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Weihnachtsgeschichten Weihnachten Kurzgeschichte Advent Weihnachtsmann weihnachtliche Geschichten

Wie die Weihnachtsfreude starb

© Ursula Schoenes


Allmählich zog der weihnachtliche Friede ein. Draußen senkte sich die frühe Dämmerung des Heiligen Abends über die jetzt verlassenen Straßen und Plätze. Sie saßen am Esstisch, die vier Kerzen am Adventskranz waren angezündet, fast ganz heruntergebrannt; die Mutter hatte Christstollen, Zimtsterne und Kakao auf den Tisch gestellt, die Tannenzweige dufteten. Im Kerzenschein erzählten die Eltern von den Weihnachtsfesten ihrer Kindheit, den bescheidenen, selbstgebastelten Geschenken ihrer Eltern, die jedes Jahr wieder repariert und mit Farben aufgefrischt wurden, von Ängsten vor St. Nikolaus und Knecht Rupprecht, von Hoffnungen und Enttäuschungen.
Die Zwölfjährige liebte diese besinnliche Stunde vor der Bescherung ganz besonders. Die Hektik, die unangenehmen Dinge des Tages fielen ab, wurden unwichtig. Dieser hatte schon früh mit einer großen Anspannung begonnen. In der Pfarrkirche mussten die Schulkinder morgens zum Beichten kommen, eine 14tägig wiederkehrende Pflicht, die ihr schwer auf der Seele lag. Die Gewissensforschung wurde quälend genau betrieben; wie schlecht war sie wieder gewesen, Reue und Vorsatz änderten nicht viel, immer wieder half sie ungern im Haushalt, mochte nicht spülen, abtrocknen, Strümpfe stopfen und die Schuhe für alle putzen. Und immer wieder gab es Streit mit den jüngeren Geschwistern, sie hasste es, wenn diese an ihre Sachen gingen, wenn sie ihre wenigen Schätze mit den Jüngeren teilen musste. Sie war auch noch voller Wut darüber, dass der Vater vor einigen Monaten angeordnet hatte, dass sie ihr kleines, "halbes" Zimmer zugunsten des sechsjährigen Bruders räumen und nun eins mit ihrer siebenjährigen Schwester teilen musste, weil ein Junge ein eigenes Zimmer brauche. Sie kniete endlos lange vor dem Beichtstuhl, bis sie sich hineintraute, hoffte, dass sie keine Sünde, vor allem keine Todsünde vergäße, auf dass die Beichte ja nicht ungültig sei. Erleichtert war sie dann nach Hause gekommen, voller Dankbarkeit für die Lossprechung von ihrer Sündenlast, bemüht, die brave, hilfsbereite, bescheidene Älteste zu sein, die ihre Eltern erwarteten.
Sie war still, verschlossen, ernst, sehr geübt im Verzichten: im Advent auf Süßigkeiten, im Alltag auf Wünsche, deren Erfüllung Geld gekostet hätte: Schlittschuhlaufen im Eisstadion, Mitgliedschaft im Schwimmclub, Musikunterricht. Ihre Leidenschaft war das Lesen, das Abtauchen in eine ganz andere Welt, in der das Wünschen noch half, in der Aschenputtels Treue reich belohnt wurde, in der aber auch "Bettina, die rasende Reporterin" mit ihrer gelben Vespa durch die Stadt flitzte und gar nicht brav, sondern selbstbewusst und keck den Erwachsenen Paroli bot. Mit heimlichem Entzücken las sie die frechen Antworten der Bettina; unvorstellbar, die eigene Schüchternheit einmal zu überwinden und selbst so forsch und selbstsicher zu sein! Sie hoffte, den Fortsetzungsband unter dem Weihnachtsbaum zu finden. Den Eltern hatte sie verschwiegen, warum sie diese Bände so liebte.
Die Kerzen waren heruntergebrannt, die Geschwister und sie wurden ungeduldig und wollten nichts mehr von früher hören, sondern sehen, was das Christkind dieses Jahr gebracht hatte.
Tagelang war das Weihnachtszimmer abgeschlossen - wie jedes Jahr. Selbst das Schlüsselloch war verhängt. Ab und zu rumorte es in dem Zimmer, die Engel und das Christkind hatten die Geschenke bereits gebracht und dem Vater den Schlüssel zum Weihnachtsparadies übergeben.
Die Älteste hatte jahrelang gebettelt: "Bitte, lass mich einmal mit dir hineingehen und die Kerzen anzünden." Der Vater hatte die Bitte immer abgelehnt, er ganz alleine betrat das Zimmer, zündete die Kerzen an und läutete dann mit den Weihnachtsglöckchen, die schon mit dem Vater Stalingrad überstanden hatten. Auch dieses Jahr gingen alle bis zur Tür des Weihnachtszimmers, als der Vater ganz unerwartet zum Jüngsten sagte: "Komm mit, du kannst mir helfen." Die Zwölfjährige erstarrte, wie hatte sie all die Jahre vergebens gebettelt, einmal mit dem Vater hineinzudürfen! "Aber das ist unfair, ich bin die Älteste, warum darf ich nicht?" Die Antwort des Vaters war kurz und zerstörend: "Weil er ein Junge ist." Die Tochter konnte es nicht fassen. Stets wurden ihr die Pflichten einer Ältesten klargemacht, sie erfüllte die Forderungen des Vaters nach hervorragenden Schulleistungen, sie war vernünftig und zuverlässig. Sie schaute die Mutter an und erwartete, dass diese ihr zur Hilfe käme und sagte: "Nimm dieses Mal die Tochter mit, sie war brav, hat mir geholfen, sie war in der Schule fleißig." Nichts geschah. Die Mutter schwieg und schaute sie nicht an, der liebe Vati hatte immer Recht. Der kleine Bruder zog stolz und aufgeregt an ihr vorbei ins Weihnachtszimmer, dessen Tür sich wieder schloss, bis der Vater nach einer Weile öffnete und alle hereinließ. Er stand unter dem Weihnachtsbaum, neben der Krippe und las das Weihnachtsevangelium vor: "Und siehe, ich verkündige Euch eine große Freude. Heute ist Euch ein Kind geboren, ein Sohn, welcher ist Christus, der Herr."
Wut, Hass wandelten sich zu Trauer, Enttäuschung, Resignation. Liebe, Zuneigung und Anerkennung der Eltern waren nicht zu gewinnen durch noch so große Anstrengungen oder das Befolgen elterlicher und religiöser Gebote. Was einzig zählte und zugleich völlig unerreichbar war, war die Tatsache, ein Junge zu sein. Ein Sohn ist ein Grund zur Freude. Auch das Weihnachtsevangelium verkündete es ja so, und Zweifel oder Kritik an Gottes Wort war eine Todsünde, bedeutete ewige Verdammnis. Ihre Weihnachtsfreude war tot, sie bewegte nur noch die Lippen beim Singen von "Oh, du fröhliche" und kämpfte heftig mit den Tränen, die Geschenke interessierten sie nicht mehr.



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