Unser Buchtipp Weihnachtsgeschichten

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Eingereicht am
21. März 2007

Das Knusperhäuschen

© Birgit Arzet

Mit roten Backen und blitzenden Augen stürmte Clara (9) ins Haus, warf mit Karacho ihren Schulranzen in die Ecke und verkündete lauthals: "Mami, wir werden am vierten Advent in der Klinik vorsingen. Und du spielst auf deiner Gitarre mit!"

"Na, na, immer langsam! Wer ist wir? Und warum werde ich nicht erst mal gefragt, ob ich überhaupt Gitarre spielen will?" Aenne wusste aus Erfahrung, dass es nicht schaden konnte, den Tatendrang ihrer Tochter ein wenig zu dämpfen. Sie schoss des Öfteren übers Ziel hinaus.

Daraufhin traf sie ein vernichtender Blick: "Aber Mami! Du sagst doch immer, andere Kinder haben's nicht so gut wie wir! Und gerade in der Weihnachtszeit sollen wir an sie denken und etwas für sie tun!"

Aha, meine gescheite Tochter schlägt mich mit meinen eigenen Waffen, dachte Aenne schmunzelnd.

"Du musst unbedingt mitmachen, Mami, ohne Gitarre blamieren wir uns! Wir sind nämlich nur zu dritt, weißt du - ich, Leonie und Sandra."

"So, so! Das ist ja ein Mini-Chor! Da werde ich wohl nicht nur Gitarre spielen, sondern auch singen müssen, oder? Und eigentlich - deine Schwester könnte doch auch mitmachen, oder?"

"Von mir aus", willigte Clara gnädig ein, "Katie kann ja die Blockflöte spielen." Und dann, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen hüpfend, fragte sie: "Können wir heute noch proben?"

Aenne musste lachen. "Mal sehen ... Aber sag mal, wie bist du denn auf diese Idee gekommen?"

"Ooch ... unsrer Lehrerin hat erzählt, dass ihr Sohn im Krankenhaus war. Es muss doch schlimm sein, an Weihnachten im Krankenhaus zu liegen! Und da hab ich gedacht, wir machen den Patienten 'ne Freude mit Weihnachtsliedern. Und außerdem - auf der Kinderstation soll es bald ein Spielzimmer geben und es werden noch Spielsachen gebraucht. Dafür könnten wir doch sammeln, oder?"

Letztlich waren sie dann zu sechst, denn Katie (7) wollte dieses unerhört wichtige Ereignis nicht ohne ihre beste Freundin Miri erleben. Die drei Großen beschlossen - oder nein, eigentlich bestimmte Clara, dass sie als Hirten auftreten würden und die beiden Kleinen sich als Engel verkleiden sollten. Folgsam hörte Katie auf ihre große Schwester, wobei es ihr allerdings keine Mühe bereitete, sich für die Engel-Idee zu begeistern.

Mit unendlicher Geduld übte Aenne mit den Mädchen Weihnachtslieder ein: "Alle Jahre wieder", "Morgen, Kinder, wird's was geben", "Kling, Glöckchen". Passend zum Outfit sollte noch "Kommet, ihr Hirten" zur Aufführung gelangen, was aber die Chorleiterin schier an den Rand der Verzweiflung brachte, denn Katie hinkte mit ihren holprigen Achteln auf der Blockflöte dem forschen Gesang der Hirten hinterher.

Doch schließlich nahte der vierte Adventsonntag, und Aenne glaubte, nun den Auftritt mit ihrer Truppe wagen zu können. Aus einer sentimentalen Stimmung heraus hatte sie Tage zuvor ein Lebkuchenhaus gebacken, das sie zum Sammeln der Spenden benutzen wollte, und dafür eigens einen Schlitz ins Dach reingeschnitten. Die Mädchen halfen mit emsiger Begeisterung, dem etwas schief geratenen Häuschen den letzten Schliff zu geben, und verziert mit duftendem Spekulatius, Zimtsternen und reichlich Puderzuckerguss rechtfertigte es schließlich auch das Chaos in der verklebten Küche.

Gerüstet mit Hirtenstäben und großen Plastiktüten, in denen die Gewänder verstaut waren, machten sich die Mädchen singend auf den Weg zur U-Bahn. Im Fußgängertunnel ertönte das "Kommet, ihr Hirten" bemerkenswert sicher und überzeugend - ohne Blockflöte.

Auf dem Bahnsteig fiel Leonie der Länge nach hin, und ihr Hirtenstab verkürzte sich um zwanzig Zentimeter. Das ergab die ersten Tränen und drückte auf die Stimmung. Dann stolperte Miri beim Einsteigen über ihre Tüte mit den selbstgebastelten Engel-Stirnreifen aus Goldpapier. Sie weinte wegen des angeschlagenen Knies, und prompt brach nun auch Katie in Tränen aus - angesichts des lädierten Haarschmucks.

Aenne fühlte sich elend. So viel Kinderkummer auf einmal! Ob sie es schaffen würde, ihre Künstler wieder zu motivieren? Gottlob hatte sie in weiser Voraussicht einen Pritt-Stift eingesteckt, und so konnte sie wenigstens den Engelsschmuck wieder in den ursprünglichen Zustand kleben.

In der Klinik angekommen waren Kummer und Tränen bald vergessen. In hektischer Aufregung breitete sich der Inhalt der Plastiktüten aus, und Aenne hatte Mühe, zwischen Hirtenhemden, Filzhüten, Schaffellen und Sternenkleidchen den Überblick zu behalten. Überall musste sie noch letzte Hand anlegen, mittels Sicherheitsnadeln die Engelsflügel befestigen und zu lange Ärmel umkrempeln. In dem Gewusel kam kurzzeitig Katies Blockflöte abhanden - aber irgendwie und irgendwann schafften sie es, für ihren großen Auftritt parat zu sein.

Die Premiere der Hirten und Engel fand in der Chirurgischen statt. Eigentlich klappte es ganz gut, abgesehen davon, dass Clara - ungewohnt gehemmt - den Text vergaß, Katie ihrer Blockflöte nur zögerliche Töne entlockte und die anderen nun auch unsicher wurden und vor Lampenfieber ihre Stimme verloren. So war es allein Aenne, die mit ihrer Gitarre bei der Stange blieb. Das zweite und dritte Lied klangen dann schon besser, aber vorsichtshalber ließen sie "Kommet, ihr Hirten" erst mal weg.

Doch der Chor entwickelte sich zunehmend und klang bei den "Inneren Männern" schon ganz passabel. Bei den "Inneren Frauen" schwebte bereits der erste Hauch Weihnachtsstimmung durch den Raum. Anschließend, auf der Wöchnerinnen-Station, wagten sich die Musikerinnen endlich an das Hirtenlied. Die glücklichen jungen Mütter waren nicht allzu kritisch und füllten das Knusperhäuschen mit kleinen Scheinen. In der HNO-Abteilung schließlich präsentierte sich der Chor routiniert und strotzend vor Selbstbewusstsein.

Alle freuten sich nun auf die Kinderstation, aber keiner war darauf vorbereitet, dass sich plötzlich die Stimmung änderte. Lag es an den kleinen bettlägerigen Patienten, die mit erwartungsfrohen Gesichtern aus ihren Kissen schauten? Den Hirten und Engeln wurde ungewohnt feierlich zumute, und ihre Stimmen zitterten unmerklich beim "Alle Jahre wieder".

Nach dem ersten Lied war der Bann gebrochen, denn die Zuhörer klatschten frenetisch Beifall. Nur der fünfjährige Blondschopf mit dem Gipsbein rührte sich nicht. Clara warf dem Jungen teils mitleidige, teils entrüstete Blicke zu. Die Entrüstung hatte, als ihr Auftritt zu Ende ging, eindeutig die Oberhand gewonnen.

Clara stürmte empört zu dem Blondschopf hin. Die Fellweste rutschte ihr über die Schulter und der Filzhut saß schief. Mit dem Hirtenstab energisch auf den Boden klopfend verlieh Clara ihren Worten Nachdruck: "Deine Hände sind aber nicht eingegipst, oder? Warum klatschst du nicht? Gefallen dir unsre Lieder nicht?"

Die anwesende Krankenschwester verfolgte mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck die Szene. Die anderen kleinen Patienten hielten den Atem an und starrten unverwandt auf ihren stummen Zimmergenossen. Ungerührt hielt dieser Claras erzürntem Blick stand, gab ihr aber keine Antwort.

Aenne rettete die Situation, indem sie den Kindern das Knusperhäuschen zeigte.

"Seht mal, wie viel Geld schon drin ist. Dafür können tolle Spielsachen angeschafft werden."

Jeder wollte das schöne Lebkuchenhaus genauer begutachten, und so ging Aenne von Bett zu Bett. Als sie bei dem merkwürdigen Jungen mit dem Gipsbein stehen blieb, leuchteten dessen Augen kurz auf, und ein zaghaftes Lächeln huschte über sein Gesicht.

Draußen auf dem Flur legte die Krankenschwester Clara eine Hand auf die Schulter. "Kind, du musst dich nicht ärgern. Weißt du, Lucas hat Schlimmes erlebt, und er wird noch lange nicht gesund sein. Nicht nur wegen des Beines. Bei einem Autounfall hat er seinen Bruder verloren. Er hat alles hautnah miterlebt, auch wie seine verletzten Eltern aus dem Auto geborgen werden mussten. Seitdem hat Lucas kein Wort mehr gesprochen. Wir müssen viel Geduld mit ihm haben."

Clara stieg die Schamröte ins Gesicht. Mit bebender Stimme stotterte sie: "Das ... es tut mir furchtbar leid ... ich ... ich konnte ja nicht wissen ..." Ihre Augen wurden feucht, und sie sagte nichts mehr.

Das blieb die ganze Zeit so, während sie von Zimmer zu Zimmer gingen. Zuerst befürchtete Aenne sogar, ihre Tochter würde nicht einmal mehr mitsingen, aber Clara fing sich wieder.

Die Kinder, welche imstande waren aufzustehen, hielt es natürlich nicht in ihren Betten. Der Pulk kleiner Patienten in Schlafanzügen und Jogginghosen, der vor der jeweiligen Tür auf den Chor wartete, wurde stetig größer.

Am Ende des Stockwerks, wo das geplante Spielzimmer eingerichtet werden würde, versammelten sich alle zum glanzvollen Finale. Hirten, Engel und die ganze Kinder-Patientenschar zauberten aus voller Kehle Weihnachtsstimmung in den Klinikalltag. Krankenschwestern, Pfleger und Ärzte applaudierten begeistert, und der eine oder andere hatte verdächtig glänzende Augen.

Verflixt, das kann ja ganz schön ansteckend sein, dachte Aenne, denn auch ihr blieben die Worte im Hals stecken, als sie das Knusperhäuschen dem Direktor des Krankenhauses feierlich überreichte. Eigentlich hatte ja Clara dies tun wollen, sich aber ganz plötzlich ganz entschieden geweigert. Auch die anderen Mädchen waren nicht dazu zu bewegen. Wenn schon die mutige Clara einen Rückzieher machte, wie sollte es da eine von ihnen wagen können? Jedenfalls blieb der Chorleiterin nichts anderes übrig, als selbst die Spende zu übergeben.

Während Aenne sich noch darüber wunderte, dass die Sache mit Lucas ihre Tochter dermaßen aus der Fassung hatte bringen können, drängte Clara plötzlich nach vorn zum Direktor und fragte in entschiedenem Tonfall: "Können wir das Geld jetzt gleich nachzählen? Damit wir wissen, wie hoch die Spende ist?"

"Aber Clara, das ist doch nicht so wichtig", widersprach ihre Mutter, "wir werden es schon noch erfahren. Der Direktor hat jetzt keine Zeit." Es war ihr peinlich, dass Clara soviel Wind darum machte.

Aber die Mädchen pflichteten Clara bei. "Ja, wir wollen es wissen. Wir wollen es wissen", riefen sie durcheinander und hüpften aufgeregt herum.

Also wurde gezählt und das Ergebnis löste allgemein Stolz und Freude aus. Das leere Knusperhäuschen erhielt sodann einen Ehrenplatz, gut sichtbar hinter dem großen Glasfenster auf dem Schreibtisch der Stationsschwester.

Die Hirten und Engel verabschiedeten sich mit dem hochheiligen Versprechen, nächstes Jahr wiederzukommen. Mit wehendem Sternenkleid rauschten die Engel durch die Gänge zum Fahrstuhl und die Hirten stabklopfend hinterher.

Aenne öffnete gerade die Tür des Zimmers, in dem sie sich umziehen wollten, als Katie ausrief: "Mami, Clara fehlt!"

"Ist sie vielleicht auf der Toilette?"

"War sie überhaupt mit uns im Aufzug?", überlegte Leonie.

"Nein ... ich glaube, sie ist gar nicht mit uns runtergefahren", meinte Sandra.

Alle schauten ratlos. Keiner wusste, wo Clara abgeblieben war.

Also trabten sie im Gänsemarsch zurück zu den Aufzügen und warteten darauf, dass beim nächsten Türöffnen Clara vor ihnen stehen würde. Nichts.

"Irgendwo muss sie ja sein! Fahren wir eben nochmal rauf!", bestimmte Aenne und schob die ganze Bande in den Fahrgastraum.

Unglaublich - Clara schien wie vom Erdboden verschluckt. Sie suchten sämtliche Toiletten ab, fragten Schwestern, Patienten und Krankenhausbesucher, die ihnen auf dem Flur begegneten. So ein auffällig gekleideter Hirte konnte doch unmöglich spurlos verschwinden! Und auch nicht unerkannt die Klinik verlassen! Sie telefonierten mit der Pforte und mit anderen Stationen. Nichts. Niemand hatte einen einsamen Hirten gesehen.

Aenne wurde unruhig. Katie hielt krampfhaft ihre Hand fest, um nicht auch noch die Mutter zu verlieren, wenn diese im Laufschritt durch die Gänge eilte. Zum x-ten Mal ein Blick auf den Flur der Kinderstation - dort war Clara doch zuletzt gewesen!

"Mami, das Knusperhäuschen! Es ist nicht mehr da!", rief Katie aufgeregt.

Tatsächlich! Die Schwester zuckte ratlos mit den Schultern.

Zuerst beschlich Aenne nur ein vages Gefühl, dann eine ganz bestimmte Ahnung. Sie kannte doch ihre Tochter!

Warum hatte Clara so hartnäckig darauf bestanden, dass die Spendengelder gezählt wurden? Wo sie Minuten zuvor noch so still und bedrückt gewesen war? Wie war es zu dem plötzlichen Stimmungsumschwung gekommen?

Natürlich! Clara interessierte sich gar nicht für die Höhe des Spendenbetrages, sondern wollte, dass das Häuschen geleert wurde! Weil sie mit diesem etwas ganz Bestimmtes vorhatte!

Aenne nahm rechts und links einen Engel an die Hand, rief den beiden Hirten zu: "Kommt mit!", und ging schnurstracks auf Lucas' Zimmer zu.

Im ersten Augenblick konnten sie weder Clara noch Lucas entdecken, denn sein Bett war von Kindern umringt. Als sie näher kamen, sahen sie, wie Lucas beinahe andächtig das Knusperhäuschen in den Händen hielt und mit seligem Gesichtsausdruck Clara anschaute, während seine Zimmergenossen aufgeregt auf ihn einredeten.

Clara drehte sich zu ihrer Mutter um und stammelte mit tränenfeuchten Augen: "Mami, du bist doch nicht böse, dass ich Lucas unser Knusperhäuschen geschenkt habe? Ich hab mich so geschämt, weil ich ihn zu Unrecht angeschnauzt habe. Das wollte ich wieder gutmachen. Lucas hat sich so sehr gefreut, dass er ... Mami, stell dir vor, er hat sich bei mir bedankt! Lucas redet wieder!"

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