Unser Buchtipp Weihnachtsgeschichten

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Eingereicht am
16. März 2007

Weihnachtsstreber

© Natalie Berghahn

Elisabeth Rabe hasst Weihnachtstreber.

Weihnachtsstreber sind jene Leute, die ab Halloween nur noch für das Fest der Feste leben und deren Häuser ab Totensonntag kilometerweit leuchten und blinken.

Weihnachtsstreber besuchen jeden Adventssamstag mindestens zwei Weihnachtsmärkte, um Kofferräume voller Geschenke und Plätzchen nach Hause zu fahren. Ihr Weihnachtsbaum ist der höchste im ganzen Viertel und steht absolut lotrecht. Jedes Jahr erstrahlt er in einem neuen angesagten Outfit, während farblich abgestimmte Söhne und Töchter darunter erzieherisch wertvolle Geschenke auswickeln.

Auf wenn Mama es nicht glaubt - die meisten Menschen machen sich nicht so viel Weihnachtsstress. Sie kaufen einen normal großen Baum, schmücken ihn jedes Jahr mit denselben Sachen, hängen ein, zwei Lichterketten auf und überreichen ihren Kindern Spielsachen, die sie ihnen sowieso gekauft hätten. Das reicht, um Freude zu haben. Manche spenden noch Geld für die Hungernden oder gehen in die Kirche, um sich noch einmal erzählen zu lassen, warum der ganze Zauber veranstaltet wird. Anfang Januar wickeln sie Krippenfiguren und Weihnachtssterne in Seidenpapier, ein bisschen erleichtert, dass alles wieder vorbei ist.

Es gibt Leute, die Weihnachten verreisen, Gänsekeulen essen, Julklapp veranstalten, 140 Weihnachtskarten schreiben oder ihrer Katze einen Teller Shrimps servieren.

Und es gibt Weihnachtshasser.

Weihnachtshasser weigern sich mitzumachen, wie Elisabeth Rabe, die mit Weihnachten nichts zu tun haben möchte, wirklich nichts: Kein Baum, keine Geschenke, keine Karten, keine Adventskalender, keine Freude.

Sonst ist sie nett. Wirklich, ich habe sie lieb. Abgesehen von Weihnachten macht sie gern und großzügig Geschenke. Wenn es jemanden schlecht geht, lässt sie nicht locker, bis sie Besserung oder wenigstens Trost herbeigeschafft hat.

Sie regt sich so gut wie nie auf, über Unordnung, schlechte Schulnoten oder verrückte Tiere in der Wohnung. Eigentlich nur über Weihnachten.

"Jeder wie er will, aber ich nicht!", sagt sie, wenn ihre Kinder einen Weihnachtsbaum wollen. Leider bin ich es, die seit sieben Jahren "Mama" zu ihr sagt.

Die Jahre davor war sie meine Tante, doch weil meine früheren Mama und Papa das Kinderhaben und auch sonst ihr Leben nicht so richtig in den Griff bekommen haben, habe ich mit vier Jahren die Mama gewechselt.

Daher heiße ich auch nicht "Rabe", wie Mama, sondern Fahlbek. Mareike Fahlbek. Außer Mama und mir wohnen hier noch Jonas, Adele und die Tiere -- zwei Katzen, drei Meerschweinchen, vier Chinchillas und Rosalie, die Kakadudame, die schon seit über zwanzig Jahren mit Mama zusammenlebt.

Jonas ist zwölf Jahre alt, Mama ist schon immer seine Mutter gewesen, sein Papa meldet sich genauso selten wie meine richtigen Eltern, nämlich nie.

Adele hat auch andere Eltern, sie wohnt seit ihrem dritten Lebensjahr bei uns. Inzwischen ist sie fünf, aber ein ziemliches Baby, quengelig und immer einen Schnuller im Mund, doch ich habe sie lieb. So lieb, dass ich ihr von meinem Taschengeld einen Adventskalender kaufen werde. Sonst wird sie die einzige in ihrem Kindergarten sein, die keinen hat. Letztes Jahr hatte ich ihr auch einen gekauft. Ich hatte Mama angesehen, wie wenig ihr das passte. Trotzdem war sie gerührt, weil ich mein Taschengeld für Adele ausgegeben hatte und hängte den Kalender eigenhändig im Wohnzimmer auf.

Jonas und ich hatten uns auch Kalender gekauft. Wir zeigten sie der Weihnachtshasserin nicht, sondern öffneten jeden Morgen im Innern unserer Kleiderschränke ein Türchen. Dann setzten wir uns an den Frühstückstisch, den Mund voll heimlicher Süße.

"Kaufst du dir dieses Jahr wieder einen Adventskalender?", fragt Jonas mich.

"Ja, und für Adele auch, ein bisschen Weihnachten sollte dieses Kind doch auch feiern dürfen."

"Ich finde, wir sollten dieses Jahr ganz richtig Weihnachten feiern", sagt Jonas. "Mit Baum, Geschenken, Keksen, und - ich glaube, einen Truthahn muss man kochen."

"Nee, den Truthahn essen die Engländer. Hier musst du eine Gans braten."

"Dann eben Gans. Hast du schon einmal eine Gans gegessen?"

"Nee. Du wirst auch keine essen, jedenfalls nicht zu Weihnachten. Mama hasst Weihnachten."

"Ich hasse, dass sie es hasst. Ich will und werde dieses Jahr feiern, am 24. Dezember. Dieses Kaffeetrinken bei Oma am zweiten Feiertag ist doch nur zweite Wahl."

Der zweite Weihnachtstag bei Oma hat uns immer ein wenig über Mamas Weihnachtssonderlichkeit hinweg getröstet. Bei Oma gibt es einen Baum mit echten Kerzen, Stollen und richtige Plätzchen. Meistens schenkt sie uns Bücher und coole Klamotten, sodass wir nach den Ferien in der Klasse Geschenke vorführen können. Leider kommt Mama nicht mit zu Oma, sie bringt uns hin, überreicht ihrer Mutter einen Blumenstrauß und holt uns abends mit einem genervten Blick auf unsere Geschenke wieder ab.

"Am zweiten Feiertag kann ich wirklich nicht mehr feiern", sagt sie entschuldigend zu Oma, so als ob sie an den Tagen davor auch nur versucht hätte zu feiern.

Ich schlage vor, Oma zu fragen, ob wir ausnahmsweise schon am 24. Dezember kommen dürfen.

"Vergiss es. Da kommt Murat, um mit ihr Weihnachten zu feiern, obwohl er das als Moslem gar nicht müsste."

"Wir können ja mit ihm feiern", ich finde Omas Freund nett.

"Ich will aber mit Mama feiern, nicht mit Oma und Murat. Wir überraschen sie einfach. Sie wird schon nicht aus der Wohnung laufen, nur weil ein Weihnachtsbaum drin steht und wir so eine Gans braten."

Darauf würde ich nicht wetten.

Außerdem kostet ein Weihnachtsbaum mindestens 15 Euro. Ich habe keine Ahnung, wo und wovon wir eine Gans kaufen könnten, geschweige denn, wie so ein Viech zubereitet wird.

"Wir können die Gans ja weglassen", Jonas lässt sich nicht beirren, "wir essen einfach was Mama kocht. Aber wir brauchen einen Baum, Plätzchen, Kerzen und Geschenke."

Langsam bekomme ich Lust.

Wir weihen Adele ein und beschwören sie, Mama nichts zu verraten. Adeles Redseligkeit ist ein Risiko, doch sind wir scharf auf ihr Geld. Jonas und ich bekommen im Dezember jeder fünf Euro Taschengeld, drei hat Jonas noch von November über, ich zwei. Adele kriegt gar kein Taschengeld, aber in ihrem Spartopf finden sich 3,29 Euro in ganz kleinen Münzen. Als Jonas verspricht, einen Tannenbaum zu kaufen, schüttet sie ihm sofort alles auf den Schoß. Abzüglich dreier Adventskalender von Aldi zu je 1,19 Euro bleiben uns 14, 72 Euro zur Ausrichtung eines Weihnachtsfestes.

"Mareike, was wünschst du dir zu Weihnachten? Ich wünsche mir ein Zelt. Adele ist langsam groß genug für ein eigenes Fahrrad."

Jonas spinnt. Wir haben noch nicht mal Geld für einen Weihnachtsbaum, und er faselt von Zelten und Fahrrädern. Ich wünsche mir schon länger einen eigenen Kassettenrecorder, damit ich mir nicht immer von Mama oder Jonas einen leihen muss. Ich bin ziemlich sicher, Mama wird mir am 21. September nächsten Jahres einen zum Geburtstag schenken, ein Fahrrad für Adele hat sie sogar schon auf dem Boden stehen, unsere Kleine wird am dritten Januar sechs. Jonas wird auf sein Zelt noch bis Juli warten müssen, doch vorher wird er sowieso nicht Zelten gehen wollen.

"Ich will richtig Weihnachten feiern, mit richtigen Geschenken."

"Für 14,72 Euro."

"Bis Weihnachten kann sich ja noch was ändern."

Mein Bruder war schon immer ein Sturkopf.

Am nächsten Samstag werden im ganzen Stadtteil Elektrodekorationen aufgehängt. Fenstern, Fassaden und Bäumen blinken, als sollten sie wenigstens einmal im Jahr beachtet werden. Prompt bekommt Mama schlechte Laune. "Jedes Jahr mehr Strom für diesen Weihnachtsunfug", faucht sie, "irgendwie muss das Klima ja kaputt zu kriegen sein."

"Wann kaufst du den Weihnachtsbaum?", fragt Adele.

"Bestimmt nicht am Totensonntag", sagt Mama in einem Ton, der ausschließt, es könne an einem anderen Tag dazu kommen.

Weil Adele so quengelt, nehme ich sie mit in die Bücherhalle.

"Bringt von unterwegs Brot mit, bitte Mareike", ruft Mama uns nach.

Beim Bäcker bekommen wir jede einen kleinen Schokoladenweihnachtsmann geschenkt. Adeles schaffe ich gerade noch auszuwickeln, ehe sie sie neben ihrem Schnuller in den Mund schiebt. Ich knibbele am Papier meines Weihnachtsmanns, als mir plötzlich etwas einfällt - zu einem richtigen Weihnachtsfest gehören bunte Teller. Dieser Wicht soll mein Grundstock sein. Behutsam schiebe ich ihn in die Jackentasche und verwahre ihn, sosehr Adele auch bettelt.

Auf einmal glaube ich an unseren Plan.

In der Bücherhalle entleihe ich "Weihnachtsdekorationen selber machen für wenig Geld", "Die besten Weihnachtsrezepte aus drei Jahrhunderten" und eine Kassette mit Weihnachtsliedern zum Mitsingen.

Während wir in der Bücherhalle waren, hat Jonas Frau Fischer besucht, eine liebe Nachbarin, von allen nur "Fischy" genannt. Fischy ist eine waschechte Weihnachtsstreberin. Klar, dass sie schmückt und bäckt bevor der November zu Ende geht. Unter dem Vorwand, Mama mit einer neuen Kekssorte überraschen zu wollen, lässt Jonas sich von Fischy das Backen zeigen und bekommt nicht nur das Rezept, sondern auch eine kleine Dose voller Probeexemplare, die natürlich sofort in unseren Weihnachtsvorrat wandert.

Wir machen das zur Methode.

Wenn im Freundeskreis gebacken wird, laden wir uns ein und fahren reichlich Kostproben in unser Weihnachtslager.

Adele und ich werden immer perfekter im Schnorren von Süßigkeiten. Wo immer Vorweihnachtsmänner ihre Gaben verteilen, sind wir schon da. Adele fordert ungeniert: "Wir brauchen Naschies, Mama kauft uns keine."

Weil sie so niedlich ist, quellen ihre kleinen Hände bald über. Es lohnt sich also, obwohl sie das meiste vor Ort verschlingt.

Mama wundert sich, zurzeit bin ich immer bereit einkaufen zu gehen und nehme auch noch freiwillig Quengeladele mit. Ich sollte es lieber nicht übertreiben, sonst kommt sie uns noch auf die Schliche.

"Süßigkeiten haben wir langsam echt genug."

"Weihnachten ist nicht nur naschen! Wir brauchen unbedingt einen Tannenbaum, sonst glaube ich nicht, dass wir Weihnachten feiern."

"Ich glaube es sowieso nicht."

"Mareike, sei nicht so ein Miesepeter! Guck' doch was wir alles schon geschafft haben, obwohl wir Kinder sind, die beklagenswert wenig Taschengeld bekommen."

Ich habe mittlerweile einen stattlichen Haufen Tannenbaumschmuck fabriziert, aber meine Sterne, Wichtel und Papprentiere stimmen mich nicht froh. Trübsinnig denke ich an das ganze Zubehör, welches ich nicht einfach basteln kann: Weihnachtsbaumständer, Kerzen und Kerzenhalter.

Oder eine elektrische Lichterkette, die mit unserer flippigen Adele bestimmt die bessere Lösung wäre. Ein Tannenbaum, an dem sich ihr Herzblatt als erstes die Pfoten verbrennt, würde Mama vermutlich nicht weihnachtsgewogener stimmen.

"Möglicherweise hat ja jemand einen alten Weihnachtsbaumständer, den er nicht mehr braucht, ich meine irgendjemand, der sich was Moderneres angeschafft hat. Wir können ja mal rumfragen."

Ich weiß nicht, ob Jonas rumgefragt hat, mir ist das jedenfalls zu peinlich. Wie klingt das denn? Ein Kind, das nach einem abgelegten Tannenbaumständer fragt. Als ob wir bettelarm wären. Jeder weiß, dass wir das nicht sind. Oder nach einer Mutter, die sich nicht um ihre Kinder kümmert, zumindest nicht um deren Weihnachtsbedürfnisse. Ich finde, das geht keinen was an.

Kurz nach dem Nikolaustag passiert was ziemlich weihnachtliches: Es schneit.

Mama fährt mit uns zu Oma, zum Schneeräumen. Oma hat es nämlich in der Hüfte, und Murat besucht zurzeit seine Familie in der Türkei.

Nachdem Jonas und ich einen Schneemann gebaut haben, spielen wir in Omas Schuppen.

"Nee, das gibt es nicht!"

Auf einem Bord stehen tatsächlich zwei Tannenbaumständer. Oma und Murat werden bestimmt nicht zwei Bäume aufstellen wollen. Doch wie Oma fragen, ohne Mama Argwohn schöpfen zu lassen? Im Moment schaufelt Mama Schnee.

Also schnell!

Mein Bruder ist ein Geschichtenerzähler und Ausredenerfinder ersten Ranges. Er erzählt Oma, ohne mit der Wimper zu zucken, von einem Weihnachtsbaum, den ein Förster seiner Klasse geschenkt habe, weil sie im Wald Müll gesammelt hätten. Diesen Baum könnten sie jetzt eigentlich in ihrer Klasse aufstellen, wenn, ja wenn sie nur einen Ständer hätten.

Natürlich schenkt Oma der 6b sofort ihren Zweitständer und eine ganze Schachtel Glaskugeln dazu, "nur überzählige Kerzenhalter habe ich nicht, aber eine Lichterkette kostet heutzutage auch nicht mehr die Welt."

"Ist auch sicherer, wegen Adele ...", Jonas rammt mir seinen Ellenbogen in die Rippen, was Oma nicht entgeht.

Sie runzelt die Stirn, "was hat Adele mit dem 6b-Tannenbaum zu tun?"

Ich stottere irgendwas von wegen, Weihnachtsfeier mit Eltern und Geschwistern, und Adele sei schließlich immer so hampelig. Wie um das zu beweisen, klirrt es genau bei diesen Worten. Adele hat den Josef aus Omas Weihnachtskrippe fallen gelassen.

Fast alle Figuren haben wieder angeklebte Köpfe, Beine oder Hufe, doch Josef ist in winzigste Stücke zersprungen. Adele heult. Oma nimmt sie in den Arm, "Ach Kleines, das macht der Oma doch nichts". Da lügt sie aber.

Oma ist traurig, das sehe ich genau. Sie hat diese Krippe schon ewig, bestimmt erinnert sie Oma an die Zeit, als Opa noch lebte und das kleine Mädchen, das mich später im Bauch hatte, noch keine Drogen nahm. Ob das andere kleine Mädchen, das jetzt meine Mama ist, Weihnachten schon damals gehasst hat?

Abends bastele ich für Oma einen neuen Josef aus FIMO. Es macht Spaß, deshalb forme ich eine ganze Krippe, die wir am Heiligabend neben unserem wahrscheinlich baumlosen Ständer aufstellen können.

"Na du Weihnachtsstreber", Mamas Ton ist nicht besonders spöttisch, eher zärtlich. Auf ihrer Schulter thront Rosalie. Ich fange an zu heulen.

"Ach, Mareike, ist Weihnachten dir denn so wichtig?"

Ich schlucke meine Tränen runter, zucke mit den Achseln.

"Weißt du", fährt Mama fort, "ich war von Weihnachten immer so enttäuscht. Ein Baum wird ins Zimmer gefahren, alle überfressen sich und tun, als liebten sie sich auf einmal, obwohl doch in Wirklichkeit alles geblieben ist wie immer."

"Und wenn man sich in Wirklichkeit liebt?"

Mama legt mir ihren Arm um die Schultern. Rosalie hüpft auf mein Knie, gemeinsam kraulen Mama und ich die weichen Federn an ihrer Kehle.

Langsam kommen wir voran, Jonas wühlt sich durch die Küche bis er Mamas Vorrat an Teelichtern findet. Adele bekommt von Fischy einen Nussknacker und ein Räuchermännchen geschenkt.

Ich erlebe meinen größten Weihnachtstriumph. Ich ergattere ein Zelt für Jonas! Ganz zufällig, weil der Papa meiner Freundin Svenja Jelinski es als Werbegeschenk bekommen hat. Da Jelinskis nicht campen, haben sie mich gefragt, ob ich es haben wollte! Natürlich wollte ich. Ich habe mich wahnsinnig gefreut. Frau Jelinski hat schon ganz merkwürdig geschaut.

Für Adele ziehe ich einfach ein paar Glitzerketten auf, Jonas zeige ich vorsichtshalber das Geburtstagsfahrrad im Bodenversteck, er hat nämlich ernsthaft erwogen, ein Kinderrad zu stehlen.

"Jonas, ich nehme keinen geklauten Kassettenrecorder an! Merk dir das."

"Aber ich will dir doch auch was Cooles schenken."

"Ach komm, das Coolste ist doch schon, wenn wir es überhaupt schaffen Weihnachten zu feiern, Mama zum Trotz. Apropos, was schenken wir Mama?"

Jonas starrt mich an: "Oh Scheiße. Voll vergessen."

"Auf jeden Fall haben wir nur Geld für ein Geschenk für Mama oder für einen Weihnachtsbaum."

"Weißt du was, wir sägen im Park einen Baum ab!"

"Du spinnst!"

"Gar nicht. Wir machen das nachher, Mama wollte doch noch mal kurz zu Oma."

"Und wir sollen auf Adele aufpassen."

"Die nehmen wir mit. Wer quengelt denn ununterbrochen, "Jonas, Jonas kauf mir einen Tannenbaum"?"

Im Park wachsen keine Tannen, jedenfalls nichts, was in eine Wohnung passen würde. Mit der Taschenlampe dringen wir immer tiefer in die Gebüsche vor. Adele fragt alle zwei Minuten: "Wann kommt endlich unser Weihnachtsbaum?"

Wir finden einige Tannenzweige, man könnte einen festlichen Strauß daraus binden, aber wozu haben wir dann einen Tannenbaumständer beschafft? Es war so schwierig gewesen, dieses sperrige Ding von Mama unbemerkt ins Auto zu schmuggeln.

"Da, da!", schreit Adele auf einmal.

Ein Weihnachtsbaum ist das nicht, sondern ein mächtiger Kiefernast, den ein Sturm erst kürzlich heruntergerissen haben kann.

Wir beschließen ihn zurechtzusägen und in unseren Tannenbaumständer einzuspannen. Auf dem Rückweg kaufen wir von unserem Geld einen Delikatesskorb für Mama - mögen ihr Rotwein und Schinken über den Schock hinweghelfen, den wir ihr am Heiligabend verpassen werden.

"Leute, wir haben es geschafft", Jonas Stimme überschlägt sich fast vor Freude.

"Nur, wie bauen wir das ganze auf, ohne dass Mama Wind davon bekommt?"

Noch ein beinahe unlösbar einherschreitendes Problem. Bald kann ich verstehen, dass Mama Weihnachten lästig findet. Dabei haben Erwachsene es viel leichter als wir. Sie werfen die Kinder einfach aus dem Weihnachtszimmer und können vorbereiten, was sie wollen. Die Kinder freuen sich sogar.

Die Tage vergehen, uns kommt keine durchführbare Idee, wie Mama am 24. für ein paar Stunden aus der Wohnung zu locken sein könnte.

Wir müssen jemanden dazu kriegen, sich genau in dieser Zeit mit ihr zu verabreden. Aber wen? Oma würde misstrauisch werden. Fischy ist vollkommen überwältigt von ihren eigenen Vorbereitungen auf das perfekte Fest.

Als Ludwig anruft, bringt Mama gerade Adele ins Bett. Die Zubettbringzeit ist bei uns heilig. Mama sagt: "Ich schenke euch jeden eine Viertelstunde täglich, dabei hat keiner zu stören, weder das Telefon, noch mitteilungsbedürftige Geschwister. Die einzige Ausnahme ist Feueralarm."

Jonas packt die Gelegenheit beim Schopfe, Mamas ältesten Kumpel zu unserem Komplizen zu machen, ohne Einzelheiten zu verraten. Ludwig ist sofort bereit, Mama für eine Weihnachtsüberraschung aus der Wohnung zu locken.

Am nächsten Morgen ist sie ganz verlegen, als sie uns fragt, ob es in Ordnung wäre, wenn sie uns am 24. ein paar Stunden über Mittag alleine ließe.

Wir mimen die Großzügigen, bieten sogar von uns aus an, Adele zu hüten.

Zum Dank dürfen wir uns für den Abend was zum Essen wünschen. "Aber keine Gans", sagt Mama, ehe ich genau diesen Vorschlag machen kann. Wir einigen uns auf Pizza und Eis. Ich freue mich darauf. Eine Gans werde ich braten, wenn ich erwachsen bin.

Ruckzuck räumen wir ein paar Stühle aus dem Wohnzimmer und legen los.

Der Kiefernast ist krumm und harzig. Jonas versucht, ihn zu kürzen, dabei bricht Mamas Fuchsschwanz ab. Eine weitere Säge haben wir nicht im Haus, also schrauben wir den Ast so, wie er ist, in Omas Tannenbaumständer fest. Die Schrauben sind wahrscheinlich ein paar Jahrzehnte nicht mehr benutzt worden und vollkommen eingerostet. Ich stelle mich auf den widerspenstigen Ständer, während Jonas mit der Rohrzange versucht, die Schrauben zu bewegen. "Brich' nicht auch noch die Rohrzange durch", mahne ich. Die Zange bleibt heil, stattdessen brechen zwei der vier Halterungsschrauben des Ständers durch. Nachdem wir die beiden restlichen notdürftig in den Ast getrieben haben, sind unsere Hände und Pullis voll Harz. Die ganze Konstruktion bekommt Übergewicht und fegt eine Blumenvase von Tisch. Die Vase bleibt heil, der Teppich ist nass und voller Blütenblätter. Es bleibt nichts anderes übrig, als unseren Weihnachtsbaum mit der Wäscheleine am Bücherregal zu vertäuen. Aus einem ramponierten Ständer ragt nun ein fast meterlanger harziger Ast, mehrfach angesägt, mit einer blauen Plastikwäscheleine umwickelt. In annährend rechtem Winkel dazu baumelt ein Büschel Kiefernzweige ins Zimmer. Der nasse Teppich ist voller Nadeln und Harz.

Mein Mut stürzt kilometertief.

"Ach, wenn wir ihn schmücken, wird es besser", muntert Jonas mich auf.

Mit Tannenzweigen und Blumendraht versuche ich den hässlichen Stamm zu verkleiden, wir hängen Omas Glaskugeln und meinen Schmuck hinein. Da wir uns keine Weihnachtslichterkette leisten konnten, nehmen wir unsere Lichterkette vom Balkon, erleuchtete Zitronen, Bananen und Wassermelonenschnitze.

Nie sah etwas einem Weihnachtsbaum weniger ähnlich als dieses Gebilde.

Ich möchte es sofort wieder abbauen, aber Jonas meint besser ein garstiger Baum als gar keiner. Adele fragt gerade zum hundertsten Male:

"Jonas, wann kaufst du endlich den Weihnachtsbaum?"

Jonas schnaubt und verbraucht Mamas gesamtes Tesafilm, um alles was ich gebastelt habe, an die Fensterscheibe zu kleben. Ich versuche die Flecken aus dem Teppich zu rubbeln. Weil das nicht gelingt, bedecke ich die Fläche unter dem Baum, mit einem Tischtuch, darauf kommen die Fimokrippe, der Nussknacker, das Räuchermännchen und die Geschenke. Das Zelt musste ich leider in einer Plastiktüte verpacken, wenigstens habe ich eine schöne rote Schleife aufgetrieben. Adeles Geschenk ist immerhin in Geschenkpapier gehüllt, wenn auch mit Küken und Osterhäschen drauf, Weihnachtspapier kommt hier so selten ins Haus. Jonas hat auch ein Geschenk für mich. Ganz schön riesig, in funkelnagelneu wirkendes Weihnachtspapier verpackt. Mamas Korb glitzert in Cellophan. Die bunten Teller quellen über, aber wenn Adele so weiternascht, werden sie das nicht mehr tun, wenn Mama nach Hause kommt. Jonas stellt die Teller auf den Schrank, Adele heult, das sei kein richtiges Weihnachten. Auch ich kämpfe mit den Tränen. Jonas stellt unverdrossen sämtliche Teelichter auf, kann sie nur leider nicht anzünden, weil Mama, wegen Adele, Feuerzeug und Streichhölzer versteckt hält.

Um nicht völlig zu verzweifeln, stecke ich die Weihnachtskassette in die Anlage. Sie leiert.

"Ich will Naschies! Weihnachten ist blöd!", kreischt Adele. Wortlos knalle ich ihr ihren bunten Teller auf den Schoß. Adele schlingt Schokolade, wie nur Adele schlingen kann. Innerhalb weniger Minuten ist der Teller leer, und sie klebt von oben bis unten. Rosalie ist durch die ungewohnten Vorgänge im Wohnzimmer nervös geworden und kreischt in den schrillsten Kakadutönen. Die Katzen haben sich in Mamas Zimmer verkrochen. Mitten im Wohnzimmer auf dem nassen klebrigen Teppich liegen die Rohrzange, die leere Tesafilmrolle und der zerbrochene Fuchsschwanz.

Falls Mama für ihren Groll gegen Weihnachten noch ein paar Begründungen fehlen sollten, haben wir sie ihr dieses Jahr geliefert.

Als wir ihren Schlüssel in der Tür hören, stürzen wir in den Flur, als gäbe es noch eine Chance die Katastrophe zu verbergen.

"Kinder, was ist los? Ist was Schlimmes passiert?", ruft Mama erschrocken, als sie uns sieht. Mir bleibt keine Zeit darüber nachzudenken, was für einen Eindruck wir, beschmiert mit Harz und Schokolade, auf sie machen könnten, denn mir bleibt der Mund offen stehen.

Mama hält einen Weihnachtsbaum in der Hand, größer als sie selbst. Neben ihr steht Ludwig mit einem Tannenbaumständer in der einen und einem Turm Pizzakartons in der anderen Hand. Hinter den beiden tritt der Weihnachtsmann durch die Tür. Wirklich und wahrhaftig der Weihnachtsmann, nicht mit einem angeklebten Bart, sondern mit einem echten weißen Vollbart. Er ist beladen mit unzähligen Plastiktüten und grinst von einer Bartseite zur anderen.

"Mein Weihnachtsbaum!", Adele hat sich als erste wieder gefangen und hüpft ausgelassen herum.

Mama wird rot. "Wir wollten euch eine kleine Freude machen", murmelt sie. "Wie wäre es, wenn ihr euch ein klein wenig wascht und ein bisschen, nun ja, sagen wir mal, dem Anlass entsprechend kleidet?"

Ich merke, wie auch ich rot werde. "Wir wollten dir auch eine Freude machen", sage ich ganz leise. Jonas öffnet stumm die Wohnzimmertür.

"Nein! Das ist ja... das ist ja...Ludwig, Gerhardt, das müsst ihr euch ansehen. Wie schön!" Sie gibt Jonas und mir einen Kuss, Adele ist gerade in einem unküssbaren Zustand.

"Ludwig, unser Baum passt doch daneben, oder?"

Jonas und ich ziehen uns um, die schwarzen Flecken sind von den Fingern nicht ab zu bekommen. Adele wird von Mama kurz entschlossen unter die Dusche gestellt. Ludwig und der Weihnachtsmann verschwinden im Wohnzimmer. Er kann wohl doch nicht der echte Weihnachtsmann sein, der würde kaum Gerhardt gerufen werden.

Als wir wieder ins Wohnzimmer kommen, sind die Werkzeuge verschwunden.

Alle Teelichter brennen. Der zweite Weihnachtsbaum prangt neben unserem in verschwenderischer Pracht, weitere Päckchen in Weihnachtspapier sind dazu gekommen.

"Ich schlage vor, wir essen vor der Bescherung, die Pizza wird sonst kalt", sagt Mama gerade, als es klingelt.

Adele stürzt wie immer als erste zur Tür.

"Noch'n Weihnachtsbaum", sagt sie. Es klingt nicht besonders erstaunt.

Dieser Baum ist der größte. Er füllt die Türöffnung komplett aus, ist fertig geschmückt, mit echten Kerzen, die nur noch nicht angezündet sind. Erst denken wir, der Baum sei allein gekommen. Doch als wir ihn hereinholen wollen, entdecken wir Oma und Murat im Treppenhaus, beladen mit Geschenken und einem Tablett türkischer Spezialitäten.

"Deine Kinder haben so seltsame Andeutungen gemacht, ich hatte das Gefühl ihnen fehlt was", erklärt Oma betreten, nachdem Murat und der Weihnachtsmann Gerhardt ihren Riesenbaum im Flur aufgestellt haben.

"Ja, davon hat Ludwig mich auch überzeugt, er hat mir zusammen mit seinem Kumpel hier klar gemacht, was Elisabeth Rabe für eine Rabenmutter sei, und mich dazu gebracht meine Kreditkarte hemmungslos auszunutzen.

Dabei können meine Kinder hervorragend für sich selber sorgen."

Sie weist ins Wohnzimmer. Komisch, Oma ist von dem Schauderbaum in ihrem ruinierten Ständer genauso begeistert wie Mama.

Beim Essen klingelt es wieder. Fischy steht in der Tür, mit einer Riesendose selbstgebackener Kekse und einem kleinen Weihnachtsbaum in einem Blumentopf. "Ach, Klein-Adele hat mir ja erzählt, wie sehr sie sich einen Baum wünscht und was für Mühe der Große sich gibt, seinen kleinen Pflegeschwestern eine Freude zu bereiten. Da dachte ich..."

"Möchten sie lieber eine Pita oder ein Stück Pizza?", unterbricht Mama Fischys Redefluss und stellt den Minibaum auf den Tisch. Fischy und Oma verstehen sich auf Anhieb prächtig. Bald stellt sich heraus, Fischy wäre dieses Jahr in ihrer Weihnachtsstreberwohnung völlig allein gewesen, ihr Sohn ist zurzeit im Ausland beschäftigt, ihr Mann schon lange tot. Also läuft sie schnell rüber, um Gänsekeulchen mit Rotkohl zwischen Pizzakartons und Peperoni zu stellen.

"Ja, Mensch, wenn ich an meinen Kumpel Ralph denke, " sagt der Weihnachtsmann, "der hockt nun völlig allein im Männerwohnheim vor der Glotze."

"Ruf ihn an", sagt Mama mit der Miene eines Menschen, den nichts mehr erschüttern kann, "er kann kommen -- unter einer Bedingung..."

"Elisabeth, ich kann nicht garantieren, dass Ralph noch nüchtern ist."

"Wer redet hier von nüchtern? Ich brauche selbst einen Cognac. Aber er kommt ohne Baum!"

Ralph lässt sich ziemlich viel Zeit. Vor ihm kommt der fünfte Weihnachtsbaum, in Begleitung von Adeles Kindergärtnerin, der dieses schreckliche Kind auch von der Suche nach dem Weihnachtsbaum erzählt hat. Der Weihnachtsbaum der Kindergärtnerin könnte ein Zwilling von Fischys sein und wird in Adeles Kinderzimmer verbannt. Die drei mitgebrachten Überraschungseier bilden den Auftakt zur Bescherung. Oma freut sich wahnsinnig über den Ersatzjosef. Jonas hat nun zwei Zelte, und ich kann ihm seinen Kassettenrecorder zurückgeben. Dieser liebste aller Brüder hat mir seinen eigenen in diesem wunderhübschen Weihnachtspapier übereicht, aber der neue Recorder von Mama reicht mir.

Nicht ganz ausreichend ist dagegen unsere Weinflasche für so viele Erwachsene in Feierlaune. Zum Glück hat Ralph noch zwei weitere Flaschen dabei, als er endlich ankommt. Im Treppenhaus hat er ein Weihnachtsgesteck gefunden, eine Karte liegt dabei, es ist für mich, mit den besten Grüßen der Familie Jelinski.

Es ist ziemlich eng in der Wohnung mit so vielen Menschen und Weihnachtsbäumen. Oma klönt mit Fischy, Adele tobt mit Ralph und Gerhardt über die Polster, Ludwig und Murat justieren die Tannenbäume.

Jonas fachsimpelt mit der Kindergärtnerin über Chinchillas. Nachdem sie ungefähr zehnmal beteuert hat, wie peinlich ihr das alles sei, hat sie sich die Rückkehr in ihre leere Wohnung ausreden lassen und kuschelt nun mit unseren Tieren. Mama und ihre Weihnachtsgehilfen haben selbst sie nicht vergessen: Rosalie hat ein Stück Melone bekommen, die Katzen ein Stück Fischfilet, für das sie gern unterm Bett hervor gekrochen sind.

Sogar an Petersilie für die Meerschweinchen und Rosinen für die Chinchillas hat Mama gedacht.

Jetzt guckt sie nachdenklich über das glitzernde Durcheinander. " Ich und fünf Weihnachtsbäume", sagt sie wie zu sich selbst.

"Findest du es sehr schrecklich?", frage ich besorgt.

"Nein, irgendwie hat es Stil, aber nächstes Mal sollten wir vorher ein bisschen putzen."

"Putzen?", Jonas reißt Mund und Augen auf, "Mama, wir sind doch keine Weihnachtsstreber."

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