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Nicht einen Tag länger ...

© Katharina Britzen


Seit nahezu fünfzig Jahren, an dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr, in Schaltjahren an dreihundertsechsundsechzig Tagen kochte, buk und briet Erna in ihrer dunkel gebeizten Eichenküche. Selbst wenn sie krank daniederlag und "auf dem Zahnfleisch ging", erwartete ihr Mann Karl, mit dem sie am 25. Dezember ihre goldene Hochzeit feiern würde, sein Essen pünktlich auf dem Tisch. Hierin kannte Karl kein Erbarmen. "Der Mann sorgt fürs Geld, die Frau kümmert sich um den Haushalt. Basta." Vorsintflutliche Ansichten, denen sich die rundum angepasste Erna ein Eheleben lang gebeugt hatte und nie gewagt hätte, eigene berufliche Wünsche zu verwirklichen, obwohl in ihrem Herzen lange Jahre die unausgelebte Sehnsucht nach Selbstverdientem schwelte. Allein schon deswegen, weil Karl, ein ehemaliger Amtmann beim Finanzamt, vehement auf akribische Buchführung der Haushaltskosten bestand. Woche für Woche die Einkaufsbelege mit den Eintragungen im Haushaltsbuch verglich und gleich Zeter und Mordio schrie, wenn mal ein Pfennig fehlte. Er zelebrierte dann einen Aufstand, als hätte Erna Millionen veruntreut. Für ihre persönlichen Dinge ließ er ihr keine nennenswerten Spielräume. Um jedes Kleidungsstück, um jeden Besuch beim Friseur musste sie wegen Geld bei ihm nachfragen. Karl, bei Erna ein Erbsenzähler durch und durch. Dabei erfüllte er sich seine Wünsche nach Lust und Laune. Alle paar Jahre eine neue Luxuslimousine, den modernsten Fernseher, damit er in gestochen scharfen Bilder die Sportschau verfolgen konnte. Nicht zu vergessen, seine ausschweifenden Abende mit seinen Skatbrüdern und den wöchentlichen Stammtisch im "Goldenen Krug". Über Ernas Lippen kam nie ein Wort der Klage. Ihre Ehe galt weithin als vorbildlich und wie ein Fels in der Brandung.
Genauso pflichtbewusst wie Erna ihren Dienst in der Küche verrichtete erfüllte sie die ehelichen Pflichten, obwohl es sie mit den Jahren mehr und mehr anwiderte, wenn er sich ihr nach wie vor mehrmals wöchentlich in männlicher Dominanz im heimischen Ehebett näherte und auf sein verbrieftes Recht pochte. Jedoch ohne Einfühlungsvermögen und den geringsten Hauch einer Wahrnehmung ihrer Körpersignale. Um die Balance ihres Hormonhaushaltes kümmerte sich Erna deswegen eigenhändig. So blieb dieser zumindest im Lot.
War seine stupide Sinnenlust bis ins fortgeschrittene Alter der Jungbrunnen, der ihn entgegen allen ärztlichen Prognosen am Leben hielt? War es zwanzig Jahre her? Vielleicht auch fünfundzwanzig Jahre, dass ihm die Ärzte aufgrund seines hohen Cholesterinspiegels frühe Herzinfarkte prophezeit hatten? Erna erinnerte sich nicht mehr so ganz genau, aber noch exakt daran, als wäre es gestern gewesen, als er mit der Hiobsbotschaft nach Hause kam. "Weißt du, was der Arzt gesagt hat, Ernalein? Ich trüge Risikofaktoren in mir, Ernalein. Soll mit der Ernährung aufpassen. Weniger tierische Fette. Na ja, die Butter muss auch nicht zentimeterdick aufs Brötchen. Und Sport treiben. Stell dir vor, Ernalein hahahahaha, Sport, Erna. Dabei treibe ich fast täglich Sport. Sport mit dir, Ernalein, hahahaha", und hatte ihr dabei in der Küche geil unter den Rock gefasst. Wäre ihre Tochter Elke nicht hereingekommen, hätte er sein Recht an Ort und Stelle eingefordert. Von da an wuchs ein Funke Hoffnung in Ernas Herzen, und fast jeden Tag gab es Gesottenes und Gebratenes. Seine Sucht auf Süßes, ganz besonders auf Marzipan, bescherte ihm über die Jahre einen stattlichen Rettungsring und runde Hüften. Verständlich, denn Ernas Gebäck war eine Offenbarung.
Des Arztes Worte nährten ihre Hoffnung, waren ihr unermüdlich Antrieb über viele Jahre und den Schwur, den sie Weihnachten 1944 in einer Nottrauung leistete "Bis das der Tod uns scheidet", hatte sich bei ihr verselbständigt. "Lieber Gott", betete sie Abend für Abend in ihr Kopfkissen, noch eine Spur beseelter, wenn Karl sich von ihr abgewälzt hatte und sein erschlafftes Geschlecht in die Höhle zurück kroch, dann unter seiner Steppdecke den Schlaf der Gerechten weiterschlief "...erlöse mich von seinem Übel und gib ihm die ewige Ruhe. Endlich, die ewige Ruhe. Amen."
Doch in den all den Jahren wurde Karl nicht ein einziges Mal von einem Herzinfarkt heimgesucht. Nicht einmal von einer Grippe. Es war schier zum Verzweifeln.
Als Karl noch nicht pensioniert war, konnte sie sich ihren Ärger im Rosenbeet von der Seele hacken, sich Ausgleich durch Stricken, Lesen und der wöchentlichen Gymnastik schaffen. Regelmäßige Kaffeekränzchen mit Nachbarinnen, denen ein ähnliches Los beschieden war und die sich im Gegensatz zu Erna ungeniert darüber beschwerten. Schon zehn lange Jahre, elend lange zehn Jahre, ertrug sie Karls Anwesenheit rund um die Uhr. Wenn Erna in den Spiegel schaute, ihren glanzlosen Augen begegnete, kam sie sich vor wie ein ausgebrannter Ofen. Energielos. Schlapp. Eine bis auf den letzten Tropfen ausgequetschte Zitrone. Im Zeitraum von fünfzig Jahren verdorrt wie getrocknetes Antilopenfleisch in der Wüstensonne. Eine Fremde starrte ihr entgegen und entfachte mit zunehmendem Alter eine Wut in ihr, die immer stärker loderte und eines Ventils bedurfte.
Sein Rentnerdasein hatte ihre Freiräume drastisch beschnitten. Er verlangte ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit und sie wäre nahezu verzweifelt, hätte er nicht für sich den Computer mit Internetzugang angeschafft. Insgeheim ließ sie sich von einer Nachbarin die Grundlagen des Internet erklären. Immer an seinen Skatabenden nutzte sie Gelegenheit zum Surfen und war rein zufällig darauf gestoßen. Als sie ähnliches dann in der Apothekerwerbung las, fasste sie einen bedeutsamen Entschluss,
Unter der Regie der Kinder und Schwiegerkinder liefen die Vorbereitungen zu den Festivitäten der goldenen Hochzeit auf Hochtouren. "Ruh dich aus, Mama", riet Elke. Plante und organisierte das große Fest eines fünfzigjährigen harmonischen Lebensweges. "Aber für Papa muss ich Weihnachtsplätzchen backen, Kind. Du weißt doch, dass er keine außer meinen isst."
"Du hast ihn über die Jahre viel zu sehr verwöhnt, Mama. Jeder weiß, dass er deine große Liebe ist? Eine Liebe bis zur Selbstaufgabe. Die vollkommene Liebe. Und nie im Leben hast du an dich gedacht, Mama. Immer nur an Papa. Ich könnte das nicht." Ernas Lächeln hatte etwas Gequältes. Am liebsten hätte sie geschrieen "Liebe, dass ich nicht lache. Hass, Hass, weiter nichts als Hass empfinde ich für ihn", biss sich aber auf die Lippen. Nichts sollte sie verraten und den Kindern und Enkelkindern die Illusion einer großen Liebe rauben.
So buk Erna wie seit nahezu fünfzig Jahren das Lieblingsgebäck ihres Mannes. Mandelplätzchen, Vanillekipferln, Marzipanbrote. Die Rezeptur hatte sie in diesem Jahr minimal verändert. Anstatt süße Mandeln benutzte sie Bittermandeln. Und mit großer Genugtuung verfolgte sie Abend für Abend, wie er vor dem Fernseher herzhaft in die Gebäckdose griff und ohne Maß die unter Selbstaufgabe und großer Liebe hergestellten Süßigkeiten verschlang. Am Vorabend der goldenen Hochzeit röchelte Karl ein letztes Mal, allerdings nicht auf Erna. Als sich die bereits eingetroffene Festgesellschaft um seinen aufgebahrten Leichnam scharte, fiel niemandem der dezente Geruch nach Blausäure auf. "Welch ein Verlust, Erna. Es tut uns so leid. Aber die Aufregung, die Aufregung konnte sein angegriffenes Herz nicht verkraften." Um ein Haar hätte Erna bei dem laut gesprochenen "Vater Unser" an der Stelle "... und erlöse uns von dem Übel ..." bei dem Wort Amen "Gott sei Dank" gebetet.


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