Wenn zwei sich streiten ...
© Franz Nikolaus Bäcker
Der liebe Gott saß vor einem offenen Kaminfeuer und starrte in die wärmenden Flammen. Ab und zu paffte er genüsslich an seiner langen Meerschaumpfeife und entließ silberne Rauchringe aus seinem Mund. Es war Adventszeit und er war zufrieden. Der Tag der Ankunft seines Sohnes würde bald unter den Menschen gefeiert werden, und höchst verzückt dachte er an all die glücklichen Kindergesichter mit ihren großen glänzenden Augen.
Auch die Engel bereiteten sich schon auf das Fest vor. Die himmlischen Backstuben hatten Hochbetrieb und überall wurde eifrig das Feuer geschürt, sodass der Abendhimmel einen purpurroten Mantel über die Erde legte. Die Großmütter nahmen ihre Enkel beiseite, zeigten in den Himmel und kündigten an, dass es nun nurmehr wenige Tage bis zum heiligen Abend seien, weil die Engel schon fleißig leckere Weihnachtsbäckereien buken.
Im ganzen Himmel roch es verführerisch nach Vanillekipferl, Lebkuchen und Zimtstangen. Dem lieben Gott lief das Wasser im Mund zusammen und er überlegte, ob er nicht ein wenig nach dem Rechten schauen sollte. Vielleicht würde die eine oder andere Kostprobe für ihn abfallen. Als er schon seine angewärmten Fußsohlen in die Sandalen stecken und losgehen wollte, hörte er in der Vorhalle Gezeter und Geschrei. Zwei Stimmen stritten und diskutierten lautstark und der liebe Gott ärgerte sich über diese Ungehörigkeit
in der so friedlichen Adventszeit. Es klopfte an der schweren Eichentür und Gott forderte die Zankenden mürrisch zum Eintreten auf. Da staunte er aber nicht schlecht, als sich die beiden vor seinem Sofa aufstellten und auch gleich wieder zu streiten begannen. Sie redeten wild durcheinander, ohne auch nur dem anderen Beachtung schenken zu wollen. Sie schnatterten und erhoben drohend ihre Zeigefinger. Sie zeigten sich die Zungen und als sie sich gegenseitig auf die Füße traten, wurde es Gott zu bunt. Gerade von
diesen beiden hätte er sich so etwas nicht gedacht und da seine sonst so warme und gütige Stimme nicht gehört wurde, ließ er ein Donnerwetter los, bis das Firmament in seinen Grundfesten wackelte. Sogleich war es mucksmäuschenstill. Die Engel hielten erschrocken inne und ihre Flügelfedern erzitterten. Dann schüttelten sie peinlich berührt ihre goldgelockten Köpfchen, denn alle wussten von dem schon einige Tage andauernden Streit des Weihnachtsmannes mit dem Christkind und waren nun froh, dass sich der Allmächtige
selbst um die Sache annahm.
Der liebe Gott polterte: "Gerade ihr zwei macht hier so einen Radau! Der Weihnachtsmann und das Christkind streiten sich wie Hund und Katz. Was soll sich die Welt nur denken? Ihr zwei seid meine wichtigsten Helfer in dieser heiligen Zeit und solltet einträchtig miteinander eure Arbeit erledigen. Die Briefe gehören eingesammelt, die Geschenke müssen eingepackt und sortiert werden. Die Rentiere sollten in den Stall gebracht und gestriegelt werden und der Schlitten gehört überholt. Die Sternschnuppen müssen
ausgesucht und poliert werden. Es gibt so viel zu tun und ihr streitet? Millionen von Kindern warten auf den schönsten Tag im Jahr und ihr verplempert eure Zeit. Was ist nur in euch gefahren?"
Zornige Falten legten sich über Gottes Stirn und seine Augen funkelten. Das hatte aber gesessen. Die beiden starrten mit gesenktem Haupt auf ihre Schuhspitzen.
"Also, will mir jetzt einer sagen, worum es denn eigentlich geht?", fragte Gott ungeduldig.
Das Christkind fasste sich als erstes ein Herz, denn der liebe Gott war sein Taufpate und hatte ihm noch nie einen Wunsch abgeschlagen. Kleinlaut mit trotzigem Stimmchen eröffnete sie dem Himmelsvater, dass es bei ihrem Streit darum ging, wer wohl von den beiden mehr Kinder zu Weihnachten erreichen würde. Jeder beanspruchte für sich, die unangefochtene Nummer eins am Heiligen Abend zu sein. Jeder schätzte sich in der Gunst der Kinder höher als der andere ein. Als das Christkind meinte, von der Spitze jedes Weihnachtsbaumes
strahlen zu dürfen und von den Kindern im Wald hinter jedem Baum erwartet werden würde, stiegen die Wogen abermals hoch. Der Weihnachtsmann wies aufgeregt auf die unzähligen Strümpfe hin, die vor den gesäuberten Kaminen bereit hingen und auf die vielen Kinder, die ihn und sein Rentier Rudolph auf dem Schlitten herbeiwünschten.
Der Himmelsvater lehnte sich nach einer Weile des Zuhörens in sein Sofa zurück und schmunzelte verschmitzt in sich hinein, denn er erkannte, dass die beiden von einem kindlichen Wetteifer angesteckt waren. Beide verfolgten das gleiche ehrenhafte Ziel, nämlich Kinder glücklich zu machen. Er zog an seiner Pfeife und überlegte, wie er dieses Problem lösen konnte. Da fiel ihm der Brief ein, den das Waisenkind Sophie letzte Woche an ihre Eltern geschrieben hatte, die beide nun im Himmel als Schutzengel fungierten
und ihn in dieser Angelegenheit um Rat baten. Er kramte das Papier aus seiner Hosentasche und las vor:
"Liebe Mutter, lieber Vater! Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Ich kann mich zwar nicht mehr an alles in unseren gemeinsamen Weihnachten erinnern, da ich noch zu klein war, aber was ich genau weiß, ist, dass am Heiligen Abend das Christkind zu uns kam und mir meine Geschenke brachte. Tage zuvor fand ich eine goldene Haarsträhne und du, liebe Mutter, hast mir erklärt, dass es das Christkind verloren haben muss, als es meinen Brief abholte. Jetzt bei meiner neuen Familie reden alle nur vom Weihnachtsmann.
Da mir dieser Gedanke fremd ist, will ich gar nicht mehr Weihnachten feiern. Ich werde in der Nacht zum 24. Dezember auf meinen Lieblingsbaum klettern, dort wo ich immer stundenlang sitze, eure Sterne bewundere und mit euch plaudere, und auf ein Zeichen von euch warte. Bitte lasst mich nicht im Stich. Eure geliebte Tochter Sophie."
Gott steckte denn Brief wieder weg und entschied: "Wer von euch zweien dieses Mädchen überzeugen kann, wird in Zukunft die Leitung über Weihnachten von mir übertragen bekommen." Damit entließ er die beiden, wandte sich wieder dem wohligen Kaminfeuer zu und lächelte weise.
Und wie es immer war und immer sein wird, wurde der Heilige Abend von allen mit großer Ungeduld erwartet. Der Weihnachtsmann trieb untertags bauschige Schneewolken von Norden her und ließ die Landschaft in eine dicke Schneedecke einhüllen, damit die Kinder beim Rodeln und Schneemannbauen ihre Ablenkung fanden. Das Christkind vertrieb die Wolken abends wieder und ließ das Himmelszelt in all seiner Pracht erstrahlen. Die schönsten Sterne glänzen am Firmament und erhellten festlich die Nacht.
Sophie saß dick eingemummt auf ihrem Baum und guckte erwartungsvoll in die Höhe. In der Ferne bemerkte sie staunend einen winzigen roten Punkt. Zuerst dachte sie an einen roten Stern, bis dieser Punkt immer größer wurde und auf sie zukam. Das Bimmeln einer Glocke wurde lauter und lauter. Aufgeregt erkannte sie einen Schlitten, der von neun Rentieren mit rasanter Geschwindigkeit durch die Lüfte gezogen wurde und auf sie zuraste. Der rote Punkt war Rudolphs leuchtende Nase. Der Weihnachtsmann saß auf dem Kutschbock,
zog mit einem lauten "Hoho!" an den Zügeln und der Schlitten parkte auf der schneebedeckten Wiese vor ihrem Baum. Die Rentiere schnaubten und scharrten mit ihren Hufen voller Tatendrang. Der Weihnachtsmann stieg ab und klopfte sich den Schnee von seiner roten Jacke. Da er die Enttäuschung im Gesicht des Mädchens erkannte, tat er gleich, was er am besten konnte: Kinderherzen Freude schenken. Er zog einen großen schweren Sack vom Schlitten, setzte ihn ächzend ab und band ihn auf. "Du heißt Sophie,
nicht wahr! Wollen wir doch mal sehen, was ich für dich mitgebracht habe." Der Bärtige kramte und suchte - und wusste so die Neugierde der Kleinen zu schüren, deren Hals immer länger wurde. "Ja, wo habe ich es denn. Ah, hier ist es!" Er zog ein großes Paket in grünem Seidenpapier mit silbernen Schleifchen heraus.
Das Mädchen bekam nun große Augen und stammelte: "Aber ich habe immer geglaubt ..." Plötzlich wurde die Umgebung in grelles Licht getaucht und das Christkind glitt auf einer Sternschnuppe zu Boden, die sofort wieder losschwebte und mit einem wahren Goldregen den Horizont schmückte. Das Christkind hatte sein goldenes Haar in schönste Locken gelegt und das beste Kleidchen angezogen. In der rechten Hand hielt es ein rotes Geschenkspaket in die Höhe und rief. "Das habe ich dir mitgebracht!" In
Sophie wurden Erinnerungen wach, die ihr Herz wild pochen ließen. Ihr Blick wanderte aber unsicher zwischen den beiden weihnachtlichen Besuchern hin und her. Der Weihnachtsmann sah schon seine Felle davon schwimmen und versuchte es anders herum. Da ihm die große Tierliebe des Mädchens bekannt war, sprach er wie zu sich selbst. "Schade! Rudolph hatte sich schon so darauf gefreut, mit dir Bekanntschaft zu machen und dich auf seinem weichen Rücken durch die Lüfte tragen zu dürfen." Rudolph hob und senkte
seinen geweihten Kopf und seine rote Nase begann stärker zu glühen. Sophie war begeistert: "Ja, das wäre wunderschön! Darf ich ihn einmal streicheln?"
"Aber natürlich! Komm herunter und kraule ihn an seiner weißen Blesse. Das hat er besonders gern." Das Mädchen kletterte geschwind von Ast zu Ast und das Christkind überlegte, wie es ihre Aufmerksamkeit zurückgewinnen konnte. Ein lautes Knacken durchbrach die idyllische Stille und die Rentiere schreckten auf. Ein Ast war gebrochen und Sophie fiel mit einem Schrei zu Boden. Gott sei Dank hatte der weiche Schnee ihren Aufprall abgefangen. Der Weihnachtsmann und das Christkind schauten sich wie gelähmt
einen Moment lang an und stürzten dann zu der Verletzten herbei, die sich jammernd den Fußknöchel hielt. "Au weh, ich habe mir den Fuß verstaucht. Es tut so weh!" Der Weihnachtmann zog rasch seine Jacke aus und bettete ihren Kopf darauf. Das Christkind untersuchte die Kleine, ob auch nichts gebrochen war. Da der Erste-Hilfe-Kurs des Weihnachtsmannes schon so lange zurück lag, vertraute er den medizinischen Kenntnissen des Christkindes, das ihn zum Schlitten um den Pannenkoffer schickte. Die heilige
Sanitäterin berührte Sophies Knöchel und linderte damit sogleich ihre Schmerzen. Gemeinsam legten sie der Kleinen einen Verband um und waren sich einig, dass die Verunglückte sofort nach Hause in ihr Bettchen gebracht werden musste. Der Weihnachtsmann hob die Kleine hoch und legte sie behutsam hinten auf den Schlitten. Das Christkind nahm neben ihr Platz und beruhigte sie: "Morgen wird alles wieder gut sein!" Sophie traten die Tränen in die Augen: "Es tut mir so Leid, liebes Christkind, dass ich
euch solche Umstände am Weihnachtsabend mache." Die Kleine rührte an ihrem Herz und unvermittelt fiel es dem Christkind wie Schuppen von den Augen: "Nichts braucht dir Leid zu tun. Wir müssen uns bei dir und bei allen anderen für unseren eitlen Hochmut entschuldigen." Damit sah sie traurig den Weihnachtsmann an, der auf seinem Kutschbock nur schuldbewusst nickte und sich verlegen räusperte. Er gab schnell einige Daten in sein GPS-Gerät auf dem Armaturenbrett ein und rief: "Jetzt aber los.
Rudolph, Comet, Dasher, zeigt, was ihr noch Peitsche knallen und geschwind erhoben sie sich in die Lüfte.
Als Sophie in ihrem Bett verstaut war, ging es ihr schon wieder besser und schüchtern fragte sie ihre beiden Retter: "Liebes Christkind, lieber Weihnachtsmann, darf ich mir etwas wünschen?" Die beiden nickten einhellig. "Ich wünsche mir, dass ihr nächstes Jahr wieder kommt - gemeinsam! Denn Weihnachten braucht euch beide, um zu einem schönen Fest zu werden." Mit wässrigen Augen versprachen sie hoch und heilig ihren Wunsch erfüllen zu wollen und verabschiedeten sich herzlich.
Am Kutschbock saßen sie nun nebeneinander - das Christkind und der Weihnachtsmann. Sie wussten, dass sie sich sputen mussten, um auch noch allen anderen Kindern ein frohes Weihnachtsfest zu bereiten. Übereinstimmend kamen sie zu der Einsicht, es nur gemeinsam schaffen zu können und in ihrem geschäftigen Werken bemerkten sie, welch eingespieltes und untrennbares Team sie doch waren.
Sophie wachte am nächsten Morgen auf und meinte, das alles nur geträumt zu haben, bis sie den Verband an ihrem Knöchel bemerkte, der mit einem goldenen Schleifchen zugebunden war. Und vor ihrem Bett standen ein rotes und ein grünes Geschenkspaket.
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