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Quirin

© Katharina Britzen


Vor Hunderten von Jahren wurde in einem kleinen Bergdorf in den Dolomiten sehnsüchtig die Geburt eines Kindes erwartet. Die Bauern Sarah und Dominik waren schon weit in den Dreißigern, als Sarah einem Jungen das Leben schenkte. Sie nannten ihn Quirin. Sarah und Dominik liebten Quirin abgöttisch. Quirin wuchs, von seiner Mutter verhätschelt und verzärtelt, wie ein kleiner Prinz auf. Wurde nach Strich und Faden verwöhnt. Es war ein schweres Leben in dieser Zeit. Tagein, tagaus bestellten die Menschen ihre kargen Felder, um ihre Familien zu ernähren. Kinder mussten früh mit anpacken. Nicht so Quirin. Lieber ackerten Sarah und Dominik doppelt so viel, als dass sie ihn in die Pflicht genommen hätten. Im Gegensatz zu anderen Kindern musste Quirin weder Vieh hüten noch den Stall ausmisten oder gar bei der mühseligen Ernte helfen. Alles nahmen ihm die Eltern ab. So entwickelte sich Quirin früh zu einem egoistischen Tunichtgut, der nichts lieber tat als Toben, Raufen, mit Pfeil und Bogen schießen. Kinder ärgern. Quirin wurde im Laufe der Jahre sehr erfinderisch im Quälen. Erwachsenen die Zunge rausstrecken und ihnen einen Vogel zeigen war noch einer der harmlosen Streiche. Meist trieb er sich auf der Suche nach Opfern im Wald herum. Zerstörte mutwillig Vogelnester und warf frisch gelegte Vogeleier auf den Boden, damit diese zerbarsten. Das Gejammer der Vogelmutter belustigte ihn noch. Katzen band er Steine an den Schwanz und freute sich, wenn sie irritiert im Kreise liefen, bis sie irgendwann vor Erschöpfung umfielen. Spinnen riss er Beine aus. Einmal blies er einen Frosch mit einem Strohhalm auf, um ihn dann gegen eine Wand zu klatschen. Mit seiner Steinschleuder zerschoss er wahllos Fensterscheiben. In dem kleinen Bergdorf fragten sich die Menschen: "Was soll bloß je aus diesem verwöhnten Quirin werden? Da sieht man, was passiert, wenn man Kinder nicht erzieht und ihnen keine Grenzen aufzeigt. Geschieht seinen Eltern ganz recht." Quirins Eltern liebten ihn ungeachtet seiner Böswilligkeiten und drückten bei seinen Schandtaten beide Augen zu. Selten, vielzu selten tadelten sie ihn. Und Quirin trieb weiter sein Unwesen. Die Kinder des Dorfes hielten sich aus Angst vor ihm fern.
Weihnachten stand vor der Tür. In jener Zeit war es noch Brauch, dass Väter die Geschenke ihrer Kinder in der Adventszeit beim Christkind abholten. Pro Erdenkind waren dort zwei Geschenke reserviert. Tüchtige Engel hatten während eines Jahres in der Himmelswerkstatt gezimmert, gehobelt, geschmiedet, genäht, gestrickt, gewebt und gebacken. Puppenwagen, Eisenbahnen, Pferdegespanne, handgenähte Puppen, Zinnsoldaten, Weihnachtsplätzchen. Aber wie kamen die Väter in den Himmel? Ganz einfach. Sie mussten in der Adventzeit - der Zauber galt nur in der Adventzeit - zur Dorfwiese bei der Kirche gehen und im Dunkel der Nacht folgende Zauberworte aufsagen:
Leiter, Leiter,
wachse weiter,
bis hinauf zum Himmelstor,
geschwind, geschwind empor.
Sobald die Männer ihr Sprüchlein aufgesagt hatten, trieb eine Leiter aus der Erde heraus. Über diese Leiter konnten die Väter bis zum Himmelstor klettern. In einem dicken Buch hatten Engel übers Jahr alle guten und schlechten Taten der Erdenkinder notiert. Überwogen bei einem Kind die schlechten Taten, ermahnte das Christkind den Vater, ein Auge auf sein Kind zu haben. Quirins Vater bekam alljährlich eine Litanei über die Schandtaten seines Jungen zu hören. Seite um Seite füllten sie das Engelsbuch. Sämtliche Engel des Himmels waren entsetzt über Quirin. Noch nie hatte es auf der Welt ein solches Kind gegeben.
"Aber wir lieben ihn doch sehr. Er ist unser einziges Kind", jammerte Quirins Vater?", wenn ihn das Christkind auf die Ungezogenheiten ansprach. Die Himmelsbewohner ahnten: Bei Quirin war Hopfen und Malz verloren.
Bevor sich die Väter dann auf den langen Heimweg machten, durften sie noch eine Stippvisite durch den Himmel unternehmen und ein Stündchen auf einer Engelswolke ausruhen. Zur Stärkung für den langen Rückweg wurde ihnen zum Abschied Himmelsmilch und Honigkuchen gereicht.
Von kleinauf wussten die Kinder, wer für sie die Geschenke im Himmel abholte. Allerdings war und blieb es das größte Geheimnis, wie die Väter in den Himmel gelangten. Natürlich interessierte es die Kinder brennend, wie die Väter den weiten Weg in den Himmel zurücklegten und löcherten Jahr um Jahr ihre Eltern. Aber von ihren Eltern erfuhren sie lediglich, dabei handele es sich um ein Geheimnis zwischen Eltern und Christkind. Kinder dürften darüber nichts wissen, andernfalls hätte es ein für allemal ein Ende mit den Weihnachtsgeschenken. Mit dieser Antwort gaben sich die Kinder zufrieden und freuten sich auf Weihnachten. Alle, bis auf Quirin, den es schon lange fuchste, das Weihnachtsgeheimnis nicht zu kennen und der sich vorgenommen hatte, das Rätsel um das Weihnachtsgeheimnis zu lösen. Koste, was es wolle.
Vom ersten Advent bis Heiligabend wurden bei Einbruch der Dunkelheit Fensterläden und Türen verriegelt. Nicht auszudenken, wenn ein Kind Zeuge des nächtlichen Aufstiegs geworden wäre. Sicherheitshalber versteckten die Eltern abends den Haustürschlüssel. Doch Quirin hatte spioniert und kannte seit kurzem das Versteck des Schlüssels. Auch hatte er ein Gespräch seiner Eltern belauscht: "Morgen, Sarah. Morgen abend mach ich mich auf den Weg zum Christkind." Quirin hörte seinen Vater noch seufzen: "Was ich da wieder alles erfahre...?"
Am nächsten Abend ging sein Vater anstatt ins Bett nach draußen. Quirin lag schon im Bett, als seine Mutter noch in der Küche hantierte. Wenig später sperrte sie die Haustür ab und legte sich schlafen. Heimlich kleidete sich Quirin an und wartete mit aufgestellten Ohren an der Tür. Als aus dem Schlafzimmer der Eltern die vertrauten Schnarchgeräusche seiner Mutter - Rrrrrrr, Rrrrrrr, Ssssss - erklangen, schlich er hinein, fasste vorsichtig unter das Kopfkissen, verharrte einen Moment regungslos und tappte auf leisen Sohlen hinaus. Die Haustür knarrte verräterisch, als er sie aufschloss. Gebannt wartete er, ob seine Mutter aufwachen würde. Nichts geschah. Draußen schlüpfte er in seine Schuhe und rannte im Schatten der Nacht zur Dorfwiese, wo sein Vater, ohne Quirin zu bemerken, soeben murmelte:
Leiter, Leiter,
wachse weiter,
bis hinauf zum Himmelstor,
geschwind, geschwind empor.
Es geschah. Mit eigenen Augen erlebte Quirin das Weihnachtswunder. Sprosse um Sprosse trieb eine Leiter aus dem Boden heraus. Kleine Lichter - Glühwürmchen ähnlich - beleuchteten die Stufen. Quirin sah seinen Vater himmelwärts davoneilen. Verlor ihn nach wenigen Minuten aus den Augen. Fast hätte Quirin seinem Vater hinterher gerufen: "Warte, Papa", aber er biss sich in letzter Sekunde auf die Lippen. Dann überkam Quirin eine unbändige Abenteuerlust. Wovor die Eltern gewarnt hatten, war ihm egal. "Alles Quatsch. Gelogen", beruhigte er sich selber und flüsterte in die Nacht:
Leiter, Leiter,
wachse weiter,
bis hinauf zum Himmelstor
geschwind, geschwind empor.
Ehe sich Quirin versah, stand er auf der Himmelsleiter und wurde, leicht wie eine Feder, Sprosse um Sprosse hinaufgetragen. Immer höher hinauf. Höher und höher. Schon war er auf gleicher Höhe mit dem Kirchturm. Schnell vorbei am Kirchturm. Hei, wie machte das Quirin Spaß! Er kletterte und kletterte, erkannte von weitem den gemütlichen Mann im Mond, der ihm zuwinkte. Grundlos streckte ihm Quirin die Zunge raus und plärrte: "Na, du Blödmann. Was glotzt du so? Blödmann, doofer, doofer Mondmann."
Da mußte selbst der Mondmann schlucken und fluchte: "Troddelkick und Mondgegrummel", sein Lieblingsfluch. Sekundenlang war er wie verdattert. Im Laufe vieler tausend Jahre hatte er ja schon etliches gesehen, aber ein derart unverschämter Knirps war ihm noch nie begegnet. Wie Schuppen fiel es dem Mondmann von den Augen. Wieso kraxelte dort auf der Leiter ein Dreikäsehoch herum? Erdenkinder durften doch nichts von der Himmelsleiter wissen. Das konnte, das durfte nicht sein...
Unverzüglich schickte er per Sternenexpress eine Nachricht ans Christkind: Stop Kind auf Himmelsleiter gesichtet Stop Sehr freches Kind Stop Was soll ich tun Stop
Die Antwort erreichte ihn in Lichtgeschwindigkeit. Mondmann runzelte ungläubig die Stirn, als er des Christkinds Antwort las. "Troddelkick und Mondgegrummel." Mit dem allergrößten Vergnügen spukte er in die Hände, holte tief Luft, blähte die Backen und blies Quirin auf seiner Leiter einen Schwall Luft entgegen. Die Leiter geriet dadurch ins Schwanken und pendelte gefährlich vor, zurück, vor, zurück. Um ein Haar wäre Quirin abgestürzt. Jetzt lachte der Mondmann. "Troddelkick und Mondgegrummel. Dir wird ich's zeigen, Bürschchen." Quirin klammerte sich mit aller Kraft an die Leiter und hörte auf einmal den Wind fauchen "Hinauf, hinauf". Dann sackte die Leiter in einem Ruck nach vorn, wieder nach hinten, so dass Quirin waagerecht an der Leiter hing und entsetzt "Papa, Papa" schrie. Angelockt von dem Geschrei schwebten die Sterne näher und wohnten dem Schauspiel bei, ohne einen Finger zu krümmen. Hämisch grinsend blies der Mondmann noch kräftiger in seine Backen und zog aus seiner Hosentasche zwei Messer. Als er diese wetzte, schwante Quirin Schlimmes. Verzweifelt versuchte er die Leiter hinunter zusteigen. Vergebens. Wie ferngesteuert bewegten sich seine Füße aufwärts, dem Mondmann Stufe um Stufe entgegen. "Hinauf, hinauf", jagte ihn der Wind, "hinauf, hinauf." Nun stimmten die Sterne in den Sing-Sang des Windes mit ein. "Hinauf, hinauf" und dieses "Hinauf" schwoll an zu einem Chor, der das Universum mit großer Unruhe erfüllte. Neben, oben, unten, hinter, über Quirin nichts als das unheimliche "Hinauf, hinauf." Zum ersten Mal in seinem neunjährigen Leben fürchtete sich Quirin wirklich und wimmerte: "Bitte, bitte, Papa. Hol mich hier ab. Bitte, ich fürchte mich so vor dem Mondmann, ich fürchte mich vor den Sternen, ich fürchte mich vor dem Himmel. Vor dem Wind. Bitte Papa, ich werde auch nie wieder gemein sein. Nieeeeee wieeeeeeeder", schrie er dem Wind entgegen, der Quirins Worte einfach verschluckte und dabei einem luftschnappenden Karpfen glich. Unerbittlich wuchs die Leiter weiter und brachte Quirin dem Mondmann immer näher. Auf gleicher Höhe mit dem Mond packte der Mondmann Quirin kurzerhand am Schopf und pflückte ihn wie einen reifen Apfel von der Leiter. "Nein, nein", wehrte sich Quirin angsterfüllt und wand sich in den Pranken des Mondmannes. Ohne Erfolg. Just in dem Moment hörte die Leiter auf zu wachsen.
Der Mondmann ließ sich Zeit beim Betrachten des kleinen Zappelmännchens. "Troddelkick und Mondgegrummel! Wen haben wir denn hier? Einen unvorhergesehenen Weihnachtsbraten für mich? Du könntest mir munden, Quirin. Du heißt doch Quirin, oder?" Quirin duckte sich zitternd in des Mondmanns Hand. "Troddelkick und Mondgegrummel. Bist du Quirin, ja oder nein?" Mondmanns Stimme donnerte über Quirin hinweg. Quirin zog es daher lieber vor, zu antworten: "Ja, ich bin Quirin." Prüfend fuhr der Mondmann mit seinem schwieligen Daumen über die Klinge des Messers. "Troddelkick und Mondgegrummel, Quirin. Vom Christkind erfuhr, dass du der ungezogenste Junge im Universum bist. Quälst Tiere, schlägst andere. Zerstörst blindwütig. Bist ein Faulpelz. Mich, den ältesten aller Mondmänner im Weltall beschimpfst du. Hast vor niemanden Respekt. Aber das allerschlimmste. Du bist dem Weihnachtsgeheimnis auf die Spur gekommen, du böser Bösewicht. Zukünftig erhalten die Erdenkinder keine Geschenke mehr. Weißt du eigentlich, wie furchtbar das für die Kinder sein wird, nie mehr Geschenke zu erhalten. Das verdient die schlimmste Strafe, die es gibt. Dafür sperre ich dich in den tiefsten Mondkrater. Von dort gibt es kein Entrinnen. Troddelkick und Mondgegrummel. Und der Appetit auf dich ist mir gründlich vergangen. Noch schwerer als die Steinsuppe, die ich jeden Tag essen muss, würdest du mir im Magen liegen. Troddelkick und Mondgegrummel." Dann verfrachtete er den sich windenden und weinenden Quirin kurzerhand in seine Jackentasche und trottete zum Krater.
Im Dunkel dieser Tasche geschah etwas Unverhofftes. Wie ein Film lief jede Gemeinheit Quirins vor ihm ab. Jede Missetat schmerzte ihn. An seinem Körper gab es keine Stelle, wo es nicht zwickte oder zwackte, als würden ihn tausend Nadeln piesacken. Die Schmerzen der Spinnen, denen er die Beine ausgerissen hatte, den Kummer der Vögel, dessen Gelege er mutwillig zerstört hatte. Das verzweifelte "Quak, Quak" des Frosches. Das Weinen der Kinder, die er geschlagen hatte. Den Kummer, den er seinen Eltern bereitet hatte. Alles, was er Böses getan hatte, traf ihn nun und verursachte Höllenpein. Mit den Schmerzen erwachte auch die Scham, und es wurde ihm bewusst, was für ein schreckliches Kind er gewesen war. Sein Weinen war zum Steinerweichen, dennoch schob ihn der Mondmann tief in den Krater hinein. "Troddelkick und Mondgegrummel. Hier kannst du über deine Schandtaten nachdenken, Quirin", und rollte zur Sicherheit noch einen Quader vor die Öffnung.
Quirins Vater holte ihn noch in der Nacht ab. Quirin war kuriert. Niemals mehr tat Quirin Tieren oder Menschen was zuleide. Aber auch nie mehr setzte eine Mensch einen Fuß auf die Himmelsleiter. Sie blieb für immer und ewig verschwunden.



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