Die vollendete Zeichnung
© Kerstin Langhoff
Der Abendwind blies unter den vor ihm ausgebreiteten Papyrus, so, dass Simeon die Enden immer wieder beschweren musste. Bis auf das flackernde Licht der Öllampe auf seinem Schreibtisch war alles dunkel. Eine innere Unruhe hielt Simeon vom Schlafen ab. Warten - ja, geduldiges Warten war eine Tugend, vielleicht die schmerzhafteste. Nicht, dass sie körperlich wehtun würde, aber im Warten begegnet der Mensch dem gesamten Ausmaß seiner Ohnmacht, dem Angewiesensein auf etwas, was sich seinem Einflussbereich entzog.
Wie viele Jahre hatte er nun täglich im Tempel gesessen. Jeden Morgen erneut mit der Hoffnung, dass dies der Tag sei, an dem er ihm begegne. Am Abend hatte er der heiligen Stätte wieder den Rücken gekehrt, häufig traurig und innerlich zerrissen. Er machte Jahwe keine Vorwürfe, wer war er, dass er das könnte? Dafür hatte er ihn schon zu sehr erlebt. In seinem spärlich möblierten Raum setzte er sich oft an den Tisch und überdachte er sein Leben.
Auch an diesem Abend füllten Erinnerungen den Papyrus. Er richtete seinen Rücken auf und las erneut:
Ein langes Leben habe ich gelebt.
Gute und schwere Jahre.
Kapp achtzig Sommer und Winter habe ich kommen und gehen sehen.
Sie sind in meine Seele eingegangen, haben ihre Abdrücke hinterlassen.
Die Spuren meines Lebens sind überall verteilt.
Könnten sie des Nachts leuchten, so würden sie ein Gemälde ergeben.
Gerne würde ich sie vom Mond aus betrachten.
Was würde ich sehen?
Vielleicht mich selbst, so wie ich jetzt bin.
Ganz gewiss aber mit der Signatur meines Schöpfers.
Ich denke an meine Frau, Jael.
Sie hatte ein heiteres Gemüt und besaß ein reines Herz.
Viele Jahre haben wir miteinander verbracht.
Wir haben viel gelacht und unsere Tränen gegenseitig aufgefangen.
Drei Söhne und vier Töchter haben wir gemeinsam aufwachsen sehen.
Sie haben unser Leben beschenkt.
Doch als unsere Tochter Salome der Krankheit erlag, zerbrach Jaels Herz vor Kummer. Meines erstarrte, wie ein großer Stein, der sich auf meine Brust legte.
Jahwes Güte hat uns wieder hergestellt.
Er hat die klaffende Wunde geschlossen, die ihr Tod in uns verursachte.
Seither habe ich keine Angst vor dem Tod, wohl aber vor der Enttäuschung, der letzte große Strich könnte ausbleiben, der meine Lebenszeichnung vollendet.
Jael starb in Frieden und hinterließ mir Einsamkeit.
Meine Kinder haben Jerusalem verlassen.
Zu viele suchen hier nach Arbeit.
Das römische Militär unterdrückt uns.
Hunger sitzt in den Gassen und breitet sich in den Häusern aus.
Menschen sehnen sich nach Erlösung, hoffen durch eigene Anstrengung dem Joch des Gesetzes zu genügen.
Wo ist der Mensch, der ihre niedergedrückten Seelen aufrichtet, der ihnen Jahwes Gnade zeigt?
Denn ihre Ohren sind verstopft von der Mühsal des Alltags.
Ich bin geblieben, in meinem Jerusalem.
Da hier meine Verheißung liegt.
Hier soll ich das Heil, den Messias, sehen.
So ließ ich meine Kinder und Kindeskinder ziehen.
Mein Herz schlägt höher, wenn sie mich besuchen, doch es zerreißt sich vor Sehnsucht nach der Ankunft des Kindes, das die Rettung Israels bedeutet.
Simeon erhob sich aus seinem Stuhl und setzte sich auf seinen Schlafplatz. Neben ihm eine Ziege, die schon oft versucht hatte, seine Worte zu fressen. Wenn er schrieb, band er sie fest. Nun meckerte sie. Aber was machte ihr Gestank gegen den Becher frischer Ziegenmilch, mit dem sie ihn jeden Morgen beschenkte.
Jetzt war er wieder da, der Stich, unangekündigt durchzog er seine linke Brusthälfte. Der alte Mann presste seine Hand auf die Stelle über seinem Herzen und hechelte, bis der Schmerz schwächer wurde.
Er hatte die Schrift studiert, wieder und wieder, hatte den Lesungen im Tempel gelauscht, bis er sie auswendig rezitierte. Jahrhunderte hatte Gott nicht mehr durch Propheten zu seinem Volk gesprochen. Doch die, die an ihn glaubten, hörten seinen Geist auch jetzt, leise, sanft, wie ein zaghafter Freund, der an die Tür klopft. Jahwe zeigte sich Simeon durch Träume. In ihnen begegnete er einem Licht, so stark, dass es die Dunkelheit durchfuhr und vertrieb. Nicht in Gestalt der Streitmacht, die die Gassen verunsicherte,
sondern in Gestalt eines Knechtes, nicht schön vom Aussehen, so wie die Welt Schönheit erachtete, aber rein und gütig wie Jahwe selbst.
Erschöpft kippte Simeons Oberkörper auf seine Matte. Das restliche Lampenöl verbrauchte sich in einer schwachen Flamme.
Wenige Stunden später schritt der Morgen durch die spröden Ritzen seiner Eingangstür.
Mit schmerzenden Gliedern stemmte sich Simeon von seinem Nachtlager hoch. Er wusch sich, trank die Ziegenmilch und hüllte sich in einen Mantel. Ein Stock stütze ihn auf dem Weg zum Tempel.
Lautes Treiben begrüßte ihn auf den Gassen von Jerusalem. Händler zogen ihre Karren zum Marktplatz, um die magere Ernte, die ihnen die Römer übrig ließen, teuer zu verkaufen. Aus Langeweile rempelten Soldaten hier und da Bewohner an und hofften auf irgendwelche Reaktionen. In den staubigen Straßen spielten Kinder mit Steinen. Sie versuchten das kleine Steinchen in der Mitte zu treffen und zu gewinnen. Frauen gluckten mit Wasserkrügen auf den Köpfen beisammen. Sie plauderten, die eine laut, die andere schrill,
während die Tagelöhner unter einer Palme im Stadtkern auf eine Arbeit hofften, von der sie notdürftig ihre Familie ernähren könnten. Drei Pharisäer schritten hoch erhobenen Hauptes an Simeon vorbei. Menschen des Gesetzes, die vorgaben, sie könnten ihren Gott mit der Einhaltung der Mischnah beeindrucken, wie Glühwürmchen, die der Sonne ihre Lichtkraft demonstrierten.
Simeon erreichte den Tempel und sank kraftlos in der hintersten Reihe am Boden nieder.
Worte aus Jesaja drangen an sein Ohr:
"Aber wer glaubt dem, was uns verkündigt wurde und wem ist der Arm des Herrn offenbart?"
Simeon nickte. Ja, ich glaube dir, Herr, selbst wenn ich dem Retter erst auf meinem Sterbebett begegne.
Dem restlichen Teil des Gesagten konnte er nicht mehr folgen. Müdigkeit lähmte seine Sinne.
Nach der Lesung, verließen die Männer flüsternd die Tempelhalle. Stille breitete sich im Inneren der Synagoge aus. Simeon musterte seine Hände. Tiefe Furchen erzählten von einem mühevollen Leben. Sie waren leer.
Ein Sonnenstrahl wärmte seinen Rücken, als sich das Tor hinter ihm einen Spalt öffnete. Ein junges Paar schaute sich blinzelnd um. In dem Arm der Frau ein Leinenbündel.
Simeon stand auf. Das Paar erblickte den alten Mann und kam auf ihn zu, als seien sie verabredet. Dann hielt die Frau ihm das Bündel entgegen, und er nahm den Jungen zu seiner Brust. Der Säugling schaute ihn an. Tränen rannen über Simeons faltige Wangen und seine Hände zitterten leicht. Er war angekommen, der von dem die Schriften erzählten, der wonach die Schöpfung ächzte und stöhnte, der von dem sich das Heil über den gesamten Erdball ergießen sollte. Er, der Höhepunkt in Simeons Leben, der letzte Strich seines
Gemäldes.
Als er die kleine Familie segnete, spürte er, wie Segen auf mannigfaltige Weise auf ihn zurückkam. Dann legte er seine Hände auf die Eltern, und erahnte die Last, die Maria noch zu tragen hatte, den Schmerz, der ihr wegen ihres Sohnes widerfahren würde. Doch der Friede Jahwes wies ihn auf die Hoffnung hin, die aus dem Leid kommen würde.
Ein letztes Mal sah er der Familie fest in die Augen und verließ den Tempel. Seine Beine waren bleiern, aber sein Herz sprang wie das eines jungen Rehs.
Am nächsten Morgen klopfte sein Enkel Nathanael an seine Hütte.
Als eine Antwort ausblieb, trat er in den Raum. Die Ziege trampelte unruhig auf ihrem Fleck. Simeon lag mit dem Oberkörper auf der Papyrusrolle. Sein Atem war erloschen, wie das Licht der Ölleuchte.
Nathanael hob ihn über seine kräftige Schulter und legte ihn sanft auf seine Schlafnische. Lange sah er seinen Großvater an, dessen Gesicht einen außergewöhnlichen Frieden trug. Nathanael durchfuhr ein wohliger Schauer. Dann trat er an Simeons Schreibtisch, rollte den Papyrus auseinander und las die letzten Zeilen:
Nun lässt du, Herr, deinen Knecht
wie du gesagt hast, in Frieden scheiden.
Denn meine Augen haben das Heil gesehen,
das du vor allen Völkern bereitet hast,
ein Licht, das die Heiden erleuchtet
und Herrlichkeit für dein Volk Israel.
(Lukas 2, 29-32)
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