machte Platz für den Nachtisch. Peter, Janicek und Bernd schienen über ihre Niederlage gar nicht so verärgert zu sein. Mit einem Blick unter den Apfelbaum und einem leeren Schlucken händigten sie die Belohnung aus.
24. Dezember. Seit fünf Tagen hatte Frau Wenger gerätselt, wer wohl die geheimnisvolle Einladung in ihren Briefkasten geworfen hatte: "Ich möchte mich mit Dir um 20 Uhr im Saphira treffen!" Es war ihr peinlich gewesen, ausgerechnet am Heiligen Abend einen Babysitter organisieren zu müssen, doch Micha hatte erstaunlicherweise sehr vernünftig reagiert. Natürlich würde er zu Omi gehen. Nein, ihm würde es nichts ausmachen.
Nun saß Liselotte Wenger in einem hübschen Abendkleid an dem festlich gedeckten Tisch im edlen Restaurant Saphir. Ihr Blick hing an der Eingangstür. Würde sie den Mann erkennen? Als etwas später ihr Michi in weißem Hemd und schwarzer Hose durch die Tür trat, hielten sich Enttäuschung und Überraschung die Waage. Der kleine Charmeur nahm freudestrahlend neben ihr Platz; die Enttäuschung setzte sich wie ein gehorsamer Hund zu ihren Füßen. Während des Essens brach Micha endlich das Schweigen der ersten Spielregel.
Während er minuziös die vergangenen Mittwochnachmittage schilderte, lachte Liselotte herzhaft eins übers andere Mal. Zum Schluss nahm sie ihren Jungen liebevoll in die Arme und flüsterte: "So viel hast du dir das kosten lassen! Danke!" Er schaute seine Mama an und sah, dass sie glücklich war. Das war sein Weihnachtsgeschenk für sie.
Zur Nachspeise gab es gebratene Äpfel an Vanilleeis. Es war das erste Mal, dass Micha Wenger am Weihnachtsabend sein Dessert verschmähte. Und trotzdem lächelte er zufrieden vor sich hin.
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