Unser Buchtipp Weihnachtsgeschichten

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Eingereicht am
12. März 2007

Der Griesgram

© Manuela Kindler

In unserer Stadt, drei Straßen von hier, lebt ein alter Mann. Jedes Jahr in der Adventszeit verkauft er Weihnachtsbäume in seinem Garten. Seit vielen Jahren kaufe ich die Bäume bei ihm und sage allen Verwandten und Bekannten, dass auch sie ihre Bäume beim alten Herrn Leonhardt besorgen sollen. Er verkauft sie billiger als alle anderen Weihnachtsbaumverkäufer und seine Bäume sind auch viel grüner und gerader als woanders.

Vorgestern habe ich wieder einmal einen Weihnachtsbaum bei Herrn Leonhardt gekauft. Er bot mir einen Becher Glühwein an und ich merkte, dass er auf eine Unterhaltung aus war. Wir redeten über das Wetter, die Preise und was man an Weihnachten alles macht. Ich fragte ihn, warum er in seinem Alter denn noch Weihnachtsbäume verkauft, er bekäme doch sicherlich schon Rente. Er lachte und zwinkerte mir zu. "Das ist eine lange Geschichte. Interessiert es Sie wirklich?" Ich bejahte und er lud mich für den nächsten Vormittag in sein Haus ein.

Ich füllte ein paar selbstgebackene Weihnachtsplätzchen in eine Keksdose, schmückte sie mit einer roten Schleife und machte mich auf den Weg. Etwas mulmig war mir schon, so mir nichts, dir nichts in ein fremdes Haus zu spazieren. Auf der anderen Seite belächelte ich meine Ängstlichkeit. Was sollte ein so alter Mann mir anhaben können? Ich drückte auf den Klingelknopf und kurz darauf öffnete mir Herr Leonhardt.

"Schön, dass Sie gekommen sind!" Er bat mich herein und ich schaute mich staunend um. Ich stand in einem großen Wohnzimmer, das mit dicken Teppichen ausgelegt war. An den Wänden hingen kostbare Bilder, das konnte sogar ich sehen, obwohl ich kein Kenner bin. Der Blickfang des Zimmers war ein Kamin, der mich an alte Märchen erinnerte. Er war aus roten Ziegeln gemauert, oberhalb weiß verputzt und mit einer Girlande aus Tannenzweigen und roten Schleifen verziert. Ein Feuer prasselte darin und verströmte Gemütlichkeit. Tannengirlanden hingen an allen Wänden des Zimmers. Es roch wunderbar nach den Zweigen und frischem Kaffee. Herr Leonhardt bat mich an den hübsch gedeckten Tisch, und ich überreichte ihm die Keksdose. Er freute sich sehr darüber und probierte gleich alle Sorten durch. Er bot mir Weinbrand an und als ich ablehnte, goss er sich einen kleinen Schluck in seinen Kaffee. "Sie wollen also wissen, warum ein alter Mann wie ich Weihnachtsbäume verkauft? Wie Sie sehen, habe ich alles, was das Herz begehrt und sogar noch mehr." Er machte eine Pause, fischte sich noch ein Plätzchen aus der Dose und nickte mir lächelnd zu. "Die sind sehr lecker, junge Frau." Ich bedankte mich für das Lob und schaute ihn erwartungsvoll an.

"Ich muss ein wenig ausholen, damit Sie die ganze Geschichte verstehen.

Vor vielen Jahren lebte einmal ein Mann, dessen Herz regelrecht gefroren war. Er konnte über nichts auf der Welt Freude empfinden. Griesgrämig existierte er von einem Tag zum anderen, ohne auch nur eine einzige Minute zu genießen. Das Weihnachtsfest war ihm ein besonders großer Dorn im Auge. Er beschimpfte die Leute, die mit ihren Kindern fröhlich über Weihnachtsmärkte spazierten, schüttelte den Kopf über Menschen, die einen Weihnachtsbaum nach Hause trugen und rief kleinen Kindern zu, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Natürlich erntete er böse Blicke und manches böse Wort. Aber das interessierte ihn nicht und seine Manie wurde jedes Jahr schlimmer. In einem Jahr war er besonders bösartig. Er ging zu einem Weihnachtsbaumverkäufer und fragte ihn, ob er nichts Besseres zu tun hätte, als Bäume zu verkaufen. Er solle sich doch eine richtige Arbeit suchen und den Leuten nicht seinen Mist aufschwatzen.

"Wenn es nach mir ginge, würde ich das Weihnachtsfest verbieten", fuhr er den erschrockenen Verkäufer an. "Und Leute wie du würde ich einsperren lassen. Was soll das Ganze überhaupt? Stehst mit deinen jämmerlichen Krücken von Bäumen auf der Kirchenwiese und stiehlst den Leuten die Zeit!" Entsetzt wich der Verkäufer vor dem Schimpfenden zurück. Der ließ aber nicht locker und donnerte weiter: "Nun pack dich und sieh zu, dass du hier weg kommst." Er hob seinen Spazierstock und ging auf den Jüngeren zu. Dieser bekam einen gewaltigen Schrecken, aber er wollte sich nicht gegen einen alten Mann wehren. Deshalb lief er zu seinem Wohnwagen, schloss ihn ab und eilte in die Wirtschaft an der Ecke. Nun stand der alte Griesgram inmitten der Weihnachtsbäume und begann nach ihnen zu treten. Jedes Mal, wenn er einen traf, hörte er ein leises Klingeln wie von Glöckchen. Das machte den Alten noch närrischer und er fühlte sich veralbert. Er schlug mit seinem Stock nach den Bäumen und geriet in Raserei. Vorbeikommende Passanten suchten schnell das Weite. Der Alte wütete und zerstörte die Bäume. Plötzlich fühlte er an seiner Schulter einen festen Griff. Er wirbelte, seinen Gehstock erhebend, herum und erstarrte in der Bewegung. Vor ihm stand eine Frau in einem wallenden silbernen Gewand mit aufgestickten Goldsternen. Die Säume wurden von roten Schleifen geschmückt. Mit klaren blauen Augen schaute sie ihn an und schüttelte den Kopf. "Was treibst du hier?" "Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen das Du angeboten zu haben." Der Griesgram ging ein paar Schritte zurück. "Haben Sie denn nichts zu tun, als in dieser lächerlichen Verkleidung herumzuspazieren?" Die Frau ließ sich nicht beeindrucken von dem boshaften Gerede. "Mein lieber Freund, dir werde ich es zeigen! Weißt du denn nicht, wer vor dir steht?" Der Alte giftete zurück: "Sie sollen mich nicht duzen und außerdem sind Sie verrückt. Lassen Sie mich in Ruhe, Sie Frauenzimmer!" "Frauenzimmer? Dir zeige ich's! Schau mich an und höre gut zu. Ich bin die Weihnachtsfee und mit Kerlen deiner Sorte mache ich kurzen Prozess. Du wirst noch um Gnade winseln."

Die Stimme des Alten klang schrill, als er schrie. "Ha, das möchte ich sehen. Hauen Sie endlich ab!" Die Fee hob ihren Zauberstab, dessen Spitze ein silberner Stern schmückte, sprach dabei leise und berührte den Alten mit dem Zauberstab an seiner Schulter. Dem Mann wurde es seltsam zumute und den Boden unter seinen Füßen schien jemand wegzuziehen. Plötzlich fand er sich auf dem Marktplatz wieder, hatte aber das Gefühl, dass der Platz geschrumpft sein musste. Er wollte sich umdrehen, aber das gelang ihm nicht. Seine Füße konnte er nicht bewegen. An sich herabschauend erschauerte er. Da war kein Körper zu sehen, sondern Zweige. Er wollte seine Arme heben, um sie zu betrachten, aber er hatte keine Arme mehr. Auch sie waren Zweige.

Plötzlich gingen kleine Menschen vorbei, ein Kind schaute ihn an und rief: "Mama, schau einmal, dieser schöne Weihnachtsbaum! So einen großen habe ich noch nie gesehen." Dem Alten wurde vor Angst schlecht und außerdem wollte er nach Hause. Was faselte dieses närrische Kind?

Plötzlich schwebte die Fee vor ihm in Augenhöhe, lachte laut heraus und sagte: "Nun schau dich nur an! Ein riesiger Weihnachtsbaum bist du und bunt geschmückt. Hast du die Lichterkette gesehen? Ist sie nicht herrlich?" Vor Begeisterung klatschte sie in die Hände, dann zog sie ihren Zauberstab aus dem Ärmel und verpasste dem Alten noch ein paar rote Schleifen. "Nein, bist du prächtig! Die Menschen werden ihre Freude an dir haben. Du wirst bis nach dem Weihnachtsfest hier stehen bleiben und wir wollen doch mal sehen, wie du dann über Weihnachtsbäume denkst." Sie löste sich allmählich auf, und der Alte wollte sich die Augen reiben, aber das gelang ihm nicht, denn er hatte ja nur Zweige. Er wollte um Hilfe rufen, konnte aber nicht sprechen. Ihm blieb nicht anderes übrig, als hier auszuharren. Ein paar alte Damen kamen mit ihren Pudeln anspaziert. Einer der Hunde hob ein Bein und machte den Stamm des Baumes nass. Dem Alten war, als hörte er das Lachen der Fee.

So stand der große Weihnachtsbaum Stunde um Stunde auf dem Marktplatz.

Der Alte wurde nicht müde oder hungrig, ihm war auch nicht kalt. Aus langer Weile begann er, die Leute zu betrachten, die an ihm vorbei gingen oder stehen blieben. Alle schauten lächelnd an ihm empor. "Das ist der schönste Baum, den wir jemals auf dem Marktplatz hatten", sagten die einen. Andere bewunderten still den prächtigen Schmuck, der am Baum hing.

Eines Nachts sah der Alte einen Bettler auf sich zukommen. Der schaute an ihm hoch und begann zu weinen. "Früher, als ich noch ein Haus hatte und mit meiner Frau darin lebte, hatten wir jedes Jahr einen prächtigen Baum. Du erinnerst mich sehr an die alten Zeiten, mein Freund. Aber als meine Frau starb, konnte ich lange Zeit nicht arbeiten gehen und ich dachte schon, ich müsste auch sterben. Nun habe ich kein Haus mehr und suche mir jede Nacht einen Schlafplatz." Der Bettler wischte sich die Tränen ab und kroch unter die untersten Zweige des Baumes, um sich niederzulegen. Der Alte konnte es kaum fassen. Wo gab es denn so etwas, dass jemand kein warmes Bett hatte? Zum ersten Mal regte sich in dem Alten ein Gefühl für andere Menschen. Das war neu für ihn und es machte ihn leicht und warm. Allmählich begann der Griesgram, sich Gedanken um die Menschen zu machen, wenn sie bei ihm stehen blieben. So etwas war ihm früher nie in den Sinn gekommen und dadurch verging die Zeit schnell. Er sehnte jede Nacht den neuen Tag herbei, damit er dem geschäftigen Treiben der Leute zusehen konnte. An einem frühen Abend blieben die Straßen auffällig leer. Der Alte überlegte, was passiert sein könnte und als endlich ein paar Leute an ihm vorüber gingen, erfuhr er aus ihrem Gespräch, dass es der Weihnachtsabend war. Er dachte bei sich, dass die Zeit recht schnell vergangen war und dass die Fee ihn nun bald in seine eigene Gestalt zurückverwandeln würde. Während er so überlegte, sah er den Bettler wieder auf sich zukommen. Dieser sah wieder traurig an ihm hoch und kroch wie vor ein paar Tagen unter die Zweige, um zu schlafen. Wenn ich ihm doch nur helfen könnte, dachte der Alte. Ich wünschte, ich müsste nicht länger ein Baum sein. Plötzlich tauchte die Fee vor ihm auf. "Was würdest du denn tun, wenn du wieder du selbst wärst?" Der Griesgram musste nicht lange überlegen. "Ich würde dem armen Mann eine warme Stelle zum Schlafen besorgen." Die Fee lächelte und schwang ihren Zauberstab. Plötzlich stand der Alte neben dem Bettler, der sich verblüfft umschaute und jammerte: "Wo ist denn der schöne Baum hin? Haben die ihn schon weggeholt?" "Ich möchte Sie gerne zum Essen einladen." Zum ersten Mal in seinem Leben lächelte der Griesgram einen anderen Menschen an. Der Bettler dachte erst, er würde veralbert, aber als der Fremde darauf bestand, ihn mit in das gegenüberliegende Restaurant zu nehmen, willigte er ein. Die Bedienung schaute die beiden ungleichen Gäste zwar skeptisch an, verkniff sich aber einen Kommentar. Nachdem sich beide Männer die Bäuche vollgeschlagen hatten, zahlte der Alte für den Bettler ein Zimmer im kleinen Hotel am Markt und verabschiedete sich. Er nahm den Weg über den Marktplatz und dachte, dass er sich gerne einmal als Weihnachtsbaum gesehen hätte.

Von diesem Tag an änderte der Alte sein Leben. Er war freundlich gegen jedermann und half, wo er nur konnte. In der Weihnachtszeit spendete er großzügige Summen für Obdachlosenorganisationen und für arme Kinder.

Aber jedes Jahr in der Adventszeit verkaufte er Weihnachtsbäume im Garten seines Hauses und den Erlös brachte er zu dem Weihnachtsbaumverkäufer auf der Kirchenwiese."

Ich hatte Herrn Leonhardt nicht ein einziges Mal unterbrochen und konnte kaum glauben, was ich da gehört hatte. Ich sah ihn fassungslos an. Er war ein alter Mann mit einem gutmütigen Gesicht, hatte eine angenehme Stimme, war nett und freundlich. "Unmöglich!", platzte ich heraus.

"Glauben Sie es oder halten Sie es für eine Geschichte, junge Frau. Ganz, wie Sie es wollen." Liebenswürdig lächelte er zu mir herüber und begann die Tassen und Teller auf dem Tisch zusammenzustellen. "Bitte entschuldigen Sie, ich muss jetzt gleich den Garten aufschließen. Die Leute möchten ihre Weihnachtsbäume abholen."

Verwirrt verabschiedete ich mich von dem alten Mann und als ich vor seinem Haus stand, war mir, als hörte ich leises Klingeln von Glöckchen.

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