Kein Christkind für Tobias
© Michael Maschek
Tobias war ein Junge im Alter von 6 Jahren. Selbstverständlich war er, wie auch all die anderen Kinder in seiner Umgebung, von einer großen Sehnsucht nach dem Christkind erfüllt. Eifrig hatte er sich bereits daran gemacht, scheinbar endlose Listen von seinen Wünschen an den Engel mit den goldenen Locken zu schreiben. Tobias' Vater arbeitete bei einer Firma, die sich mit der Entwicklung von Spielsachen für die Weihnachtszeit beschäftigte. Die Interessen seiner Frau konnten ähnlicher kaum sein. Mutti arbeitete
nämlich in einer Fabrik für Weihnachtsbäckerei. Und da sie ihre Arbeit sehr gern hatte, war sie bereits Mitte Oktober mit dem Backen von Vanillekipferln, kleinen Herzchen aus Marzipan und - für den kleinen Tobias tabu - Rumkugeln mit Kokosstreuseln. Stolz erzählte der Vater seinen Arbeitskollegen von seinem lieben Sohn, der den ganzen Tag, wegen der Vorfreude auf das Christkind, glänzende Augen hatte und quietschvergnügt dem Großvater beim Vorlesen von Weihnachtsgeschichten lauschte. Kurzum, man verhielt sich,
als wäre es bereits drei Tage vor dem heiligen Abend.
Doch eines Tages musste sich der Großvater selbst Geschichten vorlesen. Sein Enkel hatte nämlich vor kurzem einen Fernseher bei einem Preisausschreiben gewonnen. Von früh bis spät genoss dieser nun Weihnachten im TV: Santa Klaus, Weihnachtsmann, Rudolf & Co. Er verließ die kleine Fernsehkammer nur mehr in der Rolle als Weihnachtsmaus, also um heimlich ein paar Rumkugeln von seiner Mutter zu stibitzen. Eine dünne Staubschicht bedeckte bald Tobias' Wunschliste für das Christkind. Es war doch viel bequemer,
in den Fernseher zu schauen.
Am 24. war es dann endlich so weit: Tobias besuchte endlich wieder einmal seinen Großvater. Allerdings nicht aus Neugier auf neue Geschichten, oder gar aus dem Verlangen heraus, Großvaters Nähe zu spüren und ihm mit seiner Anwesenheit zu erfreuen. Nein, lediglich der Wille der Eltern war der Grund für den Besuch beim Großvater. Verzweifelt versuchte dieser in dem Knaben die Lust, eine Geschichte hören zu wollen, zu wecken. Als es stockfinster war, durfte Tobias endlich wieder zu seinem heißgeliebten Fernseher
zurück. Er hatte gerade erst aufgedreht, als ihm der Ton eines kleinen Glöckchens aus der künstlichen Welt holte.
"Komm doch einmal herunter, Tobias!", hörte er seine Mutter rufen. "Schau nur, das Christkind war da!", sagte sie mit strahlender Miene. Laut trampelnd näherte sich Tobias seinen Eltern, die dicht beieinander standen.
"Wer ist denn das, das Christkind?" wunderte sich Tobias. Zaghaft versuchte der Vater Tobias' Aussage als Scherz zu verstehen, indem er seine Mundwinkel leicht nach oben zog. Während er seinem Sohn in die Augen sehen wollte, fiel sein Blick auf ein Glas Milch am Kamin, nebst einem langen, rot gestreiften Strumpf.
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