Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht, sangen die süßen Stimmen der Waisen aus dem Kinderheim Gonzales im Radio und unter der Türe hervor breiteten sich die klebrigen Zungen des Blutes auf den Fliesen aus. Glichen hungrigen Weichtieren, die gefräßig an den Rändern des verschlissenen Teppichs nagten.
Maria Sartego saß vor dem nackten Christbaum, dem seit einer Stunde Kerzen Kugeln und Engel fehlten, verkauft von ihrem Sohn Francisco, den sie immer liebevoll Paco genannt hatte.
Sie saß mit versteinerter Miene, tränenlos. Ihr Blick ging durch den Körper hindurch, der an der Türe langsam hinabgerutscht und vor dem Türspalt liegen geblieben war. Der Blick Marias drang durch den zum Skelett abgemagerten Körper ihres Sohnes, suchte nach seiner Seele, sah nicht, wie das Blut unter der Türe hinausdrängte um kund zu tun, was in der Heiligen Nacht geschehen war.
Sie betete. Maria betete lautlos und ohne sich dessen bewusst zu sein.
Heiliger Gott, wenn es dich gibt, ich konnte nicht anders. Heiliger Gott, ich glaube nicht, dass es dich gibt. Doch wenn es dich gibt, vergib du mir, was ich mir selbst nie vergeben kann. Oh mein Gott! Ich konnte nicht anders. Ich musste Schluss machen. Schluss mit dem Wahnsinn, der in seinen Augen flackerte, der ihn nicht ruhen ließ, der ihn schreien ließ.
Es hätte an jedem Tag geschehen können, Herr, doch es ist heute geschehen. Am Tag der Geburt deines Sohnes.
Schaff diesen grässlichen Baum aus dem Zimmer, hatte er verlangt. Er tut meinen Augen weh.
Er hatte geschrien, hatte mit den Füßen nach dem unschuldigen Baum getreten, der struppig und leergeräumt in der Ecke des bescheidenen Zimmers stand. Nur ein Stern an der Spitze zeugte davon, dass es ein Weihnachtsbaum sein sollte.
Aber es ist doch Weihnachten!
Ihr Aufschrei war nicht in das Ohr ihres Sohnes gedrungen, erreichte nicht die von Halluzinationen gebeutelte Hungergestalt. Sein Geist war unterwegs. Unter Qualen verlangte er nach mehr, wich den Schmerzen des Entzugs aus. Doch wie sollte Maria, seine Mutter, diese Gier verstehen können?
Warum wollte er nicht einmal mehr einen Weihnachtsbaum, warum wollte er nicht mehr Weihnachten feiern? Er hatte es doch so geliebt, hatte früher voller Eifer den Baum geschmückt, hatte sich über jedes Stück des Christbaumschmuckes gefreut und gesagt: Dass uns wenigstens Weihnachten geblieben ist.
Ich weiß, er hat unter unserer Armut gelitten. Ich weiß, dass er oft Hunger gehabt hat und auf sein Stück Brot verzichtete, damit ich wenigstens einmal in der Woche satt essen konnte. Ich habe gespart, Herr. Habe gespart, um den Tag deiner Geburt feiern zu können, wie es sich gebührt. Warum aber hat er mir das Essen vor die Füße geworfen, mir die Suppe ins Gesicht geschüttet?
Herr, hilf! Ich verstehe das alles nicht. Ich verstehe es nicht und ich weiß doch, dass es so kommen musste.
Die verhärmte Frau in dem abgetragenen Feiertagskleid barg ihr Gesicht in ihren Händen. Abgearbeitet und rissig die Haut.
Herr, verzeih mir. Ich habe meinen Sohn getötet. Am Tag der Geburt deines Sohnes. Ich habe ihm das Brotmesser mit dem ich schon lange kein Brot mehr geschnitten habe, ins Herz gestoßen. Herr, ich habe mein Kind getötet, mein Ein und Alles. Ich habe meinen Sohn erstochen, um ihn daran zu hindern, sich selbst zugrunde zu richten. Ich wollte ihn bewahren vor noch mehr Leid. Ich wollte ihn erlösen. Erlösen von seinem neuen, unseligen Gott.
Paco!
Paco, auch so habe ich meinen Sohn genannt, meinen Francisco, dachte sie bitter. Mein Sohn mit dem Namen einer tödlichen Droge.
Herr, ich klage dich an! Du hast es zugelassen, dass mein Sohn dieses Rauschgift in die Hände bekam und dass er zu mir sagte:
Ich habe keinen Hunger. Iss du mein Brot.
Immer öfter hat er von dem Gift gekauft und um es kaufen zu können, hat er alles verkauft, auch den Christbaumschmuck. Und weil er Paco geraucht hat, hatte er keinen Durst mehr und keinen Hunger. Aber ich konnte sein Brot nicht essen, während ich zusehen musste, wie er verhungerte, verdurstete, zugrunde ging an seiner Gier nach einem Augenblick voll schöner Träume.
Mein Gott, wenn es dich gibt, wie konntest du es zulassen, dass Francisco zu einem lebenden Leichnam geworden ist. Diese verfluchte Droge, die fast nichts kostet, die alle seine Freunde kaufen und immer wieder kaufen müssen, um für ein paar Minuten lang zu vergessen, dass sie arm sind, dass sie keine Arbeit haben? Wie kannst du das geschehen lassen? Eine knappe Minute trügerisches Glück und nach einer Viertelstunde schreit der Körper nach dem nächsten Kick! Siehst du ihren verschwommenen Blick? Siehst du wie sie wanken vor Müdigkeit, aber nicht mehr schlafen können? Siehst du es!!!?
Sie wurde laut in ihrem Gebet.
Tu etwas Gott - wenn du ein Gott bist!
Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe das Brotmesser aus der Küche geholt, mit dem schon lange kein Brot mehr geschnitten wurde. Ich habe ihm das Brotmesser ins Herz gestoßen, als er mir das Essen vor die Füße geworfen hat. Ich habe seiner Qual ein Ende bereitet, als er mit glasigem Blick seine Verzweiflung herausgeschrien hat. Ich habe zugestochen, als er schrie: Ich hasse Weihnachten! Als er schrie: Befreie mich von der Geburt eines Gottes, den es nicht gibt!
*
Die Nacht war still geworden. Das Schreien des Süchtigen und das Stöhnen der Mörderin waren verstummt. Die Waisenkinder des Heimes Gonzales waren fertig mit ihren Liedern und das Blut hatte aufgehört zu fließen. Es bildete an den Rändern dunkle Krusten und es roch süßlich. Es roch ein wenig so wie die alte Familienbibel roch, die Maria schon lange nicht mehr aufgeschlagen hatte, die feucht und stockfleckig darauf wartete, gelesen zu werden. Es roch wie das Brautkleid der Großmutter, das sie in ein Tuch eingeschlagen in einem Schuhkarton aufbewahrte, bis ihr Francisco eine Braut ins Haus bringen würde. Alte Gerüche. Blutgeruch. Geruch nach Tod und Vergänglichkeit.
Von der nahen Kirche riefen die Glocken zur Christmette.
Schwerfällig erhob sich die Frau aus dem Sessel, in den sie nach der Tat gesunken war. Sie legte das Brotmesser auf den Tisch neben dem leeren Christbaum. An der Messerschneide zähe Bäche vom Blut ihres Sohnes. Mit zitternden Händen strich sie den Rock glatt. Dann stieg sie vorsichtig über den Leichnam ihres Sohnes und kleidete sich an für den Gang zur Kirche.
Sie ging zu dem Gott, an dem sie verzweifelt war. Sie sank in die Knie vor der Krippe, der Geburtsstätte seines Sohnes. Ihm wollte sie klagen vom neuen Gott ihres Sohnes, dem billigen Gott, den die Drogenbarone großzügig verteilten und der die Menschen, die ihm huldigten, verhungern ließ. Sie wollte dem Kind in der Krippe sagen, dass ihr Sohn nur noch ein Gespenst geworden war, dem sich die Haut in Blasen ablöste, ein Gespenst, verrückt vor Hunger nach Erlösung.
Doch in der Krippe lag kein Kind. Der Sohn Gottes war nicht da, war vielleicht nie geboren. Noch eine Maria, die keinen Sohn hatte.
Besser, nie einen Sohn geboren zu haben, als ihn später zu verlieren, dachte Maria Sartego.
Oder hast du deinen neugeborenen Sohn getötet, bevor ihn die Welt töten wird?
Wusstest du, was ihn im Leben erwartet?
Du warst klüger als ich. Sei gepriesen, sohnlose Mutter Maria.
Umflackert vom Licht der Kerzen, umhüllt von Gesang und den Worten des Priesters, der von der Frohen Botschaft sprach, kniete Maria Sartego vor der Krippe, in der kein Kind lag. Sie hörte die uralten Worte über Maria, die ihren Sohn geboren, in Windeln gewickelt und in eine Krippe gelegt hatte. Und über die Hirten mit ihren Schafen, die ihn suchten, als sie den Stern gesehen. Und sie dachte: Wer wird nach meinem Sohn suchen?
Als die Gläubigen mit dem Segen des Priesters nachhause gegangen und Maria allein in der Kirche kniete, da weinte sie endlich ihre bitteren Tränen. Sie wusste nicht mehr, ob sie über das aus der Krippe verschwundene, kunstvoll geschnitzte Kind weinte, oder um das endlich gestillte Leid ihres Sohnes.
Taumelnd verließ Maria die Kirche und ging durch die stille Nacht nachhause. Dorthin, wo ihr Sohn in seinem Blut lag.
Und sie sah ein Licht über dem Giebel ihres windschiefen Häuschens am Rande der Großstadt und sie wusste nicht mehr, dass es nicht der Stern war, der sie zur Wiege ihres Sohnes geleitete. Ihr Geist hatte sich verwirrt.
Drei Männer standen vor der Türe und sie sah nicht, dass der Stern nur der Schein einer starken Taschenlampe war und sie erkannte nicht, dass es nicht die Heiligen Drei Könige waren, die ihrem Sohn huldigen wollten. Sie war nicht mehr die Maria Sartego, die sie vor dem Tod ihres Sohnes gewesen. Sie war hineingeschlüpft in eine tröstliche Rolle, um das Leben ertragen zu können.
Freundlich begrüßte sie die drei Könige, die nichts anderes waren, als Polizisten.
Seid willkommen, hohe Herren. Ihr bringt Geschenke für meinen Sohn?
Sie lachten über Marias Worte und der eine sagte: Maria, wir bringen keine Geschenke, aber wir suchen deinen Sohn.
Ich weiß. So steht es geschrieben.
Der Wortführer der drei wurde zornig.
Und wir suchen Paco, das Gift aus Dreck vom Koka-Kochen, aus Putzmitteln und gemahlenen Glasscherben.
Und wir suchen Jesus, den dein Sohn aus der Krippe gestohlen hat.
Dann schrie er: Mach endlich die Türe auf du alte Vettel! Wir müssen zu Francisco. Wir wollen sein Paco und wir wollen wissen, wo das gestohlene Jesuskind geblieben ist.
Für einen Augenblick wurde der Geist von Maria wieder klar, das Auge scharf. Sie erkannte, dass die drei Männer nicht die drei Weisen aus dem Morgenland waren, sondern dass sie die Uniform der Polizei trugen. Nicht Schafe oder Kamele hatten sie bei sich, sondern schwarze Hunde, denen der Geifer von den Lefzen hing und die an den Leinen zerrten. Bluthunde. Die Hatz auf ihren Sohn und den hölzernen Sohn der hölzernen Maria hatte begonnen.
Wo sind sie versteckt?
Da machte Maria Sartego den Mund auf und begann zu schreien. Und sie schrie noch, als man sie schon abtransportiert hatte. Sie schrie, bis ihr der Arzt eine Spritze gab und dann war sie ruhig und sprach nie wieder ein Wort. Die Stille der geistigen Umnachtung senkte sich auf sie herab und erlöste sie von ihren Qualen.
Stille Nacht, heilige Nacht.
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