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Der Weihnachtsmörder© Christian KlingerDer Chor steckte seine Köpfe eng zusammen. Die Münder verschmolzen zu einem gemeinschaftlichen Vokal: ooohhh - oh du fröhliche... Jeffrey trat auf die Straße, wich dem sozial engagierten Menschenbündel aus. Er hasste Sentimentalitäten, noch dazu wenn sie mit Wohtätigkeitsgetue gepaart waren. Schnellen Fußes setzte er über die Straße. Unter seinen wuchtigen Schritten klang der gefrorene Schnee wie zerbröselndes Knäckebrot. "Verzeihen Sie, darf ich Sie ..." Eine dieser Bet-, Sing- und Bittschwestern war ihm nachgelaufen. "Ach, rutschen Sie mir doch den ..." Er verbiss sich den Rest des Satzes. Vielleicht aus Respekt vor vermeintlicher Selbstlosigkeit. Vielleicht wurde er aber auch nur einfach alt. Nein, er wurde es nicht, er war es geworden: Alt und verbittert. Außerdem ärgerte er sich, weil er sich hatte breitschlagen lassen, diesen Auftrag noch anzunehmen. Er hatte vorgehabt, den morgigen Weihnachtstag im Kreis seiner Liebsten zu verbringen: Bourbon und Tequila. Am Abend, wenn die anderen vor wechselseitiger Wärme und Zuneigung verschmolzen, würde er sturzbesoffen die Wände unter seinem Schnarchen zum Wackeln bringen. Er bog in die Jackson-Street. Noch immer hatte er ihr Bild vor Augen, als sie ihn mit lasziver Stimme, die Augenlider wie zwei Rollläden halb herunter geklappt, danach gefragt hatte, ob er noch schnell vor Heiligabend einen Auftrag für sie erledigen würde. Im schwachen Licht seines schmuddeligen Lusters hatte ihr blondes Haar geleuchtet wie ein Kornfeld in der Augustsonne. Hüte dich vor Blondinen! Er überlegte, ob er diese Warnung Humphrey Bogart oder James Cagney zuschreiben sollte. Egal. Genau wegen solcher Blondinen war er Privatdetektiv geworden, hatte sein Leben lang darauf gewartet, dass eine solche Person sein Büro betreten würde. Verruchte Wünsche bei ihm auslösen würde, so wie eben. Ihn um Feuer bitten würde, so wie eben. Dabei war der Schlitz ihrer gut bestückten Bluse, als sie sich zu ihm vor beugte, so weit hinunter gerutscht, dass er praktisch keine Chance hatte, den Auftrag abzulehnen. Er war sozusagen hilflos. Was für ein schwachsinniger Auftrag! "Na Jeffrey, zählst du mittlerweile illustre Persönlichkeiten zu deiner Klientel?" "Ich wüsste nicht, was dich das angeht, du alter Sack!" "Moment, pass auf, dass du nicht die Uniform beleidigst!" "Ich beleidige nicht die Uniform, sondern den Idioten, der darin steckt. Wie geht's dir überhaupt. Lange nicht gesehen." Morton war Streifenpolizist, einer der längst dienenden. So gut wie keine Beförderung, immer auf der Straße. Seit fast dreißig Jahren. In einer kleinen Stadt wie Picket Town hatte es sich schnell herum gesprochen, wenn eine hübsche junge Frau einen zerknitterten Privatschnüffler wie Jeffrey Lubowitsch engagierte. "Mir geht's gut, aber die Frage ist, wie es dir geht. Du solltest den Auftrag nicht annehmen." "Warum? Ist die Frau gefährlich?" "Ich weiß nicht, man kennt sie nicht, sie ist erst vor kurzem hierher gezogen. Aber sie wohnt im Crimson-Haus. Mehr kann ich dir nicht sagen." Hüte dich vor Blondinen! Warum wollte dieser Satz nicht mehr aus seinem Kopf verschwinden? Jeffrey spielte die Warnung mit einer abfälligen Handbewegung herab. Dann verabschiedeten sie sich. Dazu reichte ein kurzer Blick. Zwei wortkarge alte Wölfe, allein in der Nacht. Die wechselseitigen Sticheleien waren nur Ausdruck einer gegenseitigen Achtung, die nun schon seit Jahren bestand. In einer kleinen Stadt wie Picket Town war es normal, dass sich die, die auf der gleichen Seite standen, irgendwann über den Weg liefen. Alles eine Frage der Zeit. So wie auch das Erscheinen des blonden Vollweibes, auf das er sein Lebtag lang gewartet hatte. Warum nur musste sie jetzt erst erscheinen, jetzt am Ende seiner Karriere, da ihn das Leben bereits ausgelutscht hatte? Nachdem er in seiner schäbigen Bleibe angelangt war, goss er sich eine doppelte Portion doppelten Whiskeys ein. Was für eine tolle Frau und was für ein schwachsinniger Auftrag! Am nächsten Morgen machte er sich auf zum Crimson Haus. Er hatte am Vorabend noch die Flasche geleert. Für ihn bereits ein Stück Weihnachten. Seine Vorfreude. In seinem Hirn dröhnte es. Ein Surren wie von einem Starkstromtransformator. Er hatte das Haus bald erreicht. In einer Kleinstadt wie Picket Town war jeder Punkt bald erreicht. Das Gebäude stand in einer Allee, die von Bäumen gesäumt war. Deren kahle Äste waren mit bunten Lichterketten behangen. Die Häuser waren ebenfalls in ein schillerndes Farbenmeer getaucht. Einzig das Crimson Haus stach aus der Reihe der glitzernden und funkelnden, beinah schrillen Lichtspiele heraus, mit seinem einfachen Schmuck, der aus Tannenzweigen, Misteln und weißen Kerzen bestand. In dieser Schlichtheit, mit dieser vollkommenen Reinheit, fern von Kitsch und Kommerz, erinnerte das Haus Jeffrey Lubowitsch an die europäische Tradition, Weihnachten zu feiern. So hatte sein Vater ihr Heim in Polen geschmückt. Jeffrey fühlte sich zu dem Haus hingezogen. Magie knisterte bereits am Portal, als er den Türklopfer gegen die Eichentüre schlug. Umwerfend, das war das einzige Wort, das ihrem Anblick gerecht wurde, als sie die Tür öffnete. Ein Morgenmantel aus Satin umhüllte ihren Körper. Bodenlange Falten zogen ihre Bahn figurbetont entlang. Darunter weiße Spitze. Jeffrey rieb seine Fingerspitzen am Handballen. Eine Geste aus Kindertagen, lange nicht mehr geübt. Er war auch lange nicht mehr nervös gewesen. In dem Haus und in ihrer Gesellschaft war er ein kleines Kind. Sie lächelte: "Sie wissen, was Sie zu tun haben?" "Wo soll ich anfangen?" "Wo immer Sie wollen, Hauptsache, Sie werden bald fündig." Sie reichte ihm einen Drink. Er leerte ihn in einem Zug. Dann betrat er den Salon und begann den ersten Kasten zu durchsuchen. Was für ein seltsamer Auftrag, hier in dem Riesenhaus eine spezielle Christbaumkugel zu suchen. Warum er nur nicht nein gesagt hatte! Er konnte nicht. Schon ihretwegen. Aber nicht nur. Da war noch etwas: Sie hatte ihm gestern die Kugel beschrieben. Dabei war ihm ein Schauer über den Rücken gelaufen. So eine Kugel hatte auf dem Baum bei seinen Eltern gehangen. Ein Zufall? Vielleicht. Er kramte sich durch Kisten voll mit Weihnachtsdekoration. Ohne Ergebnis. Je länger er suchte, desto stärker keimte ein Gefühl in ihm: er war beseelt von dem Wunsch, endlich die Kugel in Händen zu halten. Sie war seine Kindheit, sein Glück. Er türmte die Kisten im Zimmer auf. Noch eine und noch eine. Der Kasten schien ein schwarzes Loch zu sein, dem er nun nach und nach Materie entriss. Er musste sich tief hineinbeugen, damit er die hinteren Schachteln erreichte. Plötzlich verlor er das Gleichgewicht, kippte vornüber in den Kasten, der ihn nun verschlang. Finster. Jeffrey kniff die Augen zusammen. Er sah einen schwachen Lichtschimmer. Er bewegte sich in dessen Richtung. Das Licht wurde heller, er konnte erste Umrisse verschiedener Gegenstände ausmachen. Das Licht kam von den Kerzen eines Christbaumes. Seines Christbaumes. Er erkannte die Blecheisenbahn, mit der er als Kind gespielt hatte, vermeinte den Duft auszumachen, der aus Mutters Küche gedrungen war, wenn sie Kekse gebacken hatte. Da waren die Geschenke, die er bekommen hatte, als er noch an das Christkind glaubte. Er sah sich wieder in Flanellhosen, spürte ihr Kratzen an den Oberschenkeln, trug sie dennoch, weil sich seine Mutter darüber freute. Genau wie über das weiße Hemdchen mit dem gestärkten Kragen, der ihm den Hals zuschnürte. Er schluckte. Dann begann er zu spielen wie ein Kind. Wie das Kind aus jenen fernen Tagen. Eine seltsame Veränderung setzte ein. Je jünger er im Geiste wurde, desto stärker schien sein Körper zu altern. Seine Finger wurden lang und knöchern. Seine Haut klebte schwach und fleckig daran. Im Gesicht war ihm ein langer, weißer Bart gewachsen. Plötzlich durchflutete ein Lichtblitz den Raum. Sie stand vor ihm. Engelsgleich. Die am Vortag ausgestrahlte Erotik war einer weißen Unschuld gewichen. Ihr Haar bestand aus Myriaden kleiner funkelnder Sterne und ihre Stimme war Seide, als sie sagte: "Ich habe dich auserwählt und werde dich belohnen. Du darfst mir heute helfen, die Kinder dieser Welt glücklich zu machen. Sie streifte ihm ein purpurnes Gewand aus schwerem Brokat über. Dann fasste sie ihn und erhob sich mit ihm in die Lüfte. Er lachte: "Ho, ho, ho!"
Als Morton am nächsten Morgen zu einem Einsatz gerufen wurde, hatte er ein ungutes Gefühl. Dieses Gefühl fand seine Bestätigung beim Anblick des vertrauten Gesichts. Man hatte Jeffreys Leiche am Morgen gefunden. Ich hab dich doch gewarnt, du alter Narr, dachte der Polizist. Der Weihnachtsmörder hatte zugeschlagen. Wie in den letzten Jahren war am Weihnachtstag der tote Körper eines älteren, alleinstehenden Mannes gefunden worden. Immer bei diesem verfluchten Haus, und immer waren die Mieter, hübsche, junge Frauen, bereits verzogen, mit unbekannter Anschrift. Bis die nächste kam, und bis das nächste Weihnachtsfest kam. Morton wusste, dass er hier nicht lange zu tun haben würde. Denn der Arzt würde die Sache zu einem schnellen Ende bringen. Niemals wurde eine Ermittlung eingeleitet, denn alle Opfer waren bislang eines natürlichen Todes gestorben, keine Fremdeinwirkung feststellbar. Daher wurde die Sache von den Behörden auch totgeschwiegen. Mit Befehl von oben. Man wollte die Bevölkerung nicht verunsichern. Auch bei Jeffrey deutete nichts auf ein gewaltsames Einwirken hin. Morton betrachtete die Gesichtszüge des Toten. Sein Blick wanderte die vielen Falten entlang, die in diesem Gesicht lagen, wie kleine ausgetrocknete Bachbette in einer karstigen Landschaft. Jeffrey sah entspannt aus, strahlte Ruhe und Geborgenheit aus. Ein Kind, das nun endlich wieder die Liebe spürte. Wäre er jünger, er würde auf die Weisung von oben pfeifen, würde hier alles abriegeln, das Haus auf den Kopf stellen und dessen Mieter jagen. So lange jagen, bis die Tode gesühnt waren. Doch er fühlte sich zu verbraucht, hatte keinen Biss, die Sache durchzuziehen. Er war wie Jeffrey.
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