Unser Buchtipp Weihnachtsgeschichten

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Eingereicht am
04. März 2007

Das Mädchen und der Stern

© Heiko Liepert

Es brausen Schneeflocken durch die Gassen und wehen wie seidene Schleier schimmernd im Mond- und Laternenschein. Die schwarzen Straßen sind still, nur gelegentlich verliert sich ein Auto zu dieser Stunde noch in diese Stadt. Alles klingt so gedämmt, fast dumpf, doch wer hört schon zu? Wer fühlt schon die Kälte, sieht Wehungen tanzen? Zu dieser Stund. Die Gassen und Boulevards sind Menschenleer, wie sie es zu keiner Zeit des Jahres sind.

Gestern noch waren sie wohlig reich gefüllt, voller Bewegung und Hitze. Die Menschen aber haben sich heute Abend zusammengefunden oder sitzen allein, aber drinnen. Auf den Bürgersteigen verschwinden nach und nach die letzten Spuren im Schnee, der Wind wischt sie weg. Der Winter in seinem Ordnungsdrang muss den Schmutz kehren und seine Macht ist groß. Die Bäume stehen kahl und schwarz schattenwerfend. Majestätisch und furchteinflößend schmücken die den Park und wachen über die Ränder der Straßen. Kein Mucks, nie ist es so still und eine Laterne flackert ihr Licht stoßweise auf den Grund, sie formt Schatten. Die Lampe ist alt und krumm, bald, wenn die Kälte vorüber ist, dann wird sie sicherlich ausgewechselt. Dennoch wirft sie ein kleines Stück Tag in die Nacht, so gut sie noch kann. Niemand will heute draußen sein, selbst die Tiere haben sich größtenteils verkrochen. Trotzdem kann man auf dem Trottoir, wenn man genau hinschaut, Spuren entdecken, damit seien nicht die Krähenfüße gemeint, auch nicht die Pfoten eines flüchtigen Fuchses, nein, da sind Menschenfüße. Sie sind nicht groß, eher vergleichbar mit Kinderfüßen. Und tatsächlich. Da irrt doch eine kleine, dunkle Gestalt durch die einsame Nacht. Der Mantel ist an einem Ende eingerissen, doch die Kapuze schützt noch gut. Eis hat sich schon auf dem Stoff gebildet. Die Schühchen haben Löcher und Lumpen wärmen die Beine, die Hände sind in Stoffe gewickelt. Es ist ein junges Mädchen und sie hat sich unter dieser flackernden Laterne gehockt und harrt. Es sucht einen Unterschlupf, doch wer nimmt sich ihrer an? Niemand mehr ist draußen, sie irrt allein. Die Kälte ist erbarmungslos und der Winter kehrt alles von den Straßen, alles was er anfindet, ohne Unterschied oder Erbarmen. Sie blickt um sich mit ihrem rot fröstelnden Gesicht und stockt für eine Sekunde. Sie merkt, dass sie dort nicht hocken bleiben kann. Dann steht das Mädchen langsam wieder auf und rennt zu einem leuchtenden Fenster, von denen es zu dieser Stund mannigfache gibt. Sie muss sich strecken, damit sie etwas darin sehen kann. Ihr Atem lässt das Glas beschlagen und so nimmt er ihr ständig die Sicht, welche nur durch kräftiges Wischen wieder herzustellen ist. Ein Staunen fährt über ihre blaulilanen Lippen. Ihre Augen funkeln, die Nase ist an die Scheibe gedrückt. Eine Träne rollt lauwarm über ihre Wange. Zwei Kinder sitzen am Weihnachtsbaum und haben Spielsachen in ihren Händen. Man kann hören, dass der Plattenspieler Musik erklingen lässt, ganz seicht und besinnlich. Der Baum ist prachtvoll. Tausend Farben von Gold bis Rot, Orange, Violett und Gelb bis Blau, Grün und Silber. Es funkeln Lichter daran und Lametta ziert die Zweige wie im Scheine blitzender Schnee. Da ist ein Tisch und darauf dampfen gefüllte Schüsseln und Teller. Das Mädchen spürt diesen Duft, der in diesem Zimmer sein muss, und atmet die Vorstellung davon tief ein. Die Mutter und der Vater decken den Tisch noch weiter auf mit mancher Leckerei und die Großmutter sitzt bereits auf ihrem Platz, scheint der Musik zu lauschen, während sie den spielenden Kindern zuschaut. Ein Himmelszenario für das kleine Mädchen mitten in einer kalten und einsamen Stadt. Lange noch beobachtet sie die Familie und stellt sich vor, daran teilzuhaben. Die Vorstellung wärmt ihr Herz und sie merkt gar nicht, dass der Wind mittlerweile völlig abgeflaut ist. Der Schnee hat sich gebettet und alles eingehüllt. Der Grund unter dem Tannenbaum ist mit bunten Geschenken geschwängert und es gibt Bescherung. Freudestrahlend öffnen die Kinder in tiefster Erwartung und Spannung Paket nach Paket und die Erwachsenen reichen sich ganz besonnen ihre kleinen Präsente. Das Mädchen, welches so sehnsüchtig am Fenster steht und hindurchschaut, stellt sich vor, auch einmal beschenkt zu werden, wie schön muss das Gefühl sein, was für ein Freudentag ist Weihnachten. Nach der Bescherung verdunkeln sich die Lichter und das Schauspiel ist vorüber. Nun wird es ihr wieder kälter und ihr fällt ein, doch noch einen Unterschlupf finden zu müssen. Ihre Füße wollen nicht so recht, wie sie es will. Vom dauerhaften Stehen sind sie wie festgefroren und es ist ihr anzumerken, dass sie geschwächt ist. Sie geht zum Park und dort hinein. Da findet sie eine ganz geschützte Sitzbank und daneben ein Papierkorb, worin mehrere Zeitungen liegen. Sie lächelt und ist erfreut, welch ein Glück sie doch heute habe. So nimmt sie das Papier aus dem Eimer, wischt mit einem Titelblatt den Schnee von der Sitzfläche und legt mit den anderen Seiten eine Decke zum liegen aus. Als sie damit fertig ist, will sie schlafen, ihr Arm ist ihr Kissen und ihre Augen wandeln über den klaren Himmel von Stern zu Stern zu Stern. Überwältigend. Ihre Augen werden groß, als eine Sternschnuppe ihre letzte Bahn über das Firmament zieht. Es ist ein kurzer Moment, aber dieser goldene Schweif zeugt von Größe und übernatürlicher Schönheit. Sie wünscht sich einmal auf dem Rücken eines Sternes zu fliegen durch das gesamte All. So lodert in ihrem Herzen wieder ein winziges Feuer, welches mühevoll geschürt und nur mit Wenigem zu nähren ist. Sich daran labend, beschließt sie zu schlafen. Aber dazu soll es nicht kommen. Das arme und einsame Mädchen fährt hoch, vom Schreck getrieben.

Irgendwas passiert, denkt sie. Und tatsächlich. Es wird heller und heller.

Der Schnee um sie herum beginnt zu schmelzen, auch ihr wird ganz warm, fast schon heiß. Dann hört sie eine alte weibliche Stimme, vernarbt durch die Zeit und geglättet durch die Erfahrung: "Ich bin ein einsamer und kleiner Stern. Viel zu klein, als dass ein Mensch mich je am nächtlichen Himmel bewundern würde. Dein Wunsch war nicht zu überhören, kleines Mädchen, aber ich kann ihn dir nicht erfüllen. Selbst ich, als der schwächste unter den Sternen würde dich, wenn ich dich noch tragen könnte, verbrennen. Meine Kraft ist aber nun mal am Ende, sie lässt es sowieso nicht mehr zu, dass ich je wieder nach Hause fliegen kann. Ich habe Angst zu verglühen, doch ist es unumgänglich. So habe ich beschlossen, wenn ich schon deinen seligsten Wunsch nicht zu erfüllen vermag, dann werde ich dir eben meine Wärme schenken, alle Wärme die ich noch habe, soll dir gehören, bis nichts mehr davon ist." Und so geschieht es auch. Der kleine Stern sinkt zu dem Mädchen nieder und zur Bank, sodass es gewärmt wird, wie es der beste Ofen nicht kann. Das Eis schmilzt auf ihren Kleidern und zugleich trocknen die Stoffen wie von Wunderhand. Das Licht sieht ihr einzigartig aus, so rein und unbefleckt, wie nur Wasser noch aussieht, wenn es gerade aus der Quelle springt. Aber immer dunkler wird es mit der Zeit und das Sternlein immer kleiner und kleiner und schwächer. "So, meine kleine Freundin, ich habe dir all meine Wärme gegeben und gleich wird nichts mehr von mir übrig sein als Staub und ein kleiner Stein. Nehme diesen Stein, er ist meine Seele und du sollst mit ihm nie mehr an Kälte leiden." Danach erlischt das Licht, ganz leise. Wie Goldstaub rieselt es hinab gen Boden und der Stein plumpst direkt in die Hände des Mädchens. Nein, es ist nicht zu glauben, was da passiert ist und doch war es wahrhaftig. Keine größere Wahrheit kennt sie nun, als das, was da eben mit ihr geschah. Der Stein in ihrer Hand, ganz unspektakulär. Er sieht aus, wie jeder andere Stein auch, nichts Besonderes ist an ihm. Weder funkelt er, noch schimmert oder glänzt er, noch ist er gleichförmig oder glatt. Dennoch geht ein Zauber von ihm aus, wie es der Stern geheißen, als er starb. Nun rollen dicke Tränen über das schmale Gesicht des kleinen Mädchens, sie weint bitterlich, um den Tod ihres Freundes, der sich ihrer Not annahm und sein Letztes opferte.

Die alte Laterne spuckt weiter ihre Lichtfetzen gen Boden. Der Wind ist nun flau und kaum zu merken, der Schnee liegt schwer auf der Erde, eine weiche Nachtdecke aus Schimmer und Glanz. Der Mond schaut lächelnd auf die Erde, wie ein gütiger Vater. Da läuft doch wieder eine Gestalt durch einsame Gassen. Wieder ein kleiner Mensch in Lumpen. Er hockt nieder unter dem Schein der alten Laterne und harrt dort. Man hört in schluchzen und jede Träne friert bitterlich an seiner Haut. Dies merkt das kleine Mädchen, welche diese kleine erbärmliche Gestalt beobachtet. Sie verlässt ihren Schlafplatz und macht sich auf dem Weg, auf dem Weg zur dunklen Gestalt im flackernden Licht. Diese entpuppt sich als ein kleiner Junge. Er trägt das gleiche Schicksal, wie das Mädchen. Er hat kein Zuhause und kein Obdach. Und das Mädchen nimmt sich seiner an, hockt sich neben ihn und gibt ihm ab von ihrer nun endlosen Wärme, die ihr der alte Stern vermachte, als seine unscheinbare Seele.

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