Unser Buchtipp Weihnachtsgeschichten

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Eingereicht am
12. März 2007

Mein Weihnachtsmärchen

© Wibke Schumacher

Es war einmal … Klar, ein Märchen. Ich hab ja auch nichts anderes zu tun, als hier herumzusitzen und Oma Hilde dabei zuzuhören, wie schön Märchen doch sind. Jetzt fängt sie auch noch an, eines vorzulesen. Ich höre überhaupt nicht zu, aber egal. Macht ihr bestimmt nichts aus und Rotkäppchen nimmt es mir bestimmt auch nicht übel. Ich höre Oma nie zu, dafür allerdings mein kleiner Bruder. Märchen waren noch nie mein Ding, ganz im Gegensatz zu Ben. Mir waren die schon immer viel zu unrealistisch. Dornröschen zum Beispiel: Weiß doch eh jeder, dass man nicht 100 Jahre schlafen kann, ob mit oder ohne Spindel-Stich. Boah nee, ich gehe. "Was ist los, Marie?", fragt Ben gleich. Oma Hilde hat gar nichts gemerkt, liest einfach weiter. "Ich gehe nach Hause, Ben. Du weißt doch, ich glaube nicht an Märchen und das hier ist absolute Verschwendung meiner Lebenszeit." Ben guckt irgendwie traurig, aber egal. Ich gehe jetzt trotzdem, muss ja nur zwei Straßen weiter. Mich regt heute alles auf, ich will nur noch ins Bett. Auf dem Weg nach Hause komme ich an einem Bettler vorbei. Er sieht schrecklich aus mit seinen fettigen Haaren, den dreckigen Klamotten und in seinem Papp-Kaffeebecher, den er mir nun entgegenstreckt, liegen nur fünf Cent. Ich gehe einfach weiter, der soll doch sehen wo er bleibt. Er ruft mir so was wie Nächstenliebe hinterher. "Pfft" mache ich nur. In unserer Straße sehe ich Frau Kleinmann, wie sie einer alten Dame, die sehr klein ist, aber riesige Einkaufstaschen trägt, die Taschen abnimmt und ihr hilft, sie zu tragen. Die muss echt zu viel Zeit haben. "Wieso machen Sie das eigentlich?" rutscht es mir gleich heraus, als ich an ihnen vorbeigehe. "Nächstenliebe, würde ich sagen. Besonders in der Weihnachtszeit sollte jeder von uns daran denken!", sagt Frau Kleinmann glücklich. Nächstenliebe … Habe ich das nicht heute schon einmal gehört? Was ist das eigentlich? Mama meinte, als ich sie gleich darauf fragte, das würde bedeuten, für andere da zu sein und sie zu lieben wie sich selbst, egal wen, ob Feind, Freund oder Fremder. Mhmm... darüber habe ich die ganze Nacht nachgedacht. Über Nächstenliebe und den Satz von Frau Kleinmann, meine ich.

Am nächsten Tag rannte ich direkt in den Supermarkt bei uns auf der Ecke. Ich kaufte Brot, Käse, Wurst und viele andere Sachen, die praktisch sind, gut schmecken oder glücklich machen. Dann rannte ich nach Hause und füllte in eine Thermoskanne warmen Weihnachtstee. Ich legte alles sorgfältig in einen Korb und dann noch eine warme Decke obendrauf. Dann rannte ich zu der Ecke, an der ich gestern den Bettler gesehen hatte. Ja, er saß immer noch da. Ich ging zu ihm und reichte ihm meinen Korb. Nachdem er irritiert hineinschaute, strahlen seine Augen. "Dich hat der Himmel geschickt!", sagte er dankbar und stürzte sich direkt auf mein Geschenk. Ein schönes Kompliment, das mit dem Himmel. Ich war superglücklich und ging nach Hause. Von da an wusste ich was ich wollte. Ich habe Mama gesagt, dass ich dieses Jahr keine Geschenke zu Weihnachten wollte. Das Geld dafür sollte an Kinderheime gehen. Mama war zwar verwirrt, fand es aber gut und sozial. Am Heiligabend lagen dann doch Geschenke unter dem Baum. Mama und Papa sahen sich irritiert an und in der Küche hörte ich sie später leise reden. Keiner wusste, wo meine Geschenke herkamen, denn das Geld dafür war bereits an Kinderheime gespendet worden. Sollte es das Christkind etwa doch …? Ach Quatsch. Oder? Ich weiß es nicht, aber auf jeden Fall kam ich mir vor wie im Märchen. Ja, ich! Obwohl ich Märchen doch so gehasst habe! Meine Meinung hat sich gründlich geändert, wirklich. Von nun an las ich in meiner Freizeit in dem Kinderheim unserer Stadt Märchen vor. Aus dem dicken Märchenbuch, das ich an diesem Weihnachtsfest unter unserem Baum gefunden habe …

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