Unser Buchtipp Weihnachtsgeschichten

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Eingereicht am
12. März 2007

Das Christkind

© Cornelia Koepsell

Es war einmal ein Christkind. Das hatte ein Problem. Nicht nur eines - gleich mehrere. Seine Probleme verzweigten sich wie ein unübersichtliches Straßennetz. Oft wusste das Christkind nicht einmal, welches denn nun das Haupt- und welches das Nebenproblem war.

In seiner Jugend hatte es abwechselnd Karl May und Karl Marx gelesen - vielleicht stammte daher die Verwirrung.

Während der ersten Jahrzehnte seines langen und mühevollen Berufslebens hatte das Christkind heimlich und illegal in ehemals sozialistischen Staaten gearbeitet. Gerade weil es bei Karl Marx gelesen hatte, dass Religion Opium fürs Volk sei, wollte es den armen Werktätigen dort drüben hinter dem Eisernen Vorhang eine Prise dieses Opiums verschaffen.

Zu seinem illegalen Wirken gehörte das Belauschen der Gespräche diverser Ober- und Unterkader, um so den günstigsten Zeitpunkt zu bestimmen, wo es den Kindern und den wenigen übriggebliebenen christlichen Erwachsenen erscheinen konnte. Es durfte nicht erwischt und auf ewig aus diesem Teil der Welt vertrieben werden. Denn das hätte Gott dem Herrn, welches der höchste Vorgesetzte des Christkinds war, überhaupt nicht gefallen.

Beim Abhören der sozialistischen Kadergespräche wurde es hellhörig, wenn die Rede auf Haupt- und Nebenwidersprüche kam. Es hatte ein völlig unangemessenes und mit seiner Christkindl-Berufung nicht zu vereinbarendes Interesse an dieser Theorie. Möglicherweise weil es ihn an seine pubertäre und reichlich unverdaute Karl-Marx-Lektüre erinnerte.

Denn auch das Christkind hatte in jungen Jahren die Welt besonders intensiv erlebt und sehnte sich manchmal nach diesem Zustand zurück.

Da es sich bei der Haupt-und-Nebenwiderspruch-Theorie um eine recht übersichtliche Betrachtungsweise handelte, welche die Welt erklärbar und begreifbar machte, versuchte das Christkind, dieses Modell auf sein eigenes Leben und Wirken anzuwenden.

Wenn ich meine Probleme einteile in Kategorien wie Haupt und Neben, sie sozusagen entwirre und entknäuele, dann kann ich irgendwann zum Kern gelangen, dem Haupt-Hauptproblem, so sinnierte das Christkind vor sich hin, und vielleicht lag es gar nicht so falsch damit.

"Fangen wir also an", sprach Chrissie zu sich selbst, denn so wurde es von seinen wenigen Freunden genannt. Meistens jedoch, weil es so viel unterwegs war und dabei unerkannt bleiben musste, blieb ihm nichts anderes übrig, als Gespräche mit sich selbst zu führen.

"Als erstes fällt mir meine Allergie gegen Weihrauch und Tannenduft ein - ein Nebenwiderspruch schätze ich. Die Angewohnheit meines Hörgerätes, regelmäßig bei Glockengeläute mit dem Pfeifen anzufangen, was mir schon diverse Untersuchungen beim Himmlischen Oberarzt wegen Verdacht auf Tinnitus eingebracht hat und laufende, teure Überholungen des Hörgeräts, die letztendlich scheiterten, auch das vermutlich ein Nebenwiderspruch.

Wenn ich jedoch Problem 1 und Problem 2 zusammen addiere, eine Summe bilde, könnte das nicht schon ein Hauptwiderspruch sein, einer der mir eventuell einen Anspruch sichert auf Christkindl-Berufsunfähigkeitsrente. Mit regelmäßigen monatlichen Zahlungen könnte ich in meiner himmlischen Dachwohnung sitzen und niemals mehr würde ein Tannenzweig, der sich nicht im Wald befindet, auch nur in meine Nähe gelangen."

"Was bist du nur für ein grässlicher Egoist", so wurde Chrissie jetzt von seinem Christkindl-Über-Ich geschimpft. "Überall auf der Welt, dort, wo du den Menschen ein bisschen Freude ins Leben bringen sollst, wird länger gearbeitet, sie heben die Altersgrenze stetig nach oben an. Ausgerechnet du willst dich auf die faule Haut legen wegen ein bisschen Weihrauch-Allergie und Glockengeläute-Tinnitus."

"Da könnte das Hauptproblem liegen", dachte sich Chrissie, als die Strafpredigt beendet war. Ein Geistesblitz hatte wie eine Sternschnuppe sein mit Weihrauch verseuchtes Gehirn gestreift.

"Ich kann keine Freude mehr bringen, weil ich mit all diesen Nebenwidersprüchen um mich herum keine Freude mehr empfinde. Ich will meine Ruhe haben. Weihnachten ödet mich an. Es gibt schließlich noch andere Jahreszeiten, Sommer und Wind, ich mag nicht mehr auf das Bimbam, auf Stille Nacht, Heilige Nacht abonniert sein.

Wenn ich schon nicht in Rente gehen darf, dann werde ich Gott, den Herrn um eine Umschulung bitten als Wolkenputzer oder als Sternschnuppenwart. Es gibt so viel Christkindl-Nachwuchs, junge Leute, die schon in den Startlöchern stehen und alles tun würden für einen sicheren Job mit Pensionszusicherung und Rentenanwartschaft. Die will ich ranlassen.

Mein Hauptproblem ist: ICH MAG NICHT MEHR!

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