Unser Buchtipp Weihnachtsgeschichten

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Eingereicht am
24. März 2007

Das Wunder von Weihnachten

© Anke Abbing

Es war wieder einmal Montag. Hektisch schoben sich Dutzende von Menschen durch die breiten Straßen. Jenny war, wie viele, auf dem Weg zur Arbeit. Mit hochgeschlagenem Kragen, die Hände tief in den Taschen vergraben, stapfte sie durch den Schnee. Die Luft klirrte vor Kälte und ein eisiger Wind trieb ihr Tränen in die Augen. Aus den Geschäften drang leise Weihnachtsmusik. Jenny war überhaupt nicht nach Weihnachten zumute und dieses ewige Gehetze nach Geschenken war auch nichts für sie.

Sie betrat das Kaufhaus, in dem sie seit fünf Jahren arbeitete. Es war ein ganz besonderes Kaufhaus, denn hier wurde ausschließlich Spielzeug verkauft. Vor allem bei Kindern war es sehr beliebt. Im dritten Stock befand sich nämlich eine echte Eisenbahn, mit der die Kinder im ganzen Kaufhaus herumfahren konnten. Es gab sogar verschiedene Haltestationen, wie zum Beispiel die Barbiepuppen-Station oder die Teddybären-Station. Doch das Allergrößte war der Weihnachtsmann. Jeden Tag während der Adventszeit stand er am sogenannten Hauptbahnhof und verteilte an die Kinder kleine Geschenke.

Seit einigen Tagen kam regelmäßig ein kleiner Junge her. Er stand vor dem großen Schaufenster und starrte auf die Spielzeugeisenbahn, die dort gemütlich ihre Runden drehte. Jenny hatte ihn schon oft beobachtet. Er stand einfach nur da, kam aber niemals herein. Sie tippte Preise in die Kasse ein und warf dabei gelegentlich einen Blick zum Fenster. Gerade kam er. Er mochte vielleicht acht oder neun Jahre alt sein, trug einen dicken, bunten Wollschal und eine Pudelmütze, die er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen bestaunte er die schöne Eisenbahn. Wieso kam er nicht herein?, überlegte Jenny. Traut er sich nicht? Ihre Blicke trafen sich. Jenny winkte ihm aufmunternd zu. Nur sehr zögerlich löste er den Blick, von der Bahn, und betrat noch ein wenig schüchtern das Kaufhaus.

"Hallo", rief Jenny. "Komm herein. Es ist doch viel zu kalt draußen. Gefällt dir die Eisenbahn?"

"Ja."

"Wie heißt du denn?" Fragend sah Jenny ihn an.

"Tom", antwortete er.

"Ich heiße Jenny. Warst du schon einmal oben, im dritten Stock?" Vertrauensvoll senkte sie die Stimme, während sie sich über die Kasse beugte.

"Du meinst wo die Eisenbahn fährt?", antwortete er.

Jenny nickte.

"Fräulein", dröhnte ein schergewichtiger Kerl aus der Warteschlange. "Wir wären gern noch vor Weihnachten zu Hause."

"Frau, bitte", antwortete Jenny. "So viel Zeit muss sein."

Sie zwinkerte Tom lustig zu. "In zehn Minuten habe ich Mittagspause. Hast du Lust?"

Tom nickte und seine Wangen glühten vor Freude.

Über eine große Rolltreppe fuhren sie hinauf in den dritten Stock. "Wow", rief Tom überwältigt aus. "Das ist ja toll hier." Er konnte es gar nicht fassen. So viele Spielsachen. Dort drüben war ein Stand mit Pokemon-Figuren und weiter hinten standen jede Menge Monster Trucks. Tom war ganz aus dem Häuschen.

Sie schlenderten von einer Haltestation zur anderen. Es gab ja so viel zu sehen.

Plötzlich gab es ein großes Getöse. Ein lautes Pfeifen und Schnaufen. Der Zug kommt, dachte Tom. Aufgeregt rannten sie zur Teddybären-Station. Vorsicht an der Bahnsteigkante, dröhnte es aus den Lautsprechern. Der Zug läuft ein.

Es war wie auf einem richtigen Bahnhof und da kam er auch schon. Angeführt von einer schwarzen, glänzenden Dampflok, die mit einem Ächzen zum Stehen kam.

"Na, los", forderte Jenny ihn auf. "Du willst doch fahren, oder?"

Tom war blass geworden. "Würdest du mitfahren?" Flehend sah er sie an.

"Ich weiß nicht so recht", begann sie unsicher. Es war ihr peinlich in einer Kindereisenbahn durch ein Kaufhaus zu zuckeln. Was würden die Kollegen sagen? Doch sein Blick ließ sie erweichen. Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass auch andere Erwachsene mitfuhren, um auf ihre Kinder aufzupassen, also stieg sie ein.

Soeben fuhren sie an dem riesigen Weihnachtsbaum vorüber. Er war mit roten Kugeln und goldenen Schleifen verziert und Duzende kleiner Lämpchen tauchten ihn in ein geheimnisvolles Licht. Überall glitzerte und funkelte es. Jenny war inzwischen genauso aufgeregt wie Tom. Auf einmal sah alles so anders aus. Als Kind hatte sie Weihnachten über alles geliebt. Ihr wurde warm ums Herz. Wie lange hatte sie dieses Gefühl nicht mehr gespürt. Viel zu lange, dachte sie und seufzte.

Ein Schrei riss sie jäh aus ihren Gedanken. "Da, der Weihnachtsmann!" Tom war aufgesprungen und deutete auf eine große Gestalt, in einem prächtigen, roten Kostüm. Sein weißer Bart glänzte im Schein der Neonröhren, während sich die Kinder um ihn drängten.

"Tom!" Erschrocken zerrte Jenny an seinem Arm. "Bitte, setz dich hin."

"Aber, aber da ist der Weihnachtsmann", schluchzte er. "Ich muss unbedingt zu ihm." Mit Tränen in den Augen sah er sie an und Jenny spürte, dass es ihm ernst war.

"Okay."

Zu ihrer Erleichterung, setzte Tom sich wieder.

Am Hauptbahnhof stiegen sie aus. Jenny hielt Tom an der Hand. Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg durch die Menge. Vor dem Weihnachtsmann hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet, denn er hatte für jedes Kind ein kleines Geschenk dabei. Schließlich war Tom an der Reihe. "HO,HO,HO, junger Mann", begann der Weihnachtsmann, mit tiefer Stimme. "Was wünschdt du dir zu Weihnachten?"

Schüchtern trat Tom vor. "Also, ich wünsche mir eine Eisenbahn und eine neue Mutter."

"Eine neue Mutter?" Erstaunt sah ihn der Weihnachtsmann an.

"Meine Mutter ist gestorben und ich wünsche mir, dass mein Dad nicht mehr so alleine ist", sprach Tom

"Also, eine Mutter kann ich dir nicht schenken, mein Sohn und eine Eisenbahn auch nicht. Aber ich habe hier ein paar sehr hübsche Häuser, für deine Eisenbahn. Ist das in Ordnung?" Ohne eine Antwort abzuwarten drückte ihm der Weihnachtsmann ein Päckchen in die Hand. "Übrigens", fuhr er fort. "Ich habe gute Kontakte zum Himmel. Ich werde sehen, was ich tun kann."

"Danke", flüsterte Tom. Er nahm das Päckchen und ging zu Jenny zurück.

"Alles klar?" Jenny drückte ihn sanft an sich. Armer Kerl, dachte sie mitleidig. Was musste er durchgemacht haben.

Sie schaute auf ihre Armbanduhr. "Oh, Gott", entfuhr es ihr. "Ich muss wieder an die Arbeit." Entschuldigend gab sie ihm die Hand. "Entschuldige, Tom. Ich muss leider wieder arbeiten. Hat es dir wenigstens ein bisschen gefallen?"

"Ja", erwiderte er. "Du bist nett. Hier", begann er und gab ihr das Päckchen. "Ich kriege sowieso keine Eisenbahn. Vielleicht schenkst du es deinem Sohn."

Er gab ihr das Päckchen und Jenny umarmte ihn liebevoll. "Danke", erwiderte sie. "Sag, mal. Habt ihr eigentlich Weihnachten schon etwas vor, dein Daddy und du?"

Tom schüttelte den Kopf.

"Ich möchte euch gerne zum Essen einladen. Hier ist meine Telefonnummer." Das war ja ein echtes Date. Tom grinste verschmitzt. Er riss ihr den Zettel aus der Hand und stürmte davon.

Heiligabend rückte währenddessen immer näher. Gegen dreizehn Uhr, Jenny rechnete gerade die Kasse ab, klopfte jemand an die Schaufensterscheibe. Ein gerötetes Gesicht, mit einer Pudelmütze auf dem Kopf, lachte sie an. Sie erkannte Tom, doch da war noch jemand bei ihm. Jenny sah zwei lustige Augen, ein verlegenes Lächeln und zwei Hände, die einen Zettel hielten. Gilt die Einladung noch? Jenny lächelte. Sie nickte und bedeutete ihnen, dass sie in fünf Minuten draußen sein würde.

Inzwischen hatte es wieder zu schneien begonnen. Tom trat von einem Fuß auf den anderen und auch sein Vater wurde langsam ungeduldig. "Wie findest du sie?", flüsterte Tom "Sie sieht sehr nett aus", bemerkte sein Vater.

"Hallo, Tom", begrüßte ihn Jenny. "Hi, Jenny." Tom lief ihr entgegen. "Das ist mein Dad", strahlte er. "Peter Watson", stellte der andere sich vor. "Nett, Sie kennen zu lernen, Mister Watson, ich bin Jenny Macintosh." - "Hallo, und vielen Dank, für die Einladung." - "Schon gut", winkte sie ab. "Ich wohne ungefähr zwanzig Minuten von hier. Gehen wir?"

Jenny schloss die Haustüre auf. Orangenduft strömte ihnen entgegen. Sie betraten das gemütliche Wohnzimmer. Gekonnt entzündete Jenny ein Feuer im Kamin und aus dem Dunkel tauchte ein festlich geschmückter Weihnachtsbaum auf. Währen Jenny in den Flur ging, um den Mantel abzustreifen, rief sie: "Unter dem Weihnachtsbaum liegt etwas für dich, Tom."

Er glaubte zu träumen. Dort stand eine funkelnagelneue Eisenbahn. "Hat der Weihnachtsmann für dich abgegeben", meinte sie schmunzelnd und zu Peter: " Machen Sie es sich bequem. Ich werde inzwischen das Essen vorbereiten." Mit diesen Worten verschwand sie in der Küche.

Peter Watson nahm auf dem Kuschelsofa vor dem Kamin Platz und beobachtete seinen Sohn beim Spielen. Sanft drang dass Klappern der Töpfe und Pfannen zu ihnen herüber. Tom wandte sich um. "Sie ist nett, oder?" - "Ja, das ist sie", gab Peter zu und Tom sah etwas, was er schon lange nicht mehr gesehen hatte. Dieses Leuchten, in den Augen seines Vaters, hatte er vor vielen Jahren zum letzten Mal gesehen, als Toms Mutter noch gelebt hatte, und er wusste nun, dass sein Plan funktioniert hatte.

"Ist was, mein Sohn?" Peter sah ihn prüfend an.

"Nein, was soll sein?"

Tom setzte seinen unschuldigsten Blick auf und wandte sich wieder seiner Eisenbahn zu. Eine merkwürdige Ahnung beschlich Peter. Sollte sein Sohn das etwa geplant haben? Konnte das möglich sein? So etwas konnte man doch nicht planen, und erst kein achtjähriger Junge, oder?

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