Die Laterne
© Vasilika Schnitzer
Weihnachten.
Wieder sitze ich auf der Schwelle vor meinem Zuhause und sehe den Schneeflocken beim Tanzen zu. Die Wirbel des Zigarettenrauches, den ich von Zeit zu Zeit in die kalte Luft blase, fügen sich widerstandslos den Nebelschwaden an, die über der Straße hängen. Es ist ein sehr dicker Nebel dieses Jahr, die verwischten Lichtzirkel um die Laterne herum würden bei dem Versuch, nach Hause stolpernden Passanten den Weg zu weisen, kläglich scheitern. Glücklicherweise scheint es niemand nötig zu haben, um diese Uhrzeit durch
die Stadt zu streifen. Nein, es ist still um mich, angenehm ruhig und erleichternd. Es tut gut, hier zu sitzen und sich bei Kaffee aus einem alten, heißen Metallbecher zu entspannen.
Ich habe heute versucht, einen Tannenbaum aufzutreiben. Mein Rundgang durch die Stadt lieferte keine Ergebnisse, und auch der Wald hat mich diesmal enttäuscht. Es war nichts Brauchbares zu finden, also habe ich mein Zuhause geschmückt - Silber- und Goldfolien aus alten Pralinenschachteln zu Kugeln geformt und an die Wände geheftet. Es sieht unglaublich gemütlich aus, und ich kann mir keinen Ort vorstellen, an dem ich diese Tage lieber verbringen würde als hier.
Kalt ist es sehr zu dieser Jahreszeit, das steht fest, und man schläft nicht gut, wenn es friert. Das Brennholz wird knapp, und die Axt habe ich verlegt, oder jemandem geliehen, ich weiß es nicht mehr. Aber ich habe eine Zimmerecke voller Bücher, die ich schon mehrmals gelesen habe - sehr gute Bücher, es wird mir schwer fallen, sie zu verheizen. Wenn die dort drüben nicht so knauserig wären mit ihrem Öl, würden mir hier nicht Füße und Hände abfrieren und ich könnte mich womöglich nützlich machen. Das sind aber
selbstverständlich alles leere Worte, ich weiß es nur zu gut, dass kein Mensch freiwillig etwas hergeben wird, ohne das Geringste dafür zu fordern.
Vor allem nicht, wenn es um Dinge geht, die das eigene Überleben sichern.
Ja, das weiß ich nur zu gut.
Der Fernseher funktioniert nicht mehr. Vor kurzem erst ging er, und nun steht er stumm in der Ecke und glotzt mich mit seinem leeren Bildschirm an.
Zunächst dachte ich, es würde an den Schneestürmen liegen, die den Empfang stören. Doch dann musste ich leider Gottes feststellen, dass die Stromversorgung der Stadt ausgefallen ist. Nichts funktioniert, bis auf die Laterne vor meinem Haus. Die brennt.
Eigentlich hatte ich vor, meine Mutter anzurufen. Immerhin ist Weihnachten.
Wie lange es wohl her ist, dass wir noch alle gemeinsam gefeiert haben?
Damals, als ich ein kleiner Junge war - einer von der Sorte, die vor nichts zurückschrecken und dank scharfer Zunge öfters eine dicke Lippe riskieren - hat mein Vater als LKW-Fahrer gearbeitet. Wenn er es schaffte, an Weihnachten zu Hause zu sein, hatte er unbedingt Geschenke dabei - einen Mantel oder Winterschuhe für meine Mutter und - das ganz Besondere - einen Stapel Bücher für mich. Bücher aus allen Ecken der Welt. Wie meine Augen doch immer glänzten bei diesem Anblick, staunte Mutter, und Vater sagte nur:
"Scharfe Zungen brauchen Schleifsteine, um zu Schwertern zu werden", dann legte er sich schlafen, um am nächsten Tag ausgeruht dem Sonnenaufgang entgegenzufahren - bereits eingestellt auf ein neues Ziel, auf ein neues Stück Welt.
Ich habe keine Ahnung, wo Mutter jetzt sein mag. Ich werde sie an Ostern besuchen, wenn sich die Gelegenheit ergibt, und mich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen.
Von meiner vorletzten Zigarette ist lediglich ein trauriger Stummel übrig, den ich schweren Herzens auf den schneebedeckten Bürgersteig schnippe. Der Stummel fliegt wackelig seine Bahn, taucht auf halber Strecke in die zähe, klobig-milchige Masse und verschwindet damit aus meinem Blickfeld. Der kalte, leere Becher geschmückt mit braunem Kaffeesatz verheißt nichts Gutes; meine tauben Finger umklammern schmerzhaft den Plastikgriff und ich erhebe mich mühsam von meiner Schwelle und trete in mein Haus ein. Während
ich mich auf das Sofa niederlasse, spüre ich das Alter durch meine Knochen und meine rechte Seite kriechen. Oder ist es womöglich nicht das Alter, sondern eine alte Erinnerung, die da eine Passage aus meinem Körper durch all meine Organe hindurch gräbt?
Ich lehne mich zurück, nehme ein Buch in die blassen Hände. "Krieg und Frieden" heißt es, ein großartiges Werk, welches mir gewiss noch nützen wird. Krieg ist etwas, wovon ich schon lange nichts mehr gehört habe. Mein Zuhause ist friedlich, meine Stadt genauso, ich fühle mich wohl hier, vor allem nachts, wenn kein Geräusch an mein Ohr kommt bis auf das Ticken der Uhr und das Klopfen meines Herzens.
Ich mag keine Kriege. Sie haben mich schon immer krank gemacht. Aber, wie lange ist das nun her. Kaum erinnere ich mich an meinen letzten Krieg. Der Krieg, welcher mit sorgfältig geschliffenem Schwert geführt wurde. Mit einer bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Waffe, die ich hervorragend einsetzte, um jemandem die Arme damit abzuschlagen. Ich habe mich wirklich bemüht, und ich war gut. Ich war zu gut. Gekämpft haben wir bis zum Umfallen, wir mühten uns ab, den Feind in die Knie zu zwingen, ihn zu zerschlagen
an seinen eigenen Argumenten wie an Klippen. Wir haben seine Handlungsfreiheit eingeschränkt durch bloße Drohungen, durch einfache Worte, durch Lächeln und verhallendes Klimpern kleiner Kupferscheiben. Wir entzogen ihm den Boden unter den Füßen, doch merkten viel zu spät, dass er Flügel hatte.
Ich schlug ihm die Arme ab.
Dafür brach er mir das Genick.
Gänsehaut kriecht über meinen gekrümmten Rücken, und ein Hustenanfall lässt meinen Brustkorb schmerzhaft erbeben. Gegen das abscheuliche Kratzen im Kehlkopf ist nichts zu machen, im Haus ist kein Wasser mehr da. Kälte macht sich in meinem Bauch breit, und ich lasse das Buch in das offene Feuer gleiten. Die Flammen zucken leicht auf, schlingen sich dann gierig um den Einband und beginnen mit der Mahlzeit.
Ich hülle mich in eine alte, zerfranste Decke, unterdrücke mit Mühe ein Niesen und erhebe mich wankend von der Couch. Auf einmal packt mich die Neugierde. Ob die Laterne vor dem Haus wohl noch brennt? Eine Hand lege ich auf den stählernen, frostblauen Türgriff, mit der anderen kratze ich eine schmerzende Stelle an meinem Kopf. Das Büschel Haare, welches an meinen Fingern haften bleibt, streife ich an der Hose ab und frage mich, ob ich das Feuer unbeaufsichtigt weiterbrennen lassen kann, während ich schlafe.
Auf der Schwelle gleitet mein Blick zu der Laterne, und wirklich, sie brennt, zeichnet Neonringe in meine glänzenden Pupillen. Ich trete näher an sie heran, bis ich vollständig von dem schwachen Schimmer umhüllt bin, welcher tatsächlich den Weg durch den Nebel hinunter auf den Asphalt geschafft hat. Die Stille fasziniert mich, sie ist so rasant, so unendlich, dass sie in meine Zunge schneidet und durch meinen Schädel schellt. Die Sprache hat ihre Schuldigkeit getan. Ich habe mit fairen Mitteln gekämpft und gesiegt.
Jetzt brauche ich sie nicht mehr.
Meine durchgefrorene Decke rutscht mir von den Schultern und verursacht angenehmes Schneeknistern, als sie neben meinen Füßen auf dem Boden ankommt.
Ich strecke die Arme aus, lege sie um die Laterne, drücke mich fest an sie heran und schließe die Augen. So stehe ich da und spüre, wie die Schneeflocken auf meinem Hinterkopf eine Haube bauen, ich nehme an, sie erinnert an eine umgedrehte Teeschale. Da vergesse ich plötzlich, ob es denn wirklich eine Laterne ist, die da leuchtete, oder nicht etwa der Mond, der die Sonne abgelöst und seinerseits die Aufsicht über die Erde übernommen hat. Und der Mast - ist das mein Weg in die Finsternis der Erlösung, mein Weg
direkt nach oben, zum Mond? Ich bin bereit für diesen Weg, bereit für neuen Kampf - diesmal ohne Sprache. Innerlich schwer und dennoch beinahe losgelöst, beinahe erschöpft strecke ich meine Zunge aus. Ich darf auf keinen Fall vergessen, meine Mutter an Ostern zu besuchen!
Ganz langsam, doch entschieden, nicht zögerlich, nur langsam, drückt sich die Zunge an die fleckige Stahlverkleidung der Laterne.
Ein wunderschönes Weihnachten.
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